(Quelle) Die erstaunlich hohe Zahl an Erwachsenen, die um den Jahreswechsel herum wegen Klavierstunden angerufen haben, zeigt mit wieder, dass es mehr im Leben geben sollte als „nur“ materielle Sicherheit, ein Dach über dem Kopf und keinen Hunger. Ist man in der privilegierten Lage, dass all diese Bedürfnisse mehr als zufriedenstellend gestillt sind, wie das bei uns allen ja der Fall ist, macht sich der Hunger nach geistiger und seelischer Nahrung bemerkbar. Diese Gewissheit: es muss doch mehr geben im Leben als seinen Alltag in allen Facetten ordentlich zu leben. Es muss doch noch was Dauerhafteres dahinter geben, etwas, das über uns und unser kleines Leben hinausgeht.
Und bei allen Interessenten hatte ich das Gefühl, dass der Wunsch nach Klavierunterricht nicht nur dem Bedürfnis nach Ausgleich oder geistiger Anregung entspringt, sondern direkt eine Sehnsucht nach etwas Schönerem, Besserem ist. In manchen Fällen eine diffuse, aber dennoch starke Sehnsucht, in anderen Fällen die Sehnsucht, das, was man in früheren Klavierstunden schon erlebt hat, wieder aufzugreifen und darauf aufzubauen. Auf jeden Fall schien mir der Wunsch, wieder Klavier zu spielen, viel emotionaler gefärbt als das bei Kindern der Fall ist.
Und ich denke mir: man kommt irgendwann in der Lebensmitte an diesen Punkt, an dem man feststellt, dass das, wofür man früher gebrannt hat, verschüttet ist und aus Zeitmangel nicht mehr beachtet wird. Im Idealfall kann man sich während des Studiums voll und ganz in das werfen, was einem wichtig ist. In den zehn, fünfzehn Jahren, nachdem man diese Insel der Seligen verlassen hat, versucht man, sein Leben in den Griff zu bekommen. Wohnen, Rente, Steuern, Autoreparaturen und ähnlich Aufregendes halten einen auf Trab. Und irgendwann, wenn man einiges erreicht hat und eigentlich zufrieden sein könnte, merkt man: es kostet unglaublich viel Energie, für das alles aufzukommen, man ist erschöpft und fragt sich, ob das alles im Leben sein kann. Früher, da wollte man doch mal… Und man überlegt, warum man seine Sehnsüchte nicht besser gepflegt hat. Warum man manche so weit hinten im Unterbewusstsein abgelegt hat, dass man sich nicht mal mehr daran erinnert.
Passend dazu fand ich die obige Abbildung, die mich sofort angesprochen hat. Mir gefällt auch das englische „to attend“: sich um etwas kümmern, etwas pflegen – so, wie man regelmässig seinen Garten pflegen muss, weil er sonst überwuchert wird von Alltagsnichtigkeiten, unschönen Banalitäten, unerwünschten Auswüchsen, die einen das Schöne gar nicht mehr sehen lassen. Und macht man es nicht regelmässig, kommt irgendwann der Moment, in dem nur noch die Machete und ein ganz radikaler Entschluss hilft: jetzt oder nie!
Passend zum Jahresbeginn habe ich mir vorgenommen, dieses Jahr meinen Sehnsüchten Raum zu geben, den grossen und den kleinen, den erfüllbaren und denen, die Luftschlösser bleiben werden. Mein Neujahrsvorsatz letztes Jahr – weniger Bücher zu kaufen – war ganz praktisch und ganz leicht erklärbar. Dieser jetzt klingt eher esoterisch, und manchen Leuten würde ich ihn gar nicht mitteilen wollen. Aber irgendwie ist es ja mein Beruf, Sehnsüchte zu erzeugen oder anderen bei der Erfüllung ihrer Sehnsüchte zu helfen. Und ein bisschen Luftschloss bauen kann einem doch auch den Alltag versüssen, oder? Und helfen, wieder zu wissen, wer man eigentlich ist. Was man braucht, um in jeder Hinsicht ein erfülltes und buntes Leben zu leben. Wir haben nur das eine. Und wir haben die Wahl, ob es grau und korrekt abläuft, oder ob wir uns dann und wann erlauben, auch eine unerwartete und wunderschöne Wendung zuzulassen.