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Sehnsüchte

(Quelle) Die erstaunlich hohe Zahl an Erwachsenen, die um den Jahreswechsel herum wegen Klavierstunden angerufen haben, zeigt mit wieder, dass es mehr im Leben geben sollte als „nur“ materielle Sicherheit, ein Dach über dem Kopf und keinen Hunger. Ist man in der privilegierten Lage, dass all diese Bedürfnisse mehr als zufriedenstellend gestillt sind, wie das bei uns allen ja der Fall ist, macht sich der Hunger nach geistiger und seelischer Nahrung bemerkbar. Diese Gewissheit: es muss doch mehr geben im Leben als seinen Alltag in allen Facetten ordentlich zu leben. Es muss doch noch was Dauerhafteres dahinter geben, etwas, das über uns und unser kleines Leben hinausgeht.

Und bei allen Interessenten hatte ich das Gefühl, dass der Wunsch nach Klavierunterricht nicht nur dem Bedürfnis nach Ausgleich oder geistiger Anregung entspringt, sondern direkt eine Sehnsucht nach etwas Schönerem, Besserem ist. In manchen  Fällen eine diffuse, aber dennoch starke Sehnsucht, in anderen Fällen die Sehnsucht, das, was man in früheren Klavierstunden schon erlebt hat, wieder aufzugreifen und darauf aufzubauen. Auf jeden Fall schien mir der Wunsch, wieder Klavier zu spielen, viel emotionaler gefärbt als das bei Kindern der Fall ist.

Und ich denke mir: man kommt irgendwann in der Lebensmitte an diesen Punkt, an dem man feststellt, dass das, wofür man früher gebrannt hat, verschüttet ist und aus Zeitmangel nicht mehr beachtet wird. Im Idealfall kann man sich während des Studiums voll und ganz in das werfen, was einem wichtig ist. In den zehn, fünfzehn Jahren, nachdem man diese Insel der Seligen verlassen hat, versucht man, sein Leben in den Griff zu bekommen. Wohnen, Rente, Steuern, Autoreparaturen und ähnlich Aufregendes halten einen auf Trab. Und irgendwann, wenn man einiges erreicht hat und eigentlich zufrieden sein könnte, merkt man: es kostet unglaublich viel Energie, für das alles aufzukommen, man ist erschöpft und fragt sich, ob das alles im Leben sein kann. Früher, da wollte man doch mal… Und man überlegt, warum man seine Sehnsüchte nicht besser gepflegt hat. Warum man manche so weit hinten im Unterbewusstsein abgelegt hat, dass man sich nicht mal mehr daran erinnert.

Passend dazu fand ich die obige Abbildung, die mich sofort angesprochen hat. Mir gefällt auch das englische „to attend“: sich um etwas kümmern, etwas pflegen – so, wie man regelmässig seinen Garten pflegen muss, weil er sonst überwuchert wird von Alltagsnichtigkeiten, unschönen Banalitäten, unerwünschten Auswüchsen, die einen das Schöne gar nicht mehr sehen lassen. Und macht man es nicht regelmässig, kommt irgendwann der Moment, in dem nur noch die Machete und ein ganz radikaler Entschluss hilft: jetzt oder nie!

Passend zum Jahresbeginn habe ich mir vorgenommen, dieses Jahr meinen Sehnsüchten Raum zu geben, den grossen und den kleinen, den erfüllbaren und denen, die Luftschlösser bleiben werden. Mein Neujahrsvorsatz letztes Jahr – weniger Bücher zu kaufen – war ganz praktisch und ganz leicht erklärbar. Dieser jetzt klingt eher esoterisch, und manchen Leuten würde ich ihn gar nicht mitteilen wollen. Aber irgendwie ist es ja mein Beruf, Sehnsüchte zu erzeugen oder anderen bei der Erfüllung ihrer Sehnsüchte zu helfen. Und ein bisschen Luftschloss bauen kann einem doch auch den Alltag versüssen, oder? Und helfen, wieder zu wissen, wer man eigentlich ist. Was man braucht, um in jeder Hinsicht ein erfülltes und buntes Leben zu leben. Wir haben nur das eine. Und wir haben die Wahl, ob es grau und korrekt abläuft, oder ob wir uns dann und wann erlauben, auch eine unerwartete und wunderschöne Wendung zuzulassen.

Die guten Vorsätze…

Januar ist eine gute Zeit, um Bilanz zu ziehen, wie und ob man seine Neujahrsvorsätze einhalten konnte. Ich wollte (praktisch…) keine Bücher kaufen und mehr aus der Bibliothek ausleihen. Natürlich heisst das nicht, dass sich die Bücherschar nicht doch durch unerwartete Geschenke vermehrt hat, das ist schon auch erstaunlich, wie da die besten Vorsätze nichts bringen… Aber aktiv habe ich wirklich kaum dazu beigetragen. Zwei Bücher übers Unterrichten für die Sommerferien mussten sein, aber das zählt ja als Weiterbildung. Und ganz aktuell noch eins, das ich sicher auch immer wieder zur Hand nehmen werde. Aber ansonsten war ich wirklich so brav, dass ich mich zu Weihnachten mit zwei wunderschönen antiquarischen Dickens-Ausgaben belohnt habe – den gibt es erstaunlicherweise weder in der Schulbibliothek noch in Wasserburg.

Und hat mir was gefehlt? Nein. Natürlich gibt es den Impuls, wenn man vielleicht frei hat und durch eine schöne Buchhandlung stromert, das ein oder andere Buch mitzunehmen, aber es hat direkt gut getan, solche spontanen Wünsche zu hinterfragen. Dabei konnte ich feststellen: wahrscheinlich sind die meisten Käufe aus so einer Gelegenheitslaune geboren. Würde man noch mal heimgehen und eine Nacht drüber schlafen, würde man sicher bei vielen Dingen feststellen, dass sie gar nicht sein müssen.

Und hab ich weniger gelesen? Nein, beileibe nicht, fast im Gegenteil! Ich hab die Wasserburger Bücherei abgegrast, so weit das interessant war. Orhan Pamuk entdeckt, was ganz toll ist, Alice Munro, die ich sehr schätze,  kurz vor der Bekanntgabe des Nobelpreises gelesen und mir gedacht, ob sie ihn wohl je noch bekommt und ob sie es erlebt, ein paar Autoren zum ersten Mal gelesen und festgestellt, dass ich die nicht kaufen muss, mal wieder einen Donna Leon-Krimi gelesen… Aber leider ist für mich nach einem Jahr so ziemlich das Ende der Fahnenstange erreicht. Es gibt kaum Klassiker oder das, was mich interessiert. Für eine Provinzbibliothek ist sie sicher sehr schön gestaltet und ausgestattet, wenn man Kinderbücher oder Reiseführer sucht, aber zum wirklichen Lesen werde ich den Ausweis nicht verlängern. Dafür gibt’s dann eher die Fernleihe in der Schule, auch wenn es immer etwas lang dauert. Aber das steigert die Vorfreude…

An der Qualität des Lesens hat sich allerdings was geändert. Ich bilde mir ein, dass ich langsamer und bewusster lese.  Ich erinnere mich besser an die einzelnen Bände, und erinnere mich auch daran, auf welchem Weg ich an sie gekommen bin. Es ist also schon eine Art Abwendung vom schnellen Konsum, vom atemlosen und schnellen Durchlesen. Das war auch etwas, was ich mir als Vielleserin schon lange gewünscht habe: einen sinnvolleren und erfüllteren Umgang mit der Materie. Und weil keine Stapel an ungelesenen neugekauften lauerten, hatte ich auch die Musse, lang geliebte Schätze aus meinen Regalen in Ruhe wieder zur Hand zu nehmen – auch etwas, was ich mir immer wünsche…

Oh, eine kritische Situation gab es doch, und da muss ich zugeben, dass ich schwach wurde, weil die Gelegenheit so perfekt war: als ich an einem kühlen, klaren  Herbstmorgen im September in Rosenheim in die Alexander – Ausstellung gehen wollte, bog ich auf den Hauptplatz und fand mich nichtsahnend in einem gigantischen Bücherflohmarkt wieder. Ich hatte Zeit, war allein – es wäre dumm gewesen, da nicht zu stöbern, und es hat einfach unglaublich Spass gemacht. Drei wirklich schmale Bändchen kamen mit nach Hause – darunter eins über Igelüberwinterung (sehr nötig hier!). Das Igelbuch ist das perfekte Wohnzimmertischbuch. Fast jeder meiner Schüler hat es angeschaut, im Wechsel mit den Originalen auf der Terrasse. Das war eine lohnende Anschaffung, auf jeden Fall.

Und – dieses weniger Bücherkaufen war keine einmalige Aktion, kein Experiment, das nur auf ein Jahr beschränkt ist. Ich möchte so weiter machen, also wirklich bewusst unterscheiden, wem ich wertvollen Regalplatz gewähre und was vielleicht nur ein Impulskauf wäre. Geht doch!

Jetzt

In der Krypta des Salzburger Doms gibt es eine Installation von Christian Boltanski: ein Todesengel kreist als Schatten über die Wände, und gleichzeitig ertönt eine automatische Zeitansage in einer Dauerschleife. Man braucht etwas, um sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen, wird dann aber regelrecht eingelullt von der Schattenfigur, die sich langsam bewegt, und der monotonen Zeitansage. Wahrscheinlich wollte uns der Künstler in unmittelbarer Nähe der vielen jahrhundertealten Bischofsgräber eindringlich an unsere eigene Endlichkeit und die unaufhörlich verrinnende Lebenszeit erinnern. Aber seltsamerweise löste die ständige Zeitansage in mir genau das Gegenteil aus: “ beim nächsten Ton ist es – dreizehn Uhr zweiundfünzig und – 20 Sekunden.“ Ja, und das ist wunderbar. Es ist dreizehn Uhr zweiundfünzig, ich bin in Salzburg und habe noch einen ganzen freien Nachmittag vor mir. Diese paar Sekunden der Ansage dehnten sich für mich in einen gigantischen Jetzt-Augenblick. Ich spürte so stark wie selten, dass ich genau jetzt lebe, nur jetzt in diesem Augenblick, und dass das Vorher oder Danach überhaupt nicht interessiert.

Und seltsamerweise zog sich die Erinnerung an diese völlig simple, aber eindringliche Stimme noch durch die folgenden Tage. Ich konnte nicht umhin, mir Uhrzeiten, die ich irgendwo ablas oder durch Schul- oder Kirchenglocken hörte, so langsam und mechanisch vorzusagen und spürte immer, dass ich JETZT lebe. Kurz nach dem Dombesuch sassen wir in einem altmodischen Kaffeehaus, bei traumhafter Torte und Mélange, und als sich zur grossen Uhr im Café hochschaute, dachte ich: “ es ist vierzehn Uhr zwanzig, ich lebe und möchte nirgendwo anders sein.“ Und dieses wunderbare Bewusstsein hält seit Tagen an. Vielleicht war es das, was Boltanski wollte? Nicht, dass wir daran denken, dass unsere Zeit abläuft, sondern dass wir ganz intensiv spüren, dass wir in der Zeit und mit ihr leben? Und eben – überhaupt leben?

Halb voll oder halb leer?

„Als ich heute morgen Tee machte, tauchten zwei Rehe vor dem Küchenfenster auf und guckten mich mit riesigen Augen an. Und sie hatten so süsse Ohren!“

Mein Bruder entgegnet lakonisch:

„Bei uns im Kanal ist kürzlich eine tote Wildsau vorbeigetrieben.“

Er macht das natürlich extra, um zu verhindern, dass ich es mir in meiner heilen Welt zu gemütlich mache. Er würde schon auch den Eisvogel am Kanal registrieren.

Aber – es ist immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich verschiedene Menschen die Welt wahrnehmen. Wir können nur in einem begrenzten Umfang beeinflussen, was wir sehen, aber wir haben es in der Hand, wie wir es filtern und wie weit wir es an uns heranlassen. Ob es wichtig für uns ist, uns vielleicht sogar runterzieht, oder ob es uns einen kurzen Glücksmoment beschert, der uns für den Rest des Tages ein ausgeglichenerer und besserer Mensch sein lässt. Ich kann den wunderschönen überfahrenen Dachs, den ich gesehen habe, genau so wenig vergessen wie die märchenhaften Rehe vor dem Haus. Aber ich kann bewusst entscheiden, an was ich mich lieber erinnere. Die Welt ist manchmal schwer zu ertragen, so wie sie ist. Aber es gibt definitiv auch wunderschöne Stellen oder Erlebnisse, die einem oft ganz unerwartet unterkommen – kleine Ereignisse, die man fast übersehen könnte, die einem aber Hoffnung geben, dass alles doch nicht so düster ist. Oder dass man es schafft, in dem begrenzten Umfang, der einem zur Verfügung steht, diese Welt, diesen Alltag ein bisschen ins Angenehmere und Schönere zu wenden. Um wieder solche kleinen Schönheiten im Alltag sehen zu können.

Und manchmal hindert uns auch einfach die Tatsache, dass wir zu beschäftigt mit unserem eigenen Terminplan und Listen sind, daran, kurz innezuhalten und so einen besonderen Moment wirklich wahrzunehmen. Es sind ja oft nur Sekunden, die es braucht, um sein Quäntchen Glück für den Tag aufzunehmen. In der Zeit, in der man eine Multivitaminpille einwirft, könnte man genau so gut bewusst an seinem Zimttee riechen, oder ein paar Sekunden lang das Spiel der Sonne in den letzten Herbstblättern wahrnehmen – das stärkt die innere Abwehr für den Umgang mit der Welt. Und ich glaube, fast nachhaltiger, als irgendwelche Präparate, die uns über den Winter helfen sollen… Man ist stärker und weniger angreifbar, wenn das Nervenkostüm stabil ist. Und das sollte man bewusst pflegen und unterstützen.

Zum Beispiel durch kleine Fluchten und Besonderheiten im Alltag: ein neues Notizbuch für die Schüler, ein besonderer Stift, oder ganz extravagant: ein kleiner Wochenendausflug in eine schöne Stadt, der bewusst nur dem Vergnügen und der Rekreation dient. Oder eher ungeplant, indem man die vielen Schönheiten, die sich im Alltag ergeben, wahrnimmt und vielleicht sogar schriftlich festhält – für später, falls mal eine Durststrecke kommt. Manchmal schreibe ich stichpunktartig in meinen Kalender, wofür ich an dem Tag  dankbar war. Eine Art kleines Dankbarkeitstagebuch im Alltagskalender. Wenn ich jetzt im November zurückblättere, staune ich, was für ein wunderschönes, übervolles Leben ich doch habe. Auch wenn es einem im Alltag manchmal ganz anders vorkommt.

Genug

Dieses Jahr konnte ich mir einen langgehegten Traum erfüllen: am Freitag unterrichte ich nicht. Seit Jahren wünsche ich mir, einen Tag zu haben, an dem ich üben kann, ohne auf die Uhr zu schauen, in Ruhe Besorgungen erledigen kann, eventuell mit Freundinnen frühstücken kann – falls die genau so luxuriös wie ich leben – , im Garten was tun kann ohne Zeitlimit… Die Ideen sind da, und jetzt auch die freie Zeit.

Aber das seltsame ist: man scheint sich dafür rechtfertigen zu müssen, wenn man als gesunder und fitter Mensch bewusst die Arbeit zurückfahren will. Ich wurde mehrfach gefragt, warum ich nicht noch fünf neue Schüler annehme, dann würde ich doch auch mehr verdienen. Aber die Frage ist wirklich: Geld oder Leben. Muss es dauernd mehr sein? Und wie viel ist genug?

Das Spannende ist ja, dass das jeder für sich anders definiert und jeder andere Prioritäten setzt. Was für mich genug ist, ist für andere vielleicht nicht mal akzeptabel. Und ich finde es immer wieder wichtig, mir bewusst zu machen, dass es völlig andere Lebensstile gibt, sowohl in die eine als auch die andere Richtung. Und muss mir auch immer wieder vorsagen, dass der grösste Teil der Weltbevölkerung mit einem Bruchteil von dem lebt, was wir als Minimum erachten und sich dabei noch abmühen muss, an Trinkwasser zu kommen – eine Sache, die für uns so absolut selbstverständlich ist, dass wir nie drüber nachdenken.

Ich glaube nicht, dass es einen glücklich macht, viel oder noch mehr Geld zu haben. Oft ist es doch so, dass manche, die glauben, mit tausend Euro mehr im Monat wären alle ihre Probleme gelöst, diesen Betrag genau so schnell durchbringen wie den Rest. Oder der Wunsch, die Woche hätte einen Tag mehr, um alles unterzubringen – ich fürchte, oft würde das eben eine anstrengende Acht-Tage-Woche bedeuten und nicht den ersehnten Freiraum. Bei allem, was einem scheinbar begrenzt zur Verfügung steht, kommt es auf die bewusste Einteilung, die richtige Organisation oder, um gleich noch ein gruseliges Wort anzubringen, das richtige Management an. Nur eine Stunde zum Üben? Ein fester Betrag zum Verjubeln im Monat und drei Geburtstage, die anstehen? Alles nicht schlimm, wenn man vorher weiss, dass man planvoll vorgehen sollte.

Und zu der Frage nach dem „mehr“: mein Glücksbewusstsein hat nicht mit dem Kontostand zu tun. Eher mit dem Gefühl, genug für alles zu haben, was mir wichtig ist. Genug zu haben, um sich buchstäblich alles leisten zu können und auf nichts verzichten zu müssen. Möglicherweise ist es ein ganz geringer Betrag, den man dafür vorsieht, aber das Bewusstsein, sich jeden Monat überteuerten Milchkaffee in einem hübschen Kaffeehaus, einen Museumsbesuch und auch das Schwimmbad leisten zu können, genug für Geburtstagsgeschenke und gelegentlich Kleider zu haben und jeden Monat ein bisschen was für eine kleine Städtereise zurücklegen zu können, gibt mir das Gefühl, reich zu sein und wirklich nicht mehr zu brauchen. Wenn ich hingegen meinem Leben nur hinterherhetze, mit Bedauern feststelle, dass die monatelange Sonderausstellung schon wieder vorbei ist und ich vor lauter Unterrichten keine Zeit hatte, hinzugehen, der Garten schon mal bessere Zeiten gesehen hat – dann kommt mir mein Leben armselig vor, egal, wie’s auf dem Konto aussieht.

Hin- und hergerissen

Die Anfrage eines Kollegen, ob ich ihn beim Marimba-Konzert von Paul Creston begleite, war eine willkommene Abwechslung. Ein mir unbekanntes Werk des 20. Jahrhunderts? Rhythmisch kompliziert? Ein anspruchsvoller Klavierauszug, der meinen Kopf wieder ein bisschen auf Trab bringt und mich überlegen lässt, wie ich meine Finger daran hindere, sich komplett zu verknoten? Ein Instrument, das ich noch nie begleitet habe? Her damit! Meine Bereitschaft, mich kopfüber in was Unbekanntes zu stürzen, auch wenn viel Arbeit damit verbunden ist, zeigt mir, dass ich im Alltag klaviermässig doch oft unterfordert bin beziehungsweise mich zu gemächlich in den immer gleichen Bahnen bewege. Und so wurde erst mal gelesen und Vorzeichen abgeklärt, geübt, im Netz recherchiert über diesen Komponisten und das Werk speziell, eine schöne Aufnahme angehört mit diesem erstaunlichen Instrument, das dem meinen so ähnlich ist und doch so anders – kurz, der Horizont wurde auf angenehme Weise wieder ein bisschen erweitert, die Gedanken in eine andere, unbekannte Richtung geleitet.

Aber – selbst wenn es einen Konzerttermin gibt und man seine Zeit am Klavier klug einteilen sollte – was passiert, wenn man sich abends, nach einem Gartenrundgang, einem vorsichtigen Blick ins Amselnest, einem hoffnungsvollen auf die kurz vor dem Aufgehen stehenden Pfingstrosen, in entspannter Stimmung noch mal kurz ans Klavier setzt? Statt der geplanten, für den Lernprozess wichtigen nochmaligen Wiederholung des tagsüber Geübten suchen sich die Finger spontan die B-Dur-Partita, und statt Creston lernen die Amseljungen vor dem Fenster Bach kennen… Und ich fühle mich wohl so und spüre, dass meine Finger und mein Kopf jetzt genau diese Abwechslung brauchen. Was Neues ist gut und schön, aber was Vertrautes ist manchmal genau so wichtig. Um auch beim Neuen wieder weiter zu kommen, andere Aspekte und Querverbindungen zu sehen, Lust auf das genau Entgegengesetzte zu bekommen…

Diese Tendenz, Bekanntes und Unbekanntes zu kombinieren, bemerke ich auch in anderen Bereichen meines Lebens. Da wartet das neue Bibliotheksbuch auf dem Nachtkästchen, aber man will im vertrauten, gefühlte hundert Mal gelesenen Werk kurz eine Passage nachgucken – und beim Lichtausmachen nach einer Stunde legt man die Brille auf das ungeöffnet gebliebene neue Buch und ist wieder begeistert und beglückt vom schon so oft gelesenen. Oder beim Spazieren – es gibt Tage, da hangele ich mich auf abenteuerliche Weise über Wiesen und Innhänge, die ich noch nie betreten habe, und suche mit Absicht einen noch unbekannteren Umweg. An anderen brauche ich es, meine ganz gewohnten Wege in aller Gelassenheit zu gehen, meine (vermeintlich) vertrauten üblichen Fischreiher oder Biber zu sehen.

Die Lust auf Neues zeigt, dass man noch lebendig ist. Der Wunsch auf Wiederholung von Vertrautem, dass man immer wieder eine Bestätigung dessen braucht, was einen ausmacht. Und je mehr Neues dazu kommt, desto mehr weitet sich die Persönlichkeit, desto reicher auf eine nicht-materielle Weise wird man. Ist nicht die Freiheit, wählen zu können, das Beste an diesem Pendeln zwischen zwei Polen?

Vom Inn an den Main

… und in die eigene Vergangenheit. Ich hatte das grosse Glück, in einer wunderschönen Stadt zu studieren und die ersten Berufserfahrungen zu sammeln, in der ich weder geboren noch aufgewachsen bin und in der ich jetzt auch nicht mehr lebe. So bleibt sie für alle Zeiten der Ort, an dem ich mich immer frei und glücklich gefühlt habe, so vieles zum ersten Mal erlebt oder probiert habe, jung und voller Idealismus war. Eine Insel der Seligen irgendwie. Und das erstaunliche ist: dieser Ort ist und bleibt wunderbar für mich. Kaum bin ich dort, kommen diese Gefühle wieder. Ich fühle mich schlagartig um 20 Jahre jünger, neugieriger und wacher als wo anders. Meine Beine erinnern sich an das Tempo, in dem ich damals – autolos und ständig auf dem Weg zu irgendwelchen Terminen – durch die Stadt gelaufen bin. Definitiv ein anderes Tempo, als wenn ich hier am Inn entlang in die Stadt schlendere und nach dem Eisvogel Ausschau halte.

Diesmal bin ich zum ersten Mal im Leben in Würzburg Auto gefahren. Unglaublich eigentlich! Es war ein gutes Gefühl, sich der Stadt in meinem kleinen Auto zu nähern, das ich mir dank meines Studiums hier komplett selber erarbeitet habe. Wer hätte das damals gedacht, mit diesem brotlosen Konzertfach-Klavier-Studium… Auch sonst ist unser Lebensstandard so anders jetzt: für meine ehemalige Mitstudentin und mich war klar, dass wir in ein feines Hotel gehen wollten, mit Wellness-Bereich und allen Schikanen. Damals haben wir so anders gelebt! Nicht gerade ärmlich, denn als Musikstudenten hatten wir von Anfang an die Möglichkeit, mit Mucken und anderen Jobs ganz gut zu verdienen, aber doch bewusster und einfach auf einem bescheideneren Niveau als heute. Ich habe mich daran erinnert, dass ich immer freitag nachmittags noch eine Schülerin hatte, von der ich damals fünfzehn Mark für die Stunde bekam. Damit kaufte ich danach meine Lebensmittel für die ganze Woche: Milch, zwei grosse Gläser Joghurt, Knäckebrot, Obst und Gemüse. Und es war gar nicht wichtig, mehr Geld zu verdienen als ich brauche – meine Bedürfnisse und Möglichkeiten haben sich gedeckt. Was für ein seliger Zustand. Damals war mir gar nicht bewusst, wie reich ich bin.

Meine Wohnung war kleiner als jetzt und im Nu geputzt, die Nebenkosten absolut überschaubar, meine paar Kleider hingen übersichtlich auf einer Stange, weil ich keinen Schrank wollte. Dafür war das Leben angefüllt mit sinnvoller Beschäftigung, ganz viel Klavierspielen oder Musizieren mit anderen, Stunden in der Bibliothek, ständigem echtem Kontakt mit Menschen. Und jetzt? Brauche ich allein zwei Tage, um nur die Fenster zu putzen. Muss mich bemühen, dem Klavier so weit Priorität einzuräumen, dass ich am Tag wenigstens eine Stunde zum Üben komme. Sehe meine Freunde kaum noch in echt, weil jeder genau so beschäftigt ist wie ich und wir weit auseinander wohnen. E-Mails oder Anrufbeantworter-Nachrichten haben das Teetrinken im Brückenbäck abgelöst. Eigentlich eine traurige Entwicklung, aber es scheint allen gleich zu gehen.

Um so schöner ist es, wenn man sich dann ein Wochenende lang in echt sehen kann und feststellt: es ist nicht nur die Stadt, die den Zauber ausübt, sondern auch die Kontakte von früher. Es war so schön, die beiden Freundinnen zu sehen und festzustellen, dass sie sich über zwanzig Jahre hinweg treu geblieben sind. Und dass wir uns mögen und so viel zu sagen haben wie am ersten Tag – es war, als ob wir uns gestern zum letzten Mal gesehen hätten. Und letztlich sind es die Menschen, mit denen wir einen gewissen Lebensabschnitt verbracht haben, die die Erinnerungen in uns lebendig werden lassen: nicht die Strassen oder die alten Wohnungen, sondern die vielen „weisst du noch“ und das gemeinsame Lachen. Oder das wortlose Sich – Anschauen und Verstehen, wenn einem nicht zum Lachen zumute ist.

Die Tage in meiner alten Studentenstadt haben mich wieder daran erinnert, was mir mal wichtig war im Leben und was in diesem braven, korrekten Doppelhaus-Vorstadtleben manchmal verschüttet wird: Freundinnen treffen ist wichtig, Musikmachen ist wichtig, entspannt Kaffee trinken auch. Und nicht: Arbeiten bis zum Umfallen oder sinnlos Geld scheffeln, weil man vielleicht irgendwann Rücklagen brauchen könnte. Das Leben findet jetzt statt.

…wird benutzt, was da ist

Nachdem der Dezember in jeder Hinsicht ein übervoller Monat war, in dem alles im Überfluss auf mich einströmte, nutze ich den Anfang des neuen Jahres zu einem innerlichen Neuanfang. Nach den Einladungen und den damit verbundenen Lebensmittel-Einkaufsorgien geniesse ich es, nur mit einem kleinen Korb das Nötigste an frischen Sachen zu kaufen und mich sonst an die gut gefüllten Vorratsschränke zu halten. Und mich zu fragen, warum gewisse Lebensmittel ihr Verfallsdatum erreicht haben, ohne dass wir Lust darauf hatten. Jetzt wird konsequent verbraucht, was da ist. Auch das in den hinteren Reihen. Der Bestand ist teilweise lustig und regt meine Kreativität an: Spätzle mit Kraut hatten wir noch nie, aber es war gar nicht schlecht. Die Quarkknödel mit eingemachten Heidelbeeren und gerösteten Semmelbröseln waren direkt ein Gedicht, und die Graupensuppe perfekt für unser Dauerfrostwetter.

Mit Büchern, Kleidern, CDs ist es wie mit Lebensmitteln: man hat so viel im Schrank, oft, ohne es zu wissen. Statt einkaufen zu gehen, sollte man öfter die Zeit dazu nutzen, seine Schränke durchzusehen. Ich habe einige Wollsachen in die Reinigung gebracht, damit ich noch was davon habe, so lange es kalt ist. Dann die berühmten Knöpfe angenäht, die einen monatelang davon abhalten, ein bestimmtes Stück anzuziehen. Und ein paar ausgefranste Stellen ausgebessert. So habe ich ohne Einkaufen das Gefühl, eine neue Garderobe zu haben. Und ich habe mir angewöhnt, in die Schule Wolljackets anzuziehen. Ist vielleicht etwas zu fein, andererseits DIE Offenbarung in unserer kalten Burg. Zum ersten Mal seit acht Jahren beklage ich mich abends bei Johannes nicht, dass ich in Mantel und Pulswärmern unterrichtet habe. Dabei hingen die Jackets die ganze Zeit im Schrank (und in der Philharmonie über meiner Stuhllehne, weil es da viel zu warm ist!).

Mein E-Piano, das einige Monate bei zarten Händen verbringen durfte, wird in nächster Zeit zurückkommen – was gut ist, denn dann kann ich gleich morgens um sieben schon mal eine Stunde unhörbares Üben unterbringen, ohne andere zu stören. Es bekommt auch einen neuen Platz, und dafür haben der Gemahl und ich einiges umgeräumt. Was auch gut ist am Jahresanfang. Vor allem, wenn man es zu zweit tut und daran seine Diskussionskultur wieder, nun ja, weiterentwickelt. (Heute musste ich zugeben, dass er recht hatte. Ist aber gar nicht so schwer.) Jetzt steht ein Bücherregal neu in meinem Zimmer, das vorher wo anders war. Dafür musste der Schreibtisch in eine andere Ecke und schaut in eine andere Himmelsrichtung – ein unerwartet neues Lebensgefühl, das gleich Lust macht, sich hinzusetzen und loszulegen. Es ist so leicht, eine neue Perspektive zu erhalten. Warum macht man es nicht öfter?!

Im Regal waren ungefähr zwanzig leere Zentimeter vorgesehen für ausgeliehene Bücher und andere, die ich lesen will. Warum man sie auf dem Bild  nicht erkennen kann, also warum sie schon wieder völlig bewohnt aussehen, ist gruselig und unerklärlich. Ich versuche, dem Vermehrungstrieb unserer Bücher systematisch auf die Schliche zu kommen und habe deshalb im Januar mal mitgerechnet: ich habe sieben Bücher gelesen (fünf davon ausgeliehen – juchu Büchereiausweis!). Ich fürchte, das ist normal für mich. Nicht auszudenken, wie es hier aussehen würde, wenn ich sie alle gekauft hätte.

Manchmal werde ich gefragt, wann ich lese – eigentlich nur abends. Ich sehe halt nicht fern. Erstens ist es unsäglich, zweitens kann ich nicht mit der Fernbedienung umgehen. Seit Oktober hat sich noch mal was geändert. Ein viel zu junger Mann hat viel zu schnell irgendwas installiert und mir eine neue Fernbedienung in die Hand gedrückt. Ich hab noch nie ausprobiert, ob sie überhaupt funktioniert, und der Gemahl kommt eh nie zum Fernsehen. Im Januar hab ich also zwei Abende vor der Kiste verbracht mit vergnüglichen DVDs. An einem Abend war ich in einem Konzert. Eins hab ich selber gegeben, und einmal war ich in einer Lesung (und habe das vorgestellte Buch NICHT gekauft, obwohl es interessant klang!). Und die restlichen Abende habe ich eben gelesen. Bei diesen langen dunklen Abenden kommen da schnell einige Bücher zusammen.

Was ich u.a. gelesen habe: „Oliver Twist“, was sich als unerwartet grausam und generell düster erwiesen hat. Würde ich keiner zarten Seele empfehlen. Und „The Dark Island“ von Vita Sackville-West. Mein Januar-Roman von ihr. Um das Vergnügen auszubreiten, limitiere ich mich auf einen Roman pro Monat und bin leider schon im Jahr 1934 angelangt. Bei allem Respekt: ich würde auch dieses Buch nicht unbedingt empfehlen. Über sehr grosse Strecken merkt man zwar mit Vergnügen, was für eine begabte Schriftstellerin da am Werk ist, und psychologisch wird es zum Schluss zu immer interessanter und beklemmender. Aber es gibt eine unglaublich kitschige Schilderung einer Hochzeitsnacht, in der jemand im Nebenzimmer „Isoldes Liebestod“ auf der Orgel spielt. Hat denn das niemand verhindern können?! Leider ist es letzlich diese unsägliche Szene, die einem im Gedächtnis bleibt. Dann schon lieber ihre früheren Romane!

Ab jetzt…

Unsere Bücherregale haben dieses Jahr einen Zuwachs erfahren wie nie zuvor. Das muss anders werden, denn so kann es definitiv nicht weitergehen. Ich würde zwar liebend gern in einer Bibliothek wohnen, andererseits möchte ich nicht so viel um mich anhäufen, denn letzlich belastet Besitz doch nur. Und auch wenn ich regelmässig ausmiste und Bücher verschenke, steht das Lesevergnügen in keinem Verhältnis zum Aufwand an Gedankenenergie, Geld und Ressourcen, die man darauf verwendet.

Fatal für diese Entwicklung in unserem Haushalt hat sich in den letzten Jahren die extrem leichte Verfügbarkeit von gebrauchten Büchern über das Internet erwiesen. Über die einschlägigen antiquarischen Seiten, mit denen ich in Zukunft wirklich vorsichtig umgehen will, ist es erstaunlich einfach, mit einem Klick seltene Erstausgaben aus den 20er Jahren zu bestellen. Noch vor einigen Jahren musste man ihnen mühsam und persönlich auf der ganzen Welt nachjagen. Es ist zu verführerisch, sie jetzt so schnell auf einen Blick überhaupt lokalisieren zu können. Und wenn einem bewusst ist, dass manche der Werke nicht mehr gedruckt werden und möglicherweise nur noch in diesen fünf Exemplaren überhaupt existieren, fühlt man sich quasi verpflichtet, auf das Warenkorb-Symbol zu klicken. Und unversehens, und ohne sich ruiniert zu fühlen, hat man eine ansehnliche Sammlung beisammen.

Genau so gefährlich wie die Seiten mit antiquarischen Juwelen sind die bekannten anderen, die schnödere und neuere Taschenbuchausgaben anbieten. Auch hier gibt es immer wieder Titel, die nicht mehr gedruckt werden – und wieder sieht man es als seine moralische Pflicht an, sie zu kaufen, um sie vor dem gänzlichen Verschwinden zu bewahren. Finde ich dann noch eine Kundenrezension, die behauptet: „ein Text, der verwirrt, aber auch bereichert“, ist es für mich ein sicheres Zeichen, dass ich dieses Buch sofort lesen muss. Und – … nein, kein Klicken! Ab jetzt nicht mehr!

Ab jetzt habe ich ein weiteres überholtes und altmodisches Requisit wieder in mein Leben eingeführt: einen Leserausweis einer Bibliothek! Stolz steckt er neben meiner Telefonkarte, die man als handyloser Mensch manchmal braucht – viele meiner zwölfjährigen Schüler haben von beidem noch nie was gehört… Aber es fühlt sich gut an, dieser kleine Ausweis, ich fühle mich wieder komplett. Ich war fast mein Leben lang begeisterte Bibliotheksnutzerin, angefangen bei den zwei Regalen unserer Pfarrbibliothek im eiskalten Stübchen des alten Pfarrhauses.  Sonntags nach dem Gottesdienst durften wir die immer gleichen zerfledderten Abenteuerbücher aus der Nachkriegszeit ausleihen. Seit ich mehr auf dem Land wohne, bin ich allerdings von Büchereien abgekommen aus dem snobistischen Grund, dass die Literatur, für die ich mich interessiere, schlicht nicht erhältlich ist. Deswegen musste ich so viel kaufen, nur deshalb… Doch jetzt hat die Vernunft gesiegt – ich kann mir per Fernleihe aus München die absurdesten Titel kommen lassen, und falls ich wirklich was fünf Mal lesen will, könnte ich es immer noch anschaffen.

Der Vorgang birgt auch eine ungeahnte Vorfreude in sich. Gewöhnt an die sekundenschnelle Erfüllung aller Wünsche, ist es ein ganz seltsames und spannendes Gefühl, eben diese Instantbefriedigung nicht zu haben. Vor den Weihnachtsferien habe ich mir voll Freude und Stolz einen Ausweis unserer Schulbibliothek ausstellen lassen. Da die Fernleihe ein paar Tage dauert, war es sinnlos, die Bücher vor den Ferien zu bestellen. Jetzt kann ich in aller Ruhe überlegen, mit was ich anfangen will und meinen ersten Wunschzettel schreiben. Nach den Ferien bestelle ich es, und da ich immer nur zwei Tage in der Woche dort bin, muss ich noch mal eine Woche warten, bis ich die Bücher in der Hand halten kann. Ist das nicht wunderschön?! Eine nette Übung in Selbstdisziplin, die in sich schon eine Belohnung darstellt. Und dazu beiträgt, dass Bücher noch einen Wert haben. Die schnelle Verfügbarkeit trägt ja auch zu einer Entwertung bei.

Worauf ich mich freue (wenn ich’s bekomme…): ein wahrscheinlich kiloschwerer Bildband mit Photographien von Marianne Breslauer, der unserem Bücherregal gewichtsmässig den Rest geben würde. So gern ich ihn haben würde – so was wird in Zukunft ausgeliehen. Marianne Breslauer hält den Stil, die Eleganz und das Lebensgefühl einer vergangenen Epoche auf wunderbare Weise fest. Ich freue mich auf diese besondere Zeitreise.

Alles hat seine Zeit

In diesen feuchten Nebeltagen ist es die reinste Freude, morgens am Inn zu spazieren. Ich liebe es, wenn alles grau in grau ist, kristallene Wassertropfen an leicht mit Frost überzogenen Spinnennetzen hängen und man kaum unterscheiden kann, wo die Wasser- und die Nebelfläche sich treffen. Oder gehen sie in einem völlig aufgelösten feuchten Zustand ineinander über? Wenn die Konturen so unscharf sind, wirkt der Seitenarm des Inns mit seinen wild übereinander gestürzten Bäumen, die einfach liegen bleiben dürfen, und den sich schräg in den Himmel streckenden Ästen wie ein urzeitlicher Urwald, den seit Jahren kein Mensch mehr betreten hat.

Ich geniesse es, auf dem Hinweg in die Stadt die silbergraue Nebellandschaft nur mit ein paar Wasservögeln zu teilen. Nachdem ich meine Einkäufe erledigt habe und zurücklaufen will, freue ich mich aber genau so, unseren Nachbarn zu sehen, der am Stauwerk auf mich wartet. Normal laufen wir immer in entgegengesetzte Richtungen, wechseln ein paar Worte und bedauern es, dass wir nicht den gleichen Weg haben. Heute haben wir Glück und gehen beide stadtauswärts. Unser Nachbar ist eine Seele von Mensch. Ungefähr 35 Jahre älter als ich, strahlt er eine ruhige Gelassenheit und Lebensweisheit aus, die wohltuend ist. Kennengelernt haben wir uns, weil ich es nicht vermeiden konnte, meine Nase über seinen Gartenzaun zu stecken. Er hat weit und breit die üppigsten, gesündesten Rosen, und anfangs haben wir uns nur übers Gärtnern unterhalten und er hat mir in rührender Weise Ableger seiner Christrosen gebracht oder besondere Zwiebeln, die er auf einer Gartenschau gesehen hat. Dann hat sich herausgestellt, dass er sich sehr für klassische Musik interessiert. Seither gehen wir mit ihm und seiner Frau in Konzerte und einmal im Jahr in die Oper, und wenn wir beide uns sehen, nutzen wir das Fachwissen des jeweils anderen und quetschen ihn wieder über irgendwas aus. So auch heute: ich möchte von ihm wissen, mit was er seine Rosen angehäufelt hat und warum er alle so stark zurückgeschnitten hat und ob ich das mit meinen Kletterrosen lieber nicht machen soll, und er erzählt von einer Sendung zu Barenboims 70. und fragt, wie man im Rachmaninoff g-moll-Konzert so schnell spielen kann, bzw. an was man da noch denkt und auf welche Hand man schaut und wie das überhaupt möglich ist. Dann beginnt er, von neuen CDs zu erzählen, und allein vom Zuhören fühle ich mich überrollt und übersättigt und sage es ihm auch. Je länger ich lebe, desto mehr habe ich das Gefühl, die Zeit reicht nicht für alles, was ich noch lesen, anhören, spielen, kennenlernen und sehen will. Und wie gefährlich und anstrengend ich es in letzter Zeit finde, sich mehr in ein Thema zu vertiefen und immer weitere Kreise um einen Punkt zu ziehen, weil dabei anderes auf der Strecke bleibt und man beim Einkreisen schnell vom hundertsten ins tausendste kommt, wenn man nicht aufpasst. Allein wenn ich an mein privates Leseprojekt denke, englische Literatur kennenzulernen, die zwischen 1926 und 28 entstanden ist – meine Güte! Und wenn man es ausdehnen würde auf 1922 bis 28, hätte man Stoff für ein ganzes Semester. Oder ein ganzes Leben. Oder, wovon ich schon lang träume: Joyce, Proust und Woolf direkt gegenüberzustellen. Ich hab sie im Abstand von Jahren gelesen, aber mich juckt es in den Fingern,  bestimmte Passagen parallel zu lesen. Und dann kommt man irgendwann an den Punkt, an dem man spürt, dass man sich bewusst beschränken muss. Aldous Huxley muss einfach warten, und die fünf Mitford-Schwestern sind schon aufgrund ihrer Anzahl eine Art kleiner Zeitbombe, die den Rahmen sprengen würde. Und ich weiss: wenn ich mit einer anfange, führt das unweigerlich zur nächsten…

Harold Knight, A Window in St John's Wood / Persephone Books
Harold Knight, A Window in St John’s Wood / Persephone Books

Unserem Nachbarn erkläre ich meine Bedenken nicht so detailliert, aber er versteht, was ich meine, und sagt „Sie müssen sich das so vorstellen: Ihre Seele ist wie ein grosses Gefäss.“ Hier führt er mit beiden Händen ausufernde Bewegungen vor seinem Körper aus, die mich unwillkürlich an eine der schlammgrünen Komposttonnen denken lassen, die man jetzt immer in Gärten sieht. „Und Sie können nur in einem begrenzten Mass was reinfüllen, sonst quillt das Gefäss über. Wenn Sie an dem Punkt sind, müssen Sie den Deckel drauflegen und warten, bis sich alles setzt. Es hat keinen Sinn, dann noch mehr reinzustopfen.“

Wie recht er hat, und wie gut es tut, das in seinen Worten und mit diesem anschaulichen Bild zu hören. Ich fühle mich legitimiert, einfach nur aus dem Fenster zu starren und den Blättern beim Fallen zuzusehen. Oder abends, wenn ich wieder was gefunden habe, was ich nicht weiss, nicht noch mal den Computer hochzufahren, sondern kurz in mein Notizbuch zu schreiben, was so dringend ist, und dann nachzuschauen, wenn ich eh dabei bin. Und einfach mal auf dem Sofa liegenzubleiben und in die Kerzen zu schauen. Und alles in Ruhe sich setzen lassen. Egal, ob ich noch vier oder vierzig Jahre lebe – wahrscheinlich hat man nie das Gefühl, genug Zeit zu haben, also kann man gleich mal an einem entspannten Verhältnis dieser Tatsache gegenüber arbeiten.