Archiv der Kategorie: unterwegs

Vom Inn an den Tiber: Einsam oder gemeinsam?

Gestern hat der Wind ein gelbes Blatt genau auf mein Fensterbrett geweht, während ich mit einer Tasse Earl Grey am Fenster stand und den herrlich grauen Himmel angeschaut habe. Das Blatt war der perfekte Herbstgruss und fast zu schön, um echt zu sein. Es wird Zeit für den wirklich letzten Italien – Artikel, bevor ich jedem hier auf den Geist gehe!

Als wir zurück waren, las ich in der Frankfurter Allgemeinen einen Artikel über eine Mittelmeerkreuzfahrt, der erst mal schön klang: viele Tage auf dem blauen Meer, Ausflüge nach Genua, Rom und Neapel vom Schiff aus, gutes Essen. Etwas teuer. Aber dann die ganze Wahrheit: man ist umgeben von 4500 anderen Passagieren auf dem Schiff, und beim Landgang nach Rom von Civitavecchia aus lagen noch zwei Schiffe der Grössenordnung vor Anker und 14 000 Menschen machten sich (gleichzeitig?!) auf nach Rom. Für einen Tag. Das bedeutet: abends findet das, was für mich nach geplanter Massenevakuierung klingt, in umgekehrter Reihenfolge wieder statt. Und ich kann mir kaum ausmalen, wie viele Busse man für 14 000 Menschen braucht. Und wie sie alle gleichzeitig in Rom einfallen.

Interessant, was manche Menschen auf sich nehmen im Urlaub, oder? Ich glaube, ich wäre nach so einem Ausflug urlaubsreif. Es macht schon Spass, gelegentlich andere Touristen zu sehen, und an einem Abend in Rom, als wir etwas erledigt waren, haben wir uns einfach eine Stunde vors Kolosseum gesetzt und hunderten von Leuten beim Selfieproduzieren zugeschaut. Aber ständig? Und gleich zu Tausenden?

Jeder soll nach seiner Art glücklich werden. Unsere Art von Glück sah ganz anders aus – und im Nachhinein kann ich kaum glauben, dass wir zeitgleich völlig allein in Férento, etwa 60 km nördlich von Rom, im Amphitheater sassen, während sich weiter südlich solche Szenarien abspielten.

Férento war der reinste Zufallsfund. Wir studierten die Landkarte, um zu schauen, was es in der Nähe von Viterbo noch Schönes gäbe, und da war kursiv gedruckt und mit den drei Pünktchen drunter, die Ruinen verheissen, eben dieses Férento. Es wurde tatsächlich mit drei Zeilen in unserem Latiumführer erwähnt – wenn man mal dort war, fragt man sich, wie man sich da auf drei Zeilen beschränken kann. (Ich kann es nicht!) Da steht ungefähr: gut erhaltene römische Siedlung mit Amphitheater, Thermen, Decumanus und Häusern, 1172 von Viterbo zerstört, seither unbewohnt.

Férento liegt wunderbar einsam in der Pampa. Schon die Umgebung atmet den Hauch von „es war einmal, vor ganz, ganz langer Zeit“ aus. Denn jetzt ist da kaum mehr was los ausser etwas Landwirtschaft und schlechten Strassen. Aber – ein Hinweisschild auf eine noch einsamere Strasse. Und dann tatsächlich ein lebendiger Mensch und die Andeutung von Infrastruktur vor dem eingezäunten Gelände: ein garagengrosses Hüttchen, das nach vorne offen war, und drin eine Frau, die an dem grossen, bücherübersäten Tisch am Computer zu arbeiten schien. Der geisteswissenschaftliche Anstrich wurde betont durch zwei Katzen, die uns in aller Form vorgestellt wurden. Férento ist Studienobjekt irgendeiner Uni, und deshalb hatten wir das Glück, dass überhaupt jemand da war und uns aufsperrte (normal ist nur am Wochenende auf, wie sie mir in wunderbarem Französisch erklärte). Und das Aufsperren war sehr symbolisch – sie entfernte ein grosses Vorhängeschloss vom hohen Maschendrahtzaun, das sie nach uns wieder dranhängte. Und mehr brauchen wir nicht zum Glücklichsein als einfach mal eingesperrt zu werden in einem verlassenen Ruinengelände – wir können durchaus mal Ruhe geben und einfach nur da sitzen. Und es war der reinste Luxus, dass wir das durften und keiner was von uns wollte.

Die schwarze Katzendame Domitilla schien einen anderen Weg zu kennen (kein Wunder, ist sie doch benannt nach der Gattin des Kaisers Vespasian, die in Férento geboren war), denn sie empfing uns schon in den Ruinen und schmuste um unsere Beine. Und begleitete uns auf dem Rundgang. Deshalb war der Ort natürlich besonders schön für uns… Aber auch sonst: das gut erhaltene Amphitheater ist wunderschön. Vielleicht nicht das grösste, das man je gesehen hat, aber es hat sehr dekorative Rundbögen, die irgendwie ohne Mörtel zusammengefügt sind und deshalb schon eine Sehenswürdigkeit. Das ganze Gelände war überwachsen von kleinen gelben Blümchen und Thymian. Kleiner lilablühender Thymian, wie es wo anders Rasen gibt. Man konnte gar nicht anders als draufzutreten, und das war der Duft von Férento. Wenn ich an diese Rundbögen denke, rieche ich Thymian. Und der versetzte mich langsam so in andere Sphären, und es war so wunderbar einsam und zauberhaft und betörend schön, dass ich beim Blick in eins der Schwimmbecken in der Therme tatsächlich ein leises Plätschern hörte. Obwohl alles staubtrocken war um uns herum. Da ist ein Römer weggeschwommen, weil er nicht angestarrt werden wollte… Ganz sicher.

In den Ritzen der erhaltenen Pflastersteine der Hauptstrasse: auch Thymian. Und auch in den Fundamenten eines Hauses, in dem wir lange mit Domitilla spielten. Ein wunderschöner Ort, an dem man ganz zur Ruhe kommen kann. Natürlich: Selfies aus Férento hätten keinen hohen Wiedererkennungswert in sozialen Medien, und gelato gab es auch nicht. Wer darauf verzichten kann, kommt bei diesem kleinen und feinen Ausflug in die Antike voll auf seine Kosten.

Vom Inn an den Tiber: Noch mehr Sehnsuchtsorte

Wer in seiner Jugend in den Genuss von Lateinunterricht gekommen ist, stolperte unweigerlich früher oder später über die zweisprachigen „Tusculum“ – Ausgaben. Ich dachte anfangs, das ist halt ein poetischer Name für einen idealen Ort, an dem schöngeistige Gespräche stattfinden, oder ein Verlagstrick, um staubtrockene alte Literatur irgendwie an den Mann zu bringen. Bis ich irgendwann mitbekam, dass Tusculum ein realer Ort ist, den man immer noch besuchen kann. Ab da stand er auf der Liste meiner Sehnsuchtsorte weit oben. Ich war und bin kein Cicero – Fan, aber es könnte nicht schaden, den Entstehungsplatz seiner „Tusculanae Disputationes“ zu sehen. Ausser ihm wohnten zahlreiche reiche und berühmte Staatsmänner und Dichter auf diesem Hügel im Süden Roms: der legendäre Lucullus, Cato, Caesar (Grund für ähnlich langatmig sich hinziehende Lateinstunden wie Cicero…). Sie hatten sich bewusst diesen hochgelegenen Hügel mit der sagenhaften Rundumsicht in den Albaner Bergen ausgesucht, um Abstand zur Stadt und wahrscheinlich ein besseres Klima zu haben.

Stilecht wäre ich gerne über die Via Tuscolana aus Rom angekommen, aber wir wohnten ja im Osten und waren nach einem Katzensprung in Frascati. Zeitgenossen mit masochistischen Tendenzen könnten hier den Wanderrucksack auspacken und ständig bergan rauf nach Tusculum laufen. Der Weg entlang der einsamen Strasse ist auch wirklich schön, es gibt Oliven und Steineichen und gelegentlich Schatten – ich war aber doch dankbar für mein Auto, das uns mit leichtem Schnaufen innerhalb von Minuten auf die Hügelkuppe brachte. Denn es war unglaublich heiss und trocken. Und wie die anderen Orte, die wir besuchten, ist Tusculum kein Archäologie – Disneyland und kein bisschen für den Tourismus erschlossen. Keinerlei Infrastruktur, keine Bar, kein Wasser. Einzig und allein der menschenleere Parkplatz liess uns ahnen, dass wir hier aussteigen und loslaufen könnten.

Wir fanden einen schattigen, baumbestandenen Hohlweg mit glattgeschliffenen schwarzen Quadersteinen auf dem Boden, und – erstes Zeichen, dass wir doch an einem sehenswerten Ort waren – tatsächlich eine Schautafel, die informierte, dass Tusculum ein wichtiges Ziel auf der Grand Tour war und besonders deutsche romantische Maler dieses Panorama schätzten. In der drückenden Hitze hält man es kaum für möglich, dass in den letzten Jahrhunderten überhaupt jemand auf diesem Hügel gewesen war. Wir spazierten leicht bergan, vorbei an überwachsenen Fundamenten und umgekippten Säulen, und die Aussicht auf die Albaner Berge wurde immer schöner. Bis wir am höchsten Punkt den Gipfel des Malerischen erblickten: ein weisses Einsatzfahrzeug einer Art Technischen Hilfswerks, und vier Feuerwehrmänner in voller Montur, die bei geöffneten Türen auf ihren Handys lesen. Wir stellten uns kurz zu ihnen, weil sie unter dem einzigen Baum weit und breit parken, und weil – Menschen! Lebendige Menschen! Man hätte eine perfekte Aussicht in alle Himmelsrichtungen, um Waldbrände zu entdecken. Aber ihre Handys sind ihnen wichtiger… Ihr Funkgerät piept und zwitschert und ich finde diesen Einbruch des 21. Jahrhunderts in die antike Welt ziemlich absurd. Aber natürlich nötig. Wir haben in den letzten Tagen mehrere Waldbrände und Löschversuche mit Hubschraubern erlebt, und die Wiesen von Tusculum sind fast die vertrocknetsten, die wir gesehen haben. Und es ist heiss. So stelle ich mir Griechenland vor.

Wir sehen uns noch die Reste des Amphitheaters an und schlendern ein bisschen übers Gelände, bekommen aber fast einen Hitzschlag. Fazit: es ist wahnsinnig schön, die Fernsicht ist sagenhaft, aber mir ist es zu exponiert und zu sehr der Sonne ausgesetzt. Und die Geister dieser langatmigen Schriftsteller  – lieber weg von hier, bevor uns ein Feuer den Rückweg abschneidet. Eine Nacht mit Lucullus wäre sicher vergnüglich, aber wenn dann Caesar und Cicero auftauchen und kein Ende finden… Schnell ins Auto!

Und runter von Frascati in die Ebene um Rom und ans Südende der Via Appia Antica, das wir mit mehr Glück als Verstand fanden. Hier wollte ich auch schon ewig hin, und wir hatten es einmal von der Stadt aus versucht, aber das war Fehlanzeige: der Bus bringt einen an den Anfang. Der ist noch touristenüberlaufen wegen der Calixtus – Katakomben und San Sebastiano, das zu den Hauptkirchen gehört und ein begehrtes Pilgerziel ist. Dann: haushohe Mauern, die sich gefühlt kilometerlang hinziehen und Privatgrundstücke abschotten. Wenn man nicht auf eine lange Wanderung eingestellt ist, ist der Abschnitt in Stadtnähe sehr enttäuschend.

Wenn man bereit ist, sich in die geordnete Anarchie des Autobahnrings um Rom zu begeben und nicht davor zurückschreckt, das Auto neben einem wenig vertrauenerweckenden Wohnwagenpark gegenüber vom Flughafen Ciampino abzustellen, kann man das herrliche, einsame Südende der Via Appia finden. Und hier ist sie wie aus dem Bilderbuch: das glattgeschliffene schwarze Pflaster zieht sich schnurgerade und pinienbestanden Richtung Rom. Kein Mensch ist in Sicht bis auf gelegentliche Jogger, und wenn die in ihren grellen Outfits verschwunden sind, könnte man glauben, geradewegs in der Antike zu sein. Und dann tauchen auch noch Schafe auf den vertrockneten Wiesen auf… Es ist Idylle pur. Das Abendlicht wird immer sanfter und wärmer, während wir langsam Richtung Stadt wandern, die warmen, trockenen Piniennadeln knirschen, wenn man drauftritt, und es riecht intensiv nach Harz aus den vielen abgefallenen Pinienzapfen. Ich hebe einen auf und habe fortan einen Harzklumpen an den Fingern, den ich immer wieder zur Nase führe – erinnert mich an meine ganzen Streicherfreunde und den leichten Kolophoniumgeruch, der sie manchmal umgibt. Das Parfüm der Via Appia… Hier kommen wir völlig zur Ruhe. Wollen und Erleben schieben sich mit einem leisen „klick“ in einen wunderbaren Einklang übereinander und wir sind beide an dem seltenen Punkt, dass wir sagen: so soll es sein. Genau so, wie es jetzt ist, ist es perfekt. Ich würde nichts ändern wollen an diesem Augenblick.

Vom Inn an den Tiber: Probewohnen

Als wir in Blera ankommen, ist es vier Uhr nachmittags. Alles schläft. Das ganze hübsche Städtchen befindet sich im Dornröschenschlaf, und wäre es nicht so gut erhalten und gepflegt, wären da nicht unzählige bepflanzte Blumentöpfe vor den Haustüren und auf den Treppchen, könnte man meinen, die Stadt sei ausgestorben. Wir schleichen in der Spätsommerhitze durch die engen Gässchen und sind begeistert, wie stimmungsvoll und malerisch der kleine Ort ist, selbst wenn alle Fensterläden zu sind.

Blera ist eines der vielen kleinen Städtchen nördlich von Rom, die auf einem langgezogenen Tuffsteinfels thronen. Lauter kleine, hochgebaute Steinhäuschen drängen sich dicht an dicht. Die schattigen Gassen sind so eng, dass man mit ausgestreckten Armen fast beide Häuserzeilen berühren kann. In der Mitte des kleinen Ortes öffnen sich die Gassen auf eine ähnlich kleine und enge Piazza, deren Mittelpunkt ein Brunnen ist. Danach wird es wieder eng, und der Weg führt leicht abwärts auf der alten Via Claudia.

Auch wenn der Ort schlief, hatten wir das Gefühl, ganz in der Zivilisation zu sein. Ein paar Schritte abwärts durchs Stadttor und auf einen kleinen Feldweg, der staubig an Schrebergärten vorbeiführte, und wir entfernten uns mit jedem Meter mehr aus der Gegenwart. Der olivenbestandene Hohlweg führte beständig bergab, die Schatten der Nachmittagssonne warfen das Muster der Olivenzweige in den Staub vor uns. Hier in den Gärten und auch oben in der Stadt hatten wir keine Seele gesehen, aber je näher wir der Etrusker – Nekropole kamen, die laut Landkarte irgendwo hier unten sein musste, desto mehr regte sich in der Luft und in der Atmosphäre. Einbildung? Hitzeflimmern? Zu wenig Wasser dabei? Wie auch immer, der spontane Ausflug wurde eine magische Reise in die Antike. In die richtig ferne Antike. Laut Führer war die Gräberstadt von 700 bis 500 vor Christus in Benutzung – da lebte Homer noch, so ungefähr… Und da waren die Etrusker schon so lange hier sesshaft, dass die Ersten sich ins Jenseits verabschiedeten und angemessene Wohnungen dafür brauchten. Ich liebe solche Orte mit Vergangenheit…

Und unversehens ging es schon los mit den Grabkammern. Wir dachten, die sind alle unten in der Schlucht, aber rechts von uns tauchten die ersten Öffnungen auf, in italienischer Manier als Geräteschuppen oder Viehställe mit halben Türen zweckentfremdet. Dann kamen offene, leere Gräber, kühl und schattig und geräumiger, als ich dachte: Dreiergräber, Fünfergräber, auch mal ein querliegendes Einzelgrab für die eher Introvertierten. Anfangs waren wir ganz leise und ehrfürchtig, schauten uns vorsichtig um, atmeten unwillkürlich langsamer. Dann kam noch ein Grab. Und noch eins. Und der Entdeckergeist wurde etwas übersättigt. Es war auch nett, zwischendurch wieder raus in die Sonne zu gehen und die Wärme zu spüren. Dabei entdeckte ich haufenweise Brombeeren, die aus und über Gräbern wuchsen, und sogar einen Feigenbaum mit dunkellila Früchten. Ich trödelte ein bisschen beim Obst, der Gatte explorierte weiter – „Guck mal hier, das Modell „Andante“!“ Mit einer Handvoll Brombeeren schlenderte ich zum nächsten Grab, einem richtig geräumigen, gemütlichen, und dachte mir drinnen spontan: was, wenn ich schwarze Früchte, die aus Gräbern wachsen, in einem Grab esse? Vielleicht tut sich da was? Vielleicht finde ich endlich den Fahrschein in die Vergangenheit? Es ist einen Versuch wert. Ich schliesse die Augen, esse ein paar Brombeeren, wünsche mich ganz sehr ein paar Tausend Jahre zurück und warte. Alles ist still und kühl, aber – das ist es auch schon. Als ich die Augen wieder aufmache, strahlt die Sonne vor dem säuberlich gehauenen Steinrechteck der Türöffung aufs gelbe Gras. Eine Eidechse flitzt vorbei. Ich fürchte, ich bin immer noch hier.

Und auch unten in der eigentlichen Nekropole hat’s mit der Magie nicht geklappt. Obwohl der Ort ohne Zweifel sehr magisch und einsam ist. Wir kletterten an dem gigantischen Felsen aus rötlichem Tuffstein herum, schauten uns noch in ein paar Gräbern um, waren selig und sprachlos, an so einem wunderschönen, besonderen Ort ganz für uns zu sein. Auch hier: Brombeeren, Haselnüsse und wilder Dill, der auch sehr lecker schmeckte, und Pfefferminze in rauhen Massen. (Auch lecker. Und mehr kann man sich bei einer Friedhofsbesichtigung wohl kaum in den Mund stecken zum Zwecke der Zeitreise. Also: Experiment gescheitert.)

Wieder zurück über die kleine gebogene Steinbrücke, und wir probierten einen anderen Rückweg aus, der links steil durch den Wald nach oben führte. Innerhalb kurzer Zeit muss man hier die ganze Steigung bewältigen, die man vorher in einer Viertelstunde bergab gegangen war, und gelangt oben an ein handgeschriebenes Holzschildchen „Belvedere“. Das musste die ursprüngliche etruskische Akropolis gewesen sein, auf die im Ort hingewiesen wurde. Die Siedlung wurde im Mittelalter als Steinbruch genutzt, um Blera etwas weiter hinten aufzubauen – es ist überhaupt nichts mehr von einer Stadt zu sehen. Aber ganz am Ende des Abhangs ein traumhafter Blick auf die Schlucht und die Felsen der Gräberstadt, in der wir grade noch gewesen waren: grün, so weit das Auge blickt, dunkelgrün, und dann die erdfarbenen Tuffsteinfelsen.

Unser völlig ungeplanter Spaziergang von etwa einer Stunde war einer der zauberhaftesten Momente der Reise. Gut, dass uns in Blera keine Bar und keine Katzen abgelenkt hatten. (Und als wir zurückkamen, war der Ort kaum wieder zu erkennen: quirliges Leben, eine moderne Apotheke, ein Optiker, Leute mit Einkaufstaschen, alte Männer vor der Bar… Diese Metamorphose ist immer wieder erstaunlich!)

Vom Inn an den Tiber: Villa Adriana

„Noch nie sah ich so malerische Ruinen“, schrieb Viktor Hehn, als er im 19. Jahrhundert die Villa Adriana in Tivoli besuchte. Ich stehe im ausgehenden Winter in Mantel, Stiefeln und Schal beim Dealer meines Vertrauens und habe eben das Hehn – Buch in einem seiner sich biegenden Regale ausgegraben. Es ist mir ein Begriff, weil es in fast jeder Italien – oder Rom – Bibliographie als eines der ersten auftaucht, neben Goethe und Gregorovius. Und jetzt halte ich es in der Hand? Dieses Juwel? Ich dachte, das gibt es gar nicht mehr! Keine Frage, ich kaufe es. Laufe durch den Schneematsch nach Hause und fange gleich an, drin zu blättern. Und was gibt es Schöneres, als im rauhen Germanien von südlichen Gefilden und ein paar Sonnenstrahlen zu träumen.

Sechs Monate später befinde ich mich auf dem Gelände der Villa Adriana in Tivoli, in weissem Leinen, Sandalen und Sonnenhut. Meine Fussrücken sind braungebrannt, die Füsse staubig, weil es hier wochenlang nicht geregnet hat. Es hat 38 Grad im Schatten und wir sind so ziemlich die einzigen Lebenden hier, abgesehen von den Schildkröten im grün schillernden Wasser des Canopo und einer freundlichen Katze, die in einem Blumentrog döst. Die Hitze, die Trockenheit, alle Anstrengungen sind völlig egal: wir sind beide schlicht überwältigt von der Grösse und Schönheit der Villa oder dessen, was davon noch übrig ist. Wir wandern durchs pinien – und zypressenbestandene Gelände und ich kann nicht anders als zu denken: „Noch nie sah ich so malerische Ruinen.“

Da die Villa Adriana zu den Hauptsehenswürdigkeiten Roms gehört, hatten wir einen ähnlichen Rummel wie in der Villa d’Este oben in Tivoli erwartet. Ausser meinem treuen Gefährt waren etwa zehn andere Autos auf dem Parkplatz. Aber das Areal der Anlage ist so riesig, dass wir nur einmal kurz andere Menschen zu Gesicht bekamen. Wir hatten auch ehrlich gesagt ein viel kleineres Anwesen erwartet. Ein Reiseführer warnte, selbst für den Schnelldurchlauf brauche man einen halben Tag, und ich dachte erst, das ist halt ein gründlicher Enthusiast. Aber: ein halber Tag reicht grade so. In der „Villa“ lebten zeitweise 20 000 Menschen, inklusive einer Garde aus 1000 Soldaten. Die hatten natürlich alle Behausungen, und Thermen, und Wandelgänge. Das Gelände entspricht gefühlt dem unseres Städtchens. Die zahlreichen Ruinen werden immer wieder unterbrochen von grossflächigen Olivenhainen, in denen man im Halbschatten ausruhen kann: ein wunderbarer Wechsel aus ergriffen und erstaunt sein und kurz die Seele baumeln und nachkommen lassen. Und drüber reden, was für aussergewöhnliche, kreative, leicht verrückte Ideen dieser Kaiser hatte.

Hadrian lebte in einer der wenigen ausgesprochen friedlichen Zeiten des römischen Kaiserreichs. Er reiste sehr viel in seinem immensen Reich, das damals die grösste Ausdehnung hatte: von Schottland (wo er seinen Wall baute) über Spanien (wo er geboren war), seinem Lieblingsaufenthalt Ägypten, Palästina, Syrien und Griechenland, das ihm auch besonders am Herzen lag. Als er älter und ruhiger wurde, beschloss er, all seine Lieblingsorte in der Nähe von Rom nachzubauen – aber nicht in Rom, um nicht ständig gestört zu werden. Und so findet man in der Ebene bei Tivoli die irrwitzigsten Nachbauten von damals berühmten echten Orten, oder Bauten, die von existierenden Vorbildern inspiriert wurden. Hadrian liess es sich auch nicht nehmen, die meisten der Gebäude selber zu entwerfen. Mir gefällt seine Vorliebe für ungewöhnliche Grundrisse: lange Ovale, komplett rund, mehreckig, und oft mit sehr hohen Kuppeln. Was ich nicht wusste: auch die Engelsburg in Rom ist ein Entwurf von ihm. Sie war ursprünglich sein Mausoleum und wurde erst in späteren Jahrhunderten umgebaut. (Und wer meint, er war ein bisschen grössenwahnsinnig, sollte dran denken, dass Hadrian gern in Ägypten unterwegs war und die Pyramiden kannte. So werden halt Herrscher beerdigt.) Das „Teatro Marittimo“ ist so ein netter exzentrischer Ort. Rund, mit einer Insel in der Mitte, die von Wasser umgeben ist und nur über Zugbrücken erreicht werden kann. Hierhin zog er sich zum Lesen und Nachdenken zurück.

Hier wie in allen anderen zahlreichen künstlichen Seen und Wasserflächen schwammen Schildkröten, die träge unter Wasser paddelten oder ihre Köpfchen kurz mal nach oben streckten. Das fand ich einerseits richtig nett, weil ich noch nie so viele Schildkröten gesehen habe – andererseits hat ihre Anwesenheit eine gewisse tragische Komponente, die alles mit Melancholie erfüllen könnte. Hadrians junger Geliebter, der von herausragender Schönheit gewesen sein muss, ertrank auf einer der Reisen beim Schwimmen im Nil. Zum Andenken an ihn gestaltete Hadrian das sogenannte Canopo, der Fleck der Villa, der mir am besten gefallen hat: unglaublich malerisch und ausgewogen und perfekt. Ein sehr langes, ovales Becken (mit noch mehr Schildkröten und einer Krokodilsstatue) soll an den Nil erinnern, am einen Ende ist eine Nachbildung eines Serapis – Heiligtums, in dem regelmässig abendliche Parties stattfanden (angeblich mit geheiztem Sand, damit man sich wirklich wie in Ägypten fühlt – ein Gedanke, den ich bei 38 Grad schnell von mir schiebe…), und am anderen die meistfotographierte Ansicht der Villa, ideale Statuen in Bogengängen, die sich im grünen Wasser spiegeln. Ich könnte mir vorstellen, dass Viktor Hehn, diese Stelle meinte, als er das mit den malerischen Ruinen schrieb… Eine Steigerung ist kaum noch möglich.

Vom Inn an die Bandusia: Villa d’Orazio

Einer der Orte, an den ich mich schon lange gesehnt habe und den man ohne Auto wirklich nicht erreicht, war das Landgut von Horaz in den Sabiner Bergen. Maecenas schenkte ihm das Anwesen. Horaz schenkte Maecenas in den folgenden Jahren eine Fülle an Oden. Das waren noch Zeiten, für beide Seiten! Horaz genoss seine Aufenthalte in den waldreichen Bergen, wie viele seiner Gedichte belegen. Überhaupt schien er regelmässig Abstand von der Grosstadt zu brauchen – vor seinem Sabinum, wie er das Gut nannte, hatte er schon eine Villa in Tivoli, deren Standort heute aber unklar ist. Die erhaltenen Ruinen der Villa bei Licenza sind aber eindeutig seine Villa, und es war für mich mehr als magisch, tatsächlich dort zu sein.

Auch wenn es streberhaft klingt, aber: ich mochte Horaz schon in der Schule. Einmal wegen des wunderbaren Rhythmus seiner Gedichte, und dann wegen der greifbaren, nachvollziehbaren und lebensnahen Themen. Damals wie heute fühle ich mit ihm, wenn ihm ein aufdringlicher Schwätzer einen Spaziergang verdirbt. Mir gefällt, dass er sich dann und wann in die Natur zurückziehen muss, um wieder aufzutanken, in Ruhe den Kreislauf der Jahreszeiten betrachtet und einfach den Augenblick geniesst. Dass er dann aber auch wieder die grosse Stadt braucht und ein Gelage mit Maecenas und Vergil persönlich, bei dem die neuesten Werke vorgelesen werden (wenn ich mir das vorstelle, kriege ich Gänsehaut!).

Der Vater von Horaz war ein freigelassener Sklave, der wusste, dass Bildung die einzige Chance für seinen Sohn wäre, im Leben weiterzukommen. Er tat alles dafür, um dem Jungen eine gute Schulbildung in Rom zu ermöglichen. Danach studierte Horaz in Athen und kam mit der Lehre der Stoiker und Epikurs in Berührung. Das lebensbejahende, genussvolle Auskosten des einzelnen Augenblicks, das ganz im Jetzt – Sein, ist eine Konstante in seinen Gedichten. Von ihm stammt auch der berühmte Rat „Carpe diem“, ebenfalls beeinflusst von Epikur. Und er betont immer wieder, dass derjenige glücklich ist, der zufrieden ist mit dem, was er hat, statt immer noch nach mehr zu streben.

Horaz ist und bleibt einer meiner liebsten Begleiter im Leben, und es ist immer was besonderes, tatsächlich an den Ort zu pilgern, an dem der verehrte Mensch gelebt und geschrieben hat. Eine Mischung aus Ehrfurcht und zappeliger Vorfreude begleitete mich, als ich das Autole die Serpentinen von Vicovaro Richtung Licenza entlangsteuerte, immer höher hinauf in die bewaldeten Berge. Kurz vor Licenza das verheissungsvolle braune Schild, das in Italien archäologische Denkmale ankündigt, und ich bog auf eine schattige, baumbestandene gepflasterte Strasse, die in noch mehr sanften Kurven weiter nach oben führte. Dunkel, geheimnisvoll, umgeben von Grün – und so viel gepflegter, als ich erwartet hatte. Die übliche Zufahrt zu den obskureren Denkmälern in Latium ist oft eine staubige, schlaglochübersäte Schotterstrasse in wenig vertrauenerweckenden Gegenden, und meistens fährt man am Ziel vorbei, weil man gar nicht erkennt, dass da was sein soll. Horaz hat, wie es eines Dichterfürsten würdig ist, eine stilvolle Auffahrt und einen netten kleinen Parkplatz. Und dann – ist man erst mal baff und begeistert, wie gepflegt die Anlage ist. Das ganze grosse Grundstück ist umgeben von einem hochwertigem grünen Zaun. Nachdem die Italiener manchmal erstaunlich sorglos mit ihrem kulturellen Erbe umgehen, hatte ich erwartet, dass die Ruinen halt im Wald sich selbst überlassen sind und es ohnehin niemand interessiert. Aber wenn man die Mosaike gesehen hat, ist man nur froh, dass der Zaun Wildschweinchen abhält, da nachts drüberzutrappeln.

Gelbes, trockenes Gras, eine dicke Schicht an verdorrten Piniennadeln, die beim Drauftreten einen herrlichen harzigen Geruch ausatmeten, kleine Lärchenzapfen auf dem Boden, gelbe, vertrocknete Eichenblätter, scheinbar endlos sich erstreckende Grundmäuerchen, Treppen und tiefer liegende Reste von Gebäuden (wie war das noch mal mit dem bescheidenen Landgut?!), und kein Mensch ausser uns. Und wir waren vor Ehrfurcht und wegen der Magie, die dieser verlassene, vergangene Ort ausstrahlte, sprach – und atemlos. Gingen vorsichtig übers Gelände, stiegen über die Mäuerchen, schauten ungläubig die schwarz – weissen Mosaike an, die da einfach seit 2000 Jahren unter freiem Himmel liegen. Hatten das Gefühl, völlig allein zu sein auf diesem besonderen Ausflug in die Antike. Bis auf einmal am anderen Ende des Geländes ein untersetztes, rundliches Männchen auftauchte, der mit einem riesigen Buch auf uns zuwatschelte. Das dauerte, und während er näher kam, öffnete er den Band, trug ihn auf zwei Händen wie ein Messdiener die Heilige Schrift, hielt ihn uns feierlich hin und bat uns, uns ins Gästebuch einzutragen. Wie süss. Er trug ein weisses Poloshirt mit dem offiziellem Aufdruck irgendeiner archäologischen Vereinigung und sagte, dass es für sie sehr wichtig sei, einen Überblick über die Besucherzahlen zu bekommen. (Und man muss sagen: sie drängen sich nicht grade, die Besucher… Wir waren die ersten seit neun Tagen. Und auch davor war es eher übersichtlich…) Anscheinend gehört sein ganzes Herzblut der Anlage. Er liess es sich nicht nehmen, uns in einer kleinen Führung das Mosaik im Schlafzimmer von Horaz zu zeigen, die Therme mit ihren verschiedenen Becken, und das Fischbecken. Er beschrieb uns auch den Weg zur in Gedichten unsterblich gewordenen Bandusia – Quelle und watschelte dann betriebsam wieder davon. Und wir hatten das Gelände wieder ganz für uns. Ich hob ein paar gelbe, gezackte Blätter auf und einige Lärchenzapfen, die jetzt vor mir liegen, und wusste schon in dem Moment: das sind ganz besondere Andenken. Ich werde mich ewig an diesen friedlichen, abgelegenen Ort in den Bergen zurücksehnen.

Auf dem Hinweg waren wir von Tivoli und Vicovaro gekommen, voll durch die Zivilisation (Obi Tivoli, Ford Tivoli, Werbung für Komplettbegräbnis (950.-), und Zahnkronen (450.-) am Strassenrand). Jetzt dachten wir, wir fahren durch das Naturschutzgebiet da auf der Landkarte Richtung Orvinio. Könnte ja ganz nett sein. Die folgende halbe Stunde wurde unversehens eine der spektakulär schönsten Autofahrten der Reise: keine Ortschaft weit und breit, aber dunkelgrün bewaldete Hügel ohne Ende. Dunkles Grün, so weit das Auge reichte. Das ist für mich die Farbe und Essenz von Latium. Und es war so verdammt einsam – die ganze Zeit kam uns nicht mal ein Auto entgegen, und wir sagten uns, dass es in Kanada ähnlich sein müsste. Zu Zeiten von Horaz gab es hier Wölfe und Bären, und wenn man die Einsamkeit und Abgeschiedenheit des Landstrichs erlebt hat, glaubt man, dass das heute noch der Fall sein könnte. Ich trage die unglaublich schönen Aussichten immer noch im Herzen und bin froh über den spontanen Umweg.

Vom Inn an den Tiber: Bewahren

Andere Menschen versuchen nach dem Urlaub, ihre Sonnenbräune möglichst lange zu erhalten. Mein Vorsatz für diese Wochen: möglichst viel vom Freiheitsgefühl dieser wunderbaren zwei Wochen in Rom zu bewahren und in den Alltag hinüber zu retten. Denn man merkt erst, wie durchorganisiert, vollgestopft und anstrengend der eigene Alltag ist, wenn im Urlaub alles von einem abfällt und man mit diesem köstlichen neuen Gefühl erst mal gar nichts anfangen kann.

Aber wir haben es wieder gelernt, keine Sorge. Sehr viel dazu beigetragen hat, dass wir die ganzen sechzehn Tage ohne Internet und Telephon waren. Wir haben es keine Sekunde vermisst, im Gegenteil, wir wurden immer nostalgischer und haben oft zueinander gesagt: „das ist ja wie früher, einfach Bücher lesen auf der Terrasse…“. Aber ich habe festgestellt, wie ungesund ich normalerweise meine Tage beginne: meistens, weil die Zeit drängt und ich es irgendwann eh machen muss, mit eingeschaltetem Computer und den ersten Mails. In unserem wunderschönen Ferienhaus bin ich mit meinem ersten Kaffee im Nachthemd raus in den Garten und hab direkt vom übervollen Feigenbaum ein paar sonnenwarme Früchte gegessen, während ich den Eidechsen auf den Steinen zuschaute und sonst – überhaupt nichts tat. Oder das Kochen: zuhause passiert das oft in so einem multi-taskenden Zustand, dass ich danach erledigt und fertig bin und gar keinen Hunger mehr habe. In unserem Ferienhäuschen dreissig Kilometer östlich von Rom wurde es ein entspannendes Abendritual. Das Häuschen gehört einer offensichtlich gern kochenden Australierin, denn die hübsche, grosse Küche war perfekt ausgestattet (fast besser als meine eigene!), bis hin zu einem Meter Kochbüchern im Regal und sieben grossen Terracottatöpfen mit Kräutern im schattigen Innenhof. Ich goss sie jeden zweiten Morgen, langsam, liebevoll, aufmerksam – so ganz anders als meine Töpfe zuhause – und erlaubte mir deshalb, ein paar Zweige zum Kochen zu ernten. Die Feigen, Nektarinen und Trauben im Garten waren ausdrücklich im Preis inbegriffen – herrlich, oder? Von der Wohnküche ging es direkt auf die grosse West – Terrasse, und während ich entspannt kochte, ging ich mal zum lesenden Gatten auf die Terrasse, um ein paar Oliven und einen Schluck Wein zu mir zu nehmen, oder eben in den Innenhof zu den Kräutern, und alles langsam und genussvoll und ungehetzt. Nach dem Essen lasen wir in der samtigen, warmen Nacht mit Hilfe einer Stehlampe aus dem Haus noch lange auf der Terrasse. Und ich guckte auch oft einfach nur vor mich hin, auf die glitzernden Lichterketten der Städtchen auf den Albaner Bergen gegenüber, auf den jeden Tag runder werdender Mond, oder den erhellten Himmel über Rom. Das war Entschleunigung pur.

Und dieses frei und sorglos und einfach nur man selber sein… Das will ich auch noch etwas länger spüren. Italien mit dem eigenen Auto war absolut wundervoll. Wir sind ja bisher immer ethisch und politisch korrekt mit Zug und Bus gereist. Wie anstrengend und langatmig das ist, merkt man erst, wenn man eben anders reist. Ich sag nur: fermata a richiesta – Bedarfshaltestelle. Anders als bei gewissen Statuen macht es mir bei den blauen CoTral – Bussen, die in Latium verkehren, wenig Spass, die Rückansicht zu betrachten… Die flexible, kreative Fahrweise der Italiener kommt mir sehr entgegen. Wegen der Hitze hatten wir immer alle vier Fenster offen, was zum roadmovie-artigen Freiheitsgefühl beitrug: gebräunte Unterarme, ein bad-hair-day nach dem anderen, aber egal. Wenn ich für irgendwelche Ruinen ansehnlich aussehen wollte, stülpte ich mir den Sonnenhut auf die Haare und fertig.

Trotzdem war ich froh, dass ich, als wir die Verwandten in Rom besuchten, nicht als Räuberbraut ankam. Es ist mir tatsächlich schwer gefallen, mich nach dieser ersten Woche in Freiheit und nach ganz eigenen Regeln etwas zu zivilisieren, die Haare zu waschen und das nettere Kleidchen anzuziehen. Aber es war gut so: die Cousins des Gatten kamen, wie andere Römer auch, abends in Anzug und mit eleganten Schnürschuhen aus der Arbeit – bei 36 Grad wohlgemerkt. Und sie blieben auch so. Aber innerlich flatterten meine Haare noch, und wir hatten viel Spass. (Über die Verwandtschaft könnte man mehrere Artikel schreiben. Nur ganz kurz: es ist so, wie man es sich vorstellt, und ich habe noch nie so viele Papst – Kühlschrankmagneten an einem Kühlschrank gesehen.)

Wir sind bewusst mit dem Auto gefahren, weil wir nach mehreren Aufenthalten in der Innenstadt die Umgebung von Rom anschauen wollten. Die ganzen Juwelen, die man mit Öffentlichen kaum oder gar nicht erreicht. Und wenn man tagelang so durch römische Ruinen stakst oder in schattigen Etruskergräbern steht, kristallisiert sich noch eine andere Einsicht heraus: unser Leben ist so kurz. Wir sind so unbedeutend und nur so vorübergehend auf dieser Welt – warum eigentlich der ganze Stress? Wenn man in Jahrtausenden denkt, sind die eigenen Befindlichkeitsstörungen und Zukunftssorgen so was von nebensächlich. Wir gehören nicht zu den glücklichen Auserwählten, die der Welt grossartige Kunstwerke hinterlassen. Ich bin nun mal kein Hadrian und kein Beethoven. Ich kann sehr geniessen, was sie geschaffen haben – aber man könnte dieses ganze Rudern und Strampeln und Stressmachen einfach mal aufhören. Nicht jeder muss einer Epoche seinen Stempel aufdrücken. Vielleicht ist der Sinn des Lebens für uns normal Sterbliche, einfach nur – zu sein? Einfach da sein, Gutes tun, so weit wir können, sich um andere kümmern und so, aber einfach auch mal nur in der Sonne zu sitzen wie eine Eidechse. Ohne sich zu fragen, was heute abend und morgen und nächstes Jahr ist. Das ist der Plan für dieses Schuljahr.

Vom Inn an die Seine: Seerosen

Gedanken beim Betrachten des eigenen Seerosenteichs: „Wie grässlich das Wasser aussieht, so schlimm war es noch nie. Es sollte wirklich mal wieder regnen. Wahrscheinlich kippt der Teich eh vorher um. Und diese Seerosen breiten sich aus wir Unkraut – ich muss das gleich mal dezimieren. (Mit einem Arm voll tropfender Seerosen, einem nassen T – Shirt  und Schlick auf den Unterarmen) Oh nein, schon wieder ein toter Fisch, bei lebendigem Leib halb abgefressen und liegengelassen – die Ringelnatter war wieder hier. Der arme Fisch. (Seerosen wegschleppen, Hose wird auch nass. Zurück, Fisch rausfischen, unten im Garten beerdigen. Wieder hoch, Schweiss von der Stirn wischen mit der Rückseite der Hand.) Mensch, dieser blöde Teich. Wir sollten ihn zuschütten.“

Gedanken beim Betrachten von Monet’s Seerosen in der Orangerie: „Dieses Blau. Diese Ruhe und kühle Stille. Dieses endlose Blau, egal wo hin ich mich drehe. Ich habe das Gefühl, ich befinde mich mitten im Teich, und um mich herum ist alles wunderbar und kühl und beruhigend. Ich entspanne mich mit jeder Sekunde, die ich die endlos breiten Bilder anschaue. Diese ovale Endlosigkeit, die gewölbten Oberflächen – es ist wie Schwimmen in hunderten von wunderschönen Blautönen. Ich fühle mich erfrischt und geläutert und so viel besser als zuvor.“

Selten waren neun Euro so gut investiert wie für die Eintrittskarte dieses Museums, weil es einen wieder erkennen lässt, was theoretisch schön sein kann an Gartenteichen und Seerosen und Wasserwelten. Der grösste Gegensatz zum eigenen Garten ist die Perspektive, aus der man die unendliche blaue Fläche betrachtet: nicht wie zuhause von oben und mit einem gnadenlosen Blick auf alles, was grade schiefläuft im Teichleben, sondern als ob man selber wie eine Seerosenblüte auf der Teichoberfläche schwimmt und praktisch umhüllt ist von Wasser und Reflexen des Himmels. Auch die hängenden Weiden am Ufer sieht man aus der Froschperspektive. Es ist das ultimative Eintauchen ins Blau.

Monet hat in seinen letzten Lebensjahren diesen Ausstellungsraum selbst konzipiert. Für die zwei langgezogenen ovalen Räumen, die von oben betrachtet fast eine liegende Acht ergeben und damit irgendwie das Zeichen für Unendlichkeit, hat er 170 laufende Meter Leinwand mit Wasser und Seerosen bemalt. Alles ist leicht nach innen gewölbt. Wegen des genialen Zusammenklangs von Raum und Bild aus der Hand eines einzelnen Künstlers wird die Orangerie auch die „sixtinische Kapelle des Impressionismus“ genannt. Monet schenkte die gesamte Installation dem französischen Staat kurz nach dem ersten Weltkrieg und wollte bewusst einen Ort der Ruhe und der inneren Einkehr schaffen für Menschen, die nach den Schrecken des Krieges inneren Frieden suchen.

Die Orangerie ist nach wie vor Balsam für die Seele, auch, weil es eines der weniger besuchten Museen von Paris zu sein scheint. Es gab wirklich Momente, in denen man eine komplette lange Seite der Räume ganz für sich hatte und die Gemälde in ihrer ganzen Pracht auf sich wirken lassen konnte – was man vom Louvre nicht unbedingt behaupten kann. Und die paar Leute, die hier waren, kamen offensichtlich wegen der Bilder und waren leise und dezent. Deshalb konnte diese herrliche Symphonie in Blau auch ihren besonderen Zauber auf mich ausüben: von der ersten Sekunde an fingen die Bilder für mich an zu singen und zu klingen. Es klingt esoterisch, aber selten hat es mich so überfallen. Wahrscheinlich auch, weil man so komplett umgeben ist von ihnen und diese zarten, schwebenden und schwimmenden Farben sehr starke Assoziationen an alle möglichen eigenen Wasserbegegnungen auslösen: beim Schwimmen, an kleinen Wasserfällen, beim Sitzen auf einem Steg, beim Eintauchen der Giesskanne ins Wasserbecken, natürlich immer wieder Fetzen von Debussy’s „Reflets dans l’eau“ – ich war ziemlich überrumpelt. Es gibt ja Bilder, die einen ausgeprägten Rhythmus haben und einen in ihre eigenen Bewegung reinziehen. Oder andere, die komplett sinnlich auf einen wirken und den Geruch der abgebildeten Pfirsiche oder Pfingstrosen zu verströmen scheinen. Hier wurde ich überrollt von Geräuschen und Klängen wie selten und fühlte mich wie untergetaucht in meinem Lieblingselement – ohne einen echten, greifbaren Tropfen Wasser in Sicht, erstaunlicherweise (die Tuilerien draussen waren sogar extrem staubig, und unsere Schuhe auch entsprechend. Weil wir die Räder hatten schieben müssen im Park…)

Und ein Stockwerk tiefer: eine Art kleiner, feiner Ableger des Musée d’Orsay mit Werken von Renoir bis Matisse und Picasso. Wirklich eine ganz feine, hochwertige Auswahl, und viel machbarer und erlebbarer als die unendlich vielen Bilder im Orsay. Die Fülle dort ist zwar wunderbar und es gibt kaum einen schöneren Ort auf der Welt – aber es erschlägt einen auch, wenn man nicht aufpasst. Hier waren wir nur eine Stunde, hatten aber viele nette Begegnungen. Ich hatte keine Ahnung, dass so viele Renoirs hier hängen. Er ist nicht grade mein Liebling, aber wegen der Francaix – Stücke für den Kinderklaviersommer sind wir grade umgeben von seinen Kinderporträts und es war besonders nett, ein dralles, kleines Persönchen wiederzutreffen, das grade als Leihgabe über den Sommer aus Tokyo da ist. Und dann natürlich diese Schwestern, die man als klavierspielender Mensch hundertfach auf Noten, Büchern, in Biographien gesehen hat. Sie wohnen hier, praktisch, und können immer dort besucht werden. Ich war nicht drauf vorbereitet, sie zu sehen, aber durch ihre Popularität sind sie einem ganz seltsam vertraut. Und wenn ich so Mädchen am Klavier sehe, muss ich mich zusammenreissen, um nicht ins Bild zu steigen und mich daneben zu setzen: „Und, wie war der neue Fingersatz im Chopin, läuft’s jetzt besser?“ (Und ich bin sicher, die Antwort war auch 1897: „Der Fingersatz ist sicher gut, aber… ich konnte nicht üben, weil wir mit Mama zu so vielen Anproben mussten wegen Christines Debüt, und am Samstag war ich den ganzen Tag im Bois de Boulogne, weil das Wetter so schön war, und Sonntag war Gesellschaft bei Grandmère, und Sie wissen, wie übel sie es nimmt, wenn man gleich wieder geht…“ „Yvonne sollte ihren Mozart spielen und es war voll schlecht.“ „War es gar nicht!“ „Doch, du bist immer langsamer geworden bei den Läufen. Ich fand’s total peinlich.“ „Du blöde…“ Garantiert.)

Vom Inn an die Seine: Tour de France mit Törtchenpause

„Also, ich beschreib dir jetzt ganz genau die Schuhe, nach denen ich suche“, beginnt meine Freundin im ICE nach Paris, während sie den Konditorei – Führer und ein kleines Wörterbuch für kulinarische Gelegenheiten auf das Tischchen legt. Und ich merke, wie ich innerlich und äusserlich zu strahlen beginne und mich völlig entspanne. Denn so eine Freundin ist genau das, was ich brauche, und ich bin glücklich, wie nahtlos wir an unsere früheren Genussreisen anknüpfen, obwohl fünfzehn Jahre vergangen sind. Seither sind wir durch die diversen Höhen und Tiefen des Lebens gegangen, gemeinsam und jede für sich. Heirat, Hauskauf, Kinder bei ihr, kranke Eltern, Beerdigungen der Eltern, mehr eingebunden als jemals im Beruf – und trotzdem gelingt es uns, all das mit Tempo 300 hinter uns zu lassen und mit einer Entschlossenheit, die eines Napoleons würdig wäre, auf dem Stadtplan zu schauen, wo wir wann was geniessen – seien es Monet’s Seerosen, ein Ballettabend in der Opéra Garnier oder sündhafte Macarons.

Denn, bei allen genussvollen Vergnügungen: der Kulturgenuss kam nie zu kurz und ich habe mit ihr schon die allerschönsten Museen und Ruinen gesehen. Aber die Balance hat immer gestimmt. Die Besichtigungen wurden immer kombiniert mit einem Markt- und/ oder Café – Besuch, und vielleicht habe ich unsere Urlaube deshalb in so guter Erinnerung. Wenn man mich allein loslässt, passiert es regelmässig, dass mein Besichtigungsprogramm zu ernsthaft und zu ausufernd wird und ich irgendwann fast Kopfweh kriege. Wenn meine Freundin dabei ist, habe ich das Gefühl, dass sie mich wie einen Luftballon an der Schnur festhält und durch ihren Blick für irdischere Vergnügungen verhindert, dass ich komplett abhebe und davonfliege. Ich habe zum Beispiel bis letzte Woche nicht gewusst, dass es Schuhläden in Paris gibt. Irgendwie habe ich es schon angenommen – man muss ja was an den Füssen haben. Aber damit war mein Interesse erschöpft. Jetzt war ich sogar in einem! Und, damit hier kein falscher Eindruck entsteht: meine Freundin interessiert sich für viel mehr als Schuhe und Törtchen. Sie hatte ihre halbe Paris – Bibliothek dabei, ungefähr zehn Bücher, darunter Hemingway und Julian Green, die ich beide nicht kannte. In unserem Hotelzimmer waren vier gefüllte Bücherregale mit Büchern, die man auch mitnehmen durfte, ebenso wie man eigene für andere Gäste hierlassen konnte. Nachdem sie ihre Bücher auf dem Bett ausgebreitet hatte, musste ich grinsen: ausnahmsweise hatte ich nur ein Buch dabei (ein sehr nettes mit Paris – Spaziergängen, das sie mir zu Weihnachten geschenkt hat), aber ich würde nicht darben müssen.

Unser schnuckeliges, kleines Hotel du Nord bot nicht nur jeden Morgen eine stilvoll präsentierte Auswahl von drei hausgemachten Marmeladen zum Croissant – auf diese Art haben wir neun verschiedene Marmeladen gegessen in Paris! – , sondern auch kostenlose Fahrräder für die Gäste. Erst war ich skeptisch, weil ich noch nie in einer grossen Stadt Rad gefahren bin, aber es erwies sich als der allergrösste Spass überhaupt. Die erste Viertelstunde war aufregend, weil wir keine Sekunde warten wollten und uns sofort nach dem Einchecken mitten in den Feierabendverkehr stürzten. Das war die Feuerprobe, sozusagen. Ab dann wurde es besser. Und wir waren ein gutes Team: sie kennt die Verkehrsregeln, ich hab die Orientierung. Und als wir uns zur Seine durchgeschlängelt hatten, wurde es direkt entspannend, am Fluss zu fahren. Aber auch der Innenstadtverkehr ist weniger schlimm, als es aussieht: die grossen Boulevards, die einen schnurgerade und einfach in ein anderes Viertel bringen, sind sechspurig. Die mittleren vier Spuren sind für Autos, die jeweils äusseren beiden für Bus, Taxi und Radfahrer. Wenn man das Glück hat, sich an ein Taxi Parisien dranzuhängen und grüne Welle hat, läuft alles wunderbar und flott. Manchmal war es natürlich dichter, aber nie wirklich unangenehm. Aber Freitag mittag, als ich dachte, jetzt ist alles wunderbar und ich hab mich echt dran  gewöhnt, sagt die Freundin an einer roten Ampel: „Mensch, ist schon ein bisschen wie auf der Autobahn Radfahren…“ Trotzdem würde ich es jedem empfehlen. Man sieht so viel mehr, als wenn man in dieser riesigen Stadt zu Fuss geht (Und noch was: es gibt Schuhläden in Paris, aber keine Fahrradhelme. Überhaupt gar nicht. Also nicht etwa was extra einpacken!). Und davon abgesehen, ist es unvergleichlich, an einem milden, hellen Juniabend an der Seine entlang zu radeln. Und auf der anderen Seite wieder zurück, und noch kurz einen Abstecher zu „Shakespeare and Company“ zu machen und die Räder ganz cool an einen Zaun anzuschliessen. So als würden wir hier immer wieder mal vorbeikommen… Und noch unvergleichlicher und ultraromantisch ist es, dank der absurden Nachtöffnungszeiten des Ladens um halb elf abends rauszukommen, über die Brücke bei Notre Dame zu fahren und den Himmel im Westen in einem ungewohnt späten Abendrot gold und orange aufleuchten zu sehen. Ich musste drei Mal hinschauen, um alles zu kapieren: dass ich wirklich in Paris war und die Seine im Abendlicht vor mir glitzerte. Die Zugfahrt war wie im Flug vergangen, und irgendwie braucht man Zeit, um wirklich nachzukommen und anzukommen. Ganz kapiert hatte ich es in dem Moment auch noch nicht, denn der Anblick war viel zu zauberhaft, um wahr zu sein – aber so langsam sickerte es in mein Bewusstsein, dass ich tatsächlich in der Stadt meiner Träume angekommen war.

Vom Inn an die Seine: Shakespeare and Company

DSCF9336Irgendwann kommt jedes Jahr unweigerlich der Tag, an dem man morgens nicht als erstes alle Fenster und Terrassentüren aufreisst, sondern in der Kommode nach wärmeren Strickjacken sucht. Barfuss frühstücken ist ganz plötzlich nicht mehr attraktiv, und auch wenn es einen jedes Jahr wieder überrascht: es liegt mehr als ein Hauch von Herbst in der Luft.  Schnell noch ein Artikel über Paris, bevor die Erinnerung an Temperaturen über 30 Grad, staubige Sandalen und eine Woche voller Sommerkleider ganz verblasst! Aber ich erinnere mich darin an einen Ort, an den man sich auch gut bei Herbstwetter hineinträumen kann. Eher als in Parks, Strassencafés, Uferpromenaden: ein altmodischer, hoffnungslos vollgestopfter kleiner Buchladen schräg gegenüber von Notre Dame auf der anderen Seite der Seine…

tumblr_nbdeyhDN641tl7ri2o1_1280Das legendäre „Shakespeare & Company“ wurde 1919 von der Amerikanerin Sylvia Beach gegründet. Die englischsprachige Buchhandlung wurde schnell zum Treffpunkt der literarischen Szene. Wer in den Zwanzigerjahren mit Literatur zu tun hatte, ging dort aus und ein – unter anderem Gertrude Stein, T. S. Eliot, Ernest Hemingway und James Joyce. Nach dem Krieg und einem Besitzerwechsel  – George Whitman war der gleichermassen charismatische Nachfolger – zog der Laden in die Rue de la bucherie 37, wo er sich heute noch befindet. Das windschiefe, schmale Häuschen war im 16. Jahrhundert Teil eines Klosters. Die Atmosphäre, die er ausstrahlt, ist allerdings zeitlos: weder Zwanzigerjahre noch Dickens, an den man unweigerlich denkt, wenn man sich den Weg durch die verwinkelten winzigen Zimmerchen bahnt. Es ist mehr wie eine Märchenhöhle mit Regalen bis an die Decke. Wie der wahrgewordene Traum eines Buchliebhabers, der allen Gesetzen der Physik zu trotzen scheint. Alles ist so alt, schief und verwinkelt, dass man Angst hat, die ganze Statik würde zusammenbrechen, wenn man ein bestimmtes Buch aus dem Regal zieht. Auch Kittywenn man es erst nicht glaubt: es gibt eine Systematik hier, und man kann sich wirklich zurechtfinden. Was wie Chaos und irgendwo-Hingestellt ausssieht, ist mit Bedacht und Liebe eingeräumt und garniert mit kleinen handgeschriebenen Schildchen, Postkarten, kleinen Gemälden, Fotos von Dichterlesungen und anderen Erinnerungen. Deshalb entsteht schon unten der Eindruck, man sei in einem privaten Wohnzimmer. Hat man die enge, gewundene Treppe in den ersten Stock erklommen, ist man tatsächlich in einem Wohnzimmer: im Flur befindet sich passenderweise die Lyrikabteilung mit verkäuflichen Büchern. Der übrigen gefühlten hundert Regalmeter in den diversen kleinen Zimmerchen beherbergen antiquarische Bücher, die man vor Ort lesen, aber nicht kaufen kann. Unzählige alte Sofas, Liegen und Sessel laden zum Verweilen ein, ebenso diverse Schreibtische mit alten wackeligen Stühlen und prähistorisch anmutenden Schreibmaschinen (einer mit Blick aus dem geöffneten Fenster auf die Türme von Notre Dame – ich war sprachlos!). Überall laden Zettelchen ein, zu bleiben und zu lesen oder auf dem Klavier in einem weiteren höhlenartigen Zimmerchen zu spielen – aber mit Rücksicht auf andere Versunkene keine Fotos zu machen. Und das wird erstaunlicherweise akzeptiert. Der gute Geist einer anderen Zeit kommt selbst gegen die jetzige Selfie-Manie an. Es würde sich aber auch als seltsamer Einbruch in die Privatsphäre von Lesenden anfühlen. Ein paar der Gestalten, die völlig abwesend auf den Sofas lasen und scheinbar zum Inventar gehörten, sahen aus, als würden sie buchstäblich seit den Siebzigerjahren hier campieren… Wie wunderbar.

Shakespeare & Company abendsDa es in Frankreich kein Ladenschlussgesetz gibt, hat die wundersame Bücherhöhle jeden Tag bis 23 Uhr auf. Wirklich ein Ort, an dem man sich verlieren kann, und eine ganz besondere Erfahrung. Es ist definitv einer der schönsten Buchläden, die ich kenne. Bisher war der Persephone Bookstore in London mein Favorit, aber er ist so völlig das Gegenteil: auch klein, aber hell, übersichtlich und sauber. Und nicht zum endlosen Verweilen gedacht (weiss gar nicht, ob es überhaupt eine Sitzgelegenheit gab?). Man wird unglaublich freundlich und höflich beraten, trifft seine Auswahl der verlagseigenen Bücher in elegantem Grau und nimmt quasi ein Stück dieser aufgeräumten Atmosphäre mit nach Hause. Die Höhle in Paris hingegen: also ich weiss nicht, wann die Sofaüberwürfe  das letzte Mal gewaschen worden sind. Und ob überhaupt. Bei Persephone gibt es gelegentliche Tea Parties oder manchmal sogar Lesungen mit einem verwegenenen Glas Madeira. Von George Whitman gibt es die Anekdote, dass er in seinem Laden Maria Callas Rotwein aus einer ausgespülten Thunfischdose anbot und sie, nachdem sie abgelehnt hatte, als „bourgeois“ bezeichnete. „Shakespeare & Company“ ist vielleicht eine nicht bourgeoise Erfahrung, aber manchmal ist man ja genau in der Laune für so was. Sollte ich mal allein in Paris sein, werde ich da einziehen!

(Fotos ausser dem ersten: Webseite des Buchladens)

Vom Inn an die Seine: ein Einhorn!

DSCF9394Als uns der Zug auf der Heimfahrt mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit durch die endlos weite spätsommerliche Landschaft Frankreichs trug, fragte ich mich, was mich am meisten beeindruckt hat in Paris. Weswegen ich auf jeden Fall noch mal wiederkommen wollte. Aber es war zu früh. In meinem Kopf wirbelte das reinste Kaleidoskop an herrlichen Eindrücken, Gerüchen und Farben: der Chorraum der Sainte Chappelle, die aus Licht und Farbe zu bestehen scheint. Die majestätischen Kastanien am Canal Saint Martin. Die wunderhübsche Bahnhofsuhr im Gare de l’Est, die ich grade noch im Nachmittagslicht photographiert hatte. Die Winterlandschaften der Impressionisten im Musee d’Orsay, vor denen man den Schnee direkt riechen konnte und wirklich Gänsehaut vor Kälte kriegte. Oder Monets Mohnblumenfeld: ich spürte das Getreide an meinen nackten Beinen kitzeln, so eindrucksvoll hat er den Sommertag eingefangen.

DSCF9275Jetzt ist der Staub der Tuilerien von den Sandalen gebürstet (den Satz wollte ich schon immer mal schreiben!) und die Reisetasche ausgepackt. Und ich merke, wie immer klarer wird, was mich ganz sehr beeindruckt und berührt hat: die wunderschöne Dame mit dem Einhorn im Musée de Cluny. Wahrscheinlich auch, weil die Stadt und die meisten Sehenswürdigkeiten sehr quirlig und belebt sein kann. Manchmal ist es nett und genau richtig, wie eben abends in einem Strassencafé am Canal St. Martin. Manchmal geht es einem furchtbar auf den Geist wie im Louvre – der Mona – Lisa -Saal kündigt sich schon weitem durch eine erhöhte Geräuschkulisse an, die sich noch steigert, wenn man ihn betritt. Und was sieht man? Ganze Trauben von Menschen, die sich möglichst nah an die Absperrung drängen – aber alle mit dem Rücken zum Bild. Man braucht ein bisschen, um diese neue Zeiterscheinung zu kapieren: die Massen waren nicht etwa begeistert vom Veronese gegenüber, sondern degradierten Mona Lisa zur Kulisse ihrer Selfies. Flüchtige, nichtssagende Beweise ihres Besuchs – wozu? Reicht es nicht mehr, zu sagen, dass man in Paris war? (Und nur am Rande – die anderen da Vincis im nächsten Raum fristeten ein Schattendasein. Waren überhaupt nicht selfie – würdig. Und komplett einsam, wirklich von aller Welt verlassen, hingen die beiden unendlich kostbaren Vermeer – Gemälde im anderen Stockwerk. An einem Sommernachmittag um fünf kann man völlig allein mit ihnen sein, nicht mal ein Wärter war in Sicht.)

P1090070Im Musée de Cluny, der ehemaligen römischen Therme, herrscht eine komplett andere Atmosphäre. Kurz vor der Reise sprach ich mit einer Französischlehrerin über das, was ich sehen wollte, und zu jedem Punkt sagte sie: ooooh, da ist es voll, da sollten Sie Karten vorher besorgen. Und da auch. Und dort besonders. Und das Einhorn? Endlich kein besorgter Gesichtausdruck mehr, sondern aufrichtige Freude, dass sie mir eine gute Nachricht geben kann: „Da? Da ist keiner!“ Und sie hatte recht! Also nicht ganz keiner, aber doch verschwindend wenige Besucher und deswegen auch eine ganz ruhige, fast andächtige Atmosphäre. Man wird auch durch die geschickte Präsentation in die richtige Stimmung gebracht: man betritt einen dunklen, schwarz verhangenen Gang aus Stoff, auf den u.a. auch ein Rilke – Zitat gedruckt ist, läuft unwillkürlich langsamer, weil sich die Augen erst an das gedämpfte Licht gewöhnen müssen, und irgendwie steigt schon auch die Spannung… Und dann steht man vor der leuchtenden Farbenpracht der Teppiche, die so viel grösser sind, als ich es mir vorgestellt habe, und ist erst mal sprachlos.

(Quelle: Wikimedia)
(Quelle: Wikimedia)

Ich denke immer wieder an die besondere Atmosphäre im Raum und die friedvolle Ruhe der beiden Damen im Paradiesgarten, die, umgeben von zahmen Tierchen und unzähligen zarten Blumen, scheinbar überflüssigen und nutzlosen Beschäftigungen nachgehen. Zu so einem Urteil kommt man schnell, wenn es um Kunst, Musik, Poesie geht – das, was scheinbar nicht sein muss und im Alltag schnell mal wegrationalisiert wird, ist in Wahrheit lebensspendend und als Seelennahrung genau so wichtig wie echte Nahrung. Die Teppiche, die zum Ende des 15. Jahrhunderts gewebt wurden, stellen Allegorien der fünf Sinne dar inklusive eines misteriösen sechsten Sinns, der möglicherweise für das Herz oder die Intuition steht. Ist das nicht ein erstaunliches Thema? Zu einer Zeit, in der hauptsächlich religiöse oder heroische Motive dargestellt wurden? Es ist eine Rückkehr zu ganz zarten, im Alltag gar nicht mehr wahrgenommenen Gefühlen. Sieht man sich in so feinen Gesten erinnert an seine Sinne, ist man auch dankbar, wenn man noch über alle verfügen kann – der Geruchs- oder Tastsinn werden uns nicht so schnell abhanden kommen, aber mit dem Sehen (in der Nähe…) hapert es immer mehr bei mir, und wenn meine Schüler weiterhin so beherzt reinlangen, wird mein Hörsinn auch bald nachlassen… In der Renaissance waren diese Alterungserscheinungen mangels Lebenserwartung wahrscheinlich nebensächlich, aber man wird eindringlich erinnert an das, was einen kompletten, glücklichen Menschen ausmacht. Und dazu gehören auch eine Vielzahl an allerliebsten kleinen Tierchen: der laut Rilke „seidenhaarige“ Schosshund, zahlreiche Häschen, Füchse, Vögel, und natürlich immer der grösser dargestellte freundliche Löwe und das Einhorn, die für Mut und Keuschheit stehen. Man könnte fast meinen, dass den Tieren auch eine Seele zugesprochen wird, weil sie so intensiv an der Darstellung der Sinne beteiligt sind.

Und man bewegt sich langsamer, um die beiden Damen nicht zu stören. Heute und auch zu Rilkes Zeiten: „Geht man nicht unwillkürlich leiser zu dem nächsten Teppich hin, sobald man gewahrt, wie versunken sie ist: sie bindet einen Kranz, eine kleine, runde Krone aus Blumen. Nachdenklich wählt sie die Farbe der nächsten Nelke aus dem flachen Becken, das ihr die Dienerin hält, während sie die vorige anreiht. Hinten auf der Bank steht unbenutzt ein Korb voller Rosen.“ Klingt das nicht erstaunlich modern – nach Achtsamkeit, ganz im Hier – und – Jetzt – Sein, Entschleunigen? Ich merke: diese prachtvollen roten Teppiche haben sich in meiner Seele eingebrannt. Und wenn es im Alltag mal wieder drunter und drüber geht, kann ich mich kurz in diese ruhige Welt zurückträumen.