In diesen feuchten Nebeltagen ist es die reinste Freude, morgens am Inn zu spazieren. Ich liebe es, wenn alles grau in grau ist, kristallene Wassertropfen an leicht mit Frost überzogenen Spinnennetzen hängen und man kaum unterscheiden kann, wo die Wasser- und die Nebelfläche sich treffen. Oder gehen sie in einem völlig aufgelösten feuchten Zustand ineinander über? Wenn die Konturen so unscharf sind, wirkt der Seitenarm des Inns mit seinen wild übereinander gestürzten Bäumen, die einfach liegen bleiben dürfen, und den sich schräg in den Himmel streckenden Ästen wie ein urzeitlicher Urwald, den seit Jahren kein Mensch mehr betreten hat.
Ich geniesse es, auf dem Hinweg in die Stadt die silbergraue Nebellandschaft nur mit ein paar Wasservögeln zu teilen. Nachdem ich meine Einkäufe erledigt habe und zurücklaufen will, freue ich mich aber genau so, unseren Nachbarn zu sehen, der am Stauwerk auf mich wartet. Normal laufen wir immer in entgegengesetzte Richtungen, wechseln ein paar Worte und bedauern es, dass wir nicht den gleichen Weg haben. Heute haben wir Glück und gehen beide stadtauswärts. Unser Nachbar ist eine Seele von Mensch. Ungefähr 35 Jahre älter als ich, strahlt er eine ruhige Gelassenheit und Lebensweisheit aus, die wohltuend ist. Kennengelernt haben wir uns, weil ich es nicht vermeiden konnte, meine Nase über seinen Gartenzaun zu stecken. Er hat weit und breit die üppigsten, gesündesten Rosen, und anfangs haben wir uns nur übers Gärtnern unterhalten und er hat mir in rührender Weise Ableger seiner Christrosen gebracht oder besondere Zwiebeln, die er auf einer Gartenschau gesehen hat. Dann hat sich herausgestellt, dass er sich sehr für klassische Musik interessiert. Seither gehen wir mit ihm und seiner Frau in Konzerte und einmal im Jahr in die Oper, und wenn wir beide uns sehen, nutzen wir das Fachwissen des jeweils anderen und quetschen ihn wieder über irgendwas aus. So auch heute: ich möchte von ihm wissen, mit was er seine Rosen angehäufelt hat und warum er alle so stark zurückgeschnitten hat und ob ich das mit meinen Kletterrosen lieber nicht machen soll, und er erzählt von einer Sendung zu Barenboims 70. und fragt, wie man im Rachmaninoff g-moll-Konzert so schnell spielen kann, bzw. an was man da noch denkt und auf welche Hand man schaut und wie das überhaupt möglich ist. Dann beginnt er, von neuen CDs zu erzählen, und allein vom Zuhören fühle ich mich überrollt und übersättigt und sage es ihm auch. Je länger ich lebe, desto mehr habe ich das Gefühl, die Zeit reicht nicht für alles, was ich noch lesen, anhören, spielen, kennenlernen und sehen will. Und wie gefährlich und anstrengend ich es in letzter Zeit finde, sich mehr in ein Thema zu vertiefen und immer weitere Kreise um einen Punkt zu ziehen, weil dabei anderes auf der Strecke bleibt und man beim Einkreisen schnell vom hundertsten ins tausendste kommt, wenn man nicht aufpasst. Allein wenn ich an mein privates Leseprojekt denke, englische Literatur kennenzulernen, die zwischen 1926 und 28 entstanden ist – meine Güte! Und wenn man es ausdehnen würde auf 1922 bis 28, hätte man Stoff für ein ganzes Semester. Oder ein ganzes Leben. Oder, wovon ich schon lang träume: Joyce, Proust und Woolf direkt gegenüberzustellen. Ich hab sie im Abstand von Jahren gelesen, aber mich juckt es in den Fingern, bestimmte Passagen parallel zu lesen. Und dann kommt man irgendwann an den Punkt, an dem man spürt, dass man sich bewusst beschränken muss. Aldous Huxley muss einfach warten, und die fünf Mitford-Schwestern sind schon aufgrund ihrer Anzahl eine Art kleiner Zeitbombe, die den Rahmen sprengen würde. Und ich weiss: wenn ich mit einer anfange, führt das unweigerlich zur nächsten…
Unserem Nachbarn erkläre ich meine Bedenken nicht so detailliert, aber er versteht, was ich meine, und sagt „Sie müssen sich das so vorstellen: Ihre Seele ist wie ein grosses Gefäss.“ Hier führt er mit beiden Händen ausufernde Bewegungen vor seinem Körper aus, die mich unwillkürlich an eine der schlammgrünen Komposttonnen denken lassen, die man jetzt immer in Gärten sieht. „Und Sie können nur in einem begrenzten Mass was reinfüllen, sonst quillt das Gefäss über. Wenn Sie an dem Punkt sind, müssen Sie den Deckel drauflegen und warten, bis sich alles setzt. Es hat keinen Sinn, dann noch mehr reinzustopfen.“
Wie recht er hat, und wie gut es tut, das in seinen Worten und mit diesem anschaulichen Bild zu hören. Ich fühle mich legitimiert, einfach nur aus dem Fenster zu starren und den Blättern beim Fallen zuzusehen. Oder abends, wenn ich wieder was gefunden habe, was ich nicht weiss, nicht noch mal den Computer hochzufahren, sondern kurz in mein Notizbuch zu schreiben, was so dringend ist, und dann nachzuschauen, wenn ich eh dabei bin. Und einfach mal auf dem Sofa liegenzubleiben und in die Kerzen zu schauen. Und alles in Ruhe sich setzen lassen. Egal, ob ich noch vier oder vierzig Jahre lebe – wahrscheinlich hat man nie das Gefühl, genug Zeit zu haben, also kann man gleich mal an einem entspannten Verhältnis dieser Tatsache gegenüber arbeiten.
Liebe Martina,
in deinem vergleichsweise jugendlichen Alter würde ich mir noch keine Sorgen machen über das erweitern der Kreise, es ist ja eher tröstlich zu wissen, daß man könnte wenn man will. Mich drücken die sechs Bände Bülow-Briefe, der ständig wachsende Notenstapel und das unter seiner Last ächzende CD-Regal nicht. Es sind Möglichkeiten – für nächsten Sonntag Nachmittag oder einen verregneten Tag im Jahre 2018 – nix gnaus woas ma ned – aber wir haben sie, und Huxley und Jerome K. Jerome und die Bronte-Schwestern (nur 3) warten geduldig darauf, uns für einige Zeit in ihre Welt mitzunehmen und wenn wir Glück haben reichen sie uns an andere alte Engländer weiter. Virginia Woolf will unbedingt, daß wir einmal die beiden Langeweiler James Woodforde und Jack Sinner in ihrem Pfarrhaus besuchen, sie wird schon ihren Grund haben und wenn wir wollen können wir ihr den Gefallen tun, wenn nicht ist sie auch nicht beleidigt. Aber wir dürfen!!!!!
Wolfgang
Lieber Wolfgang,
was für ein schöner und beruhigender Kommentar! Und wie gut, dass Du mich dran erinnerst, dass wir „dürfen“. Ich bin immer wieder platt, welchen Reichtum und welche Fülle das Leben für uns bereit hält – immer noch. Egal, wie tief man gräbt. Schon toll, oder?
Liebe Grüsse an Deine wachsenden Stapel von meinen! Martina