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Elitär

Letzten Sommer gab der Bariton Thomas Hampson einen Liederabend bei den Münchner Opernfestspielen. Ursprünglich war ein Programm unter dem Motto „Die Götter Griechenlands“ vorgesehen. Deshalb lud ihn die Süddeutsche Zeitung zu einem Interview in die Glyptothek ein, um in Anwesenheit der Götter über sie zu sprechen. Die ganzseitige, mit vielen in der Glyptothek entstandenen Fotos versehene Serie nennt sich „SZ Kultursalon“. Dies nur vorneweg, weil ich mich gleich aufregen muss. Denn ich liebe Thomas Hampson und seine amerikanische „alles ist machbar“ – Herangehensweise seit vielen Jahren. Er ist mit einer wunderbaren Stimme gesegnet, aber das ist nur die halbe Miete: ohne Disziplin, Mut und Optimismus kommt man als Musiker nicht weit, und er strahlt optisch und musikalisch einfach eine Riesenportion Optimismus aus, aber eben auf diese für mich typisch amerikanische Art. Die ich in meinem Studienjahr dort eindrucksvoll kennenlernen durfte. Es ist zwar lange her, aber dort herrschte eine andere Grundeinstellung, an der sich glaube ich nicht viel geändert hat: staatliche Leistungen gibt es kaum, jeder ist in einem viel grösseren Umfang als hier für sich selbst und sein Wohlergehen verantwortlich. Und jeder wächst in diesem Wissen auf. Wer weiterkommen will, muss halt was dafür tun.

So, jetzt zu diesem Artikel. Hampson wird gefragt, ob Liederabende überhaupt eine Zukunft haben. Und er antwortet so wunderbar, dass man es rahmen und aufhängen möchte:

„Es ist die Frage, was wir in unserer Freizeit tun und wie weit wir sie für Bildung nutzen wollen. Bildung heisst ja nicht nur, etwas zu wissen, sondern sich weiterzuentwickeln, mehr zu erfahren und jeden Tag danach zu streben, ein besserer Mensch werden zu wollen.“

Die Gegenfrage der SZ ist wie eine kalte Dusche:

Das klingt ein bisschen elitär. Ist Klassik elitär?

Hampson konterte Gott sei Dank mit „Nein, das ist absoluter Blödsinn.“ Ich wäre noch deutlicher geworden und stand und stehe kurz vor einem Leserbrief. Wie kann man jemand in den absoluten Musentempel einladen und dann so depperte Fragen stellen? Wer ist jetzt elitär?! Die, die einen sogenannten Kultursalon unterhalten, oder die, die mit ihrem ganzen Herzblut für eine immer unwichtiger werdende Sache kämpfen und dabei noch völlig vernünftige Ansichten haben?

Vielleicht wollten die beiden Journalisten auch von einem unangenehmen Aspekt von Hampson’s Äusserung ablenken: es steht ja wirklich jedem frei, wie er seine freie Zeit verbringt. Aber es ist eventuell etwas anstrengender, etwas für seine Bildung zu tun, auf welchem Weg auch immer, als sich ein Fussballspiel anzusehen oder drei Stunden lang fernzusehen. Aber jeder Mensch hat 24 Stunden am Tag, und jeder kann entscheiden, wo seine Prioritäten liegen. Man sollte es niemanden neiden, wenn bei den einen vielleicht was hängen bleibt, was das Leben bereichert. Die anderen haben dafür was für ihre Tiefenentspannung getan und fühlen sich deshalb so gut wie jemand, der ein paar Stunden im Museum verbracht hat. Und Zugang zu den vermeintlich elitären Einrichtungen hat inzwischen eigentlich jeder: jeder darf in jede Bibliothek reinspazieren und dort Bücher lesen, sonntags kann man für einen Euro in die Münchner Museen. (Und ich verkneife es mir, darauf hinzuweisen, dass komplett freier Eintritt in Museen und Theater – die ultimative Abschaffung von Schranken vor einer vermeintlich nur einer Elite zugänglichen Art der Unterhaltung – von Empfängern von Sozialleistungen so gut wie nicht in Anspruch genommen wird. Da spielen natürlich Berührungsängste und die fehlende Vertrautheit/ die fehlende Schulbildung mit hinein – gegen die gewisse Zeitungen eigentlich was tun könnten. Aber dann müssten diese Zeitungen auch gelesen werden… Es ist ein Teufelskreis.)

Und „Bildung“ klingt doch tatsächlich nach Anstrengung, stundenlangem Büffeln, unangenehmen Erinnerungen an die Schulzeit, Bedauern, die Zeit nicht für was Netteres nutzen zu können. Das ist auch so ein Problem – dass viel zu wenige erfahren, wie spannend und beglückend es sein kann, was Neues zu lernen oder tiefer einzutauchen in ein Thema, das einen fasziniert. Und der Anstoss, sich mit etwas eingehender zu beschäftigen, muss nicht unbedingt von Menschen kommen, die extra dafür ausgebildet sind, also Lehrern oder Professoren. Bildung findet gar nicht immer in Klassenzimmern statt. Es kann die Begegnung mit einem Musiker wie Hampson sein, die dazu führt, dass man sich mit Schuberts Welt beschäftigt. Oder die Abbildung in einem Kunstgeschichtebuch, die einem fast den Schlaf raubt und einen veranlasst, irgendwann im Leben an diesen Ort, in dieses Museum zu fahren und zuvor so viel wie möglich drüber zu lesen. Oder die Faszination für eine Sprache… Oder eine Epoche oder einen Baustil… Alles, was man sich abends oder am Wochenende in Eigeninitiative aneignet, bleibt ganz anders hängen. Und beglückt einen auch ganz anders als damals eine schnöde Schulaufgabe, bei der man ja mehr um der Note als um des Wissens willen gelernt hat. Und diese Art von Bildung, die täglich und in jedem Alter stattfinden kann, ist wirklich nicht elitär und dank Internet komplett kostenlos.

Mir gefällt auch, dass Hampson andeutet, dass es keine limitierte Zeitspanne im Leben gibt, um Wissen zu erwerben. Es geht weiter, nachdem man sein Abschlusszeugnis oder Unidiplom in der Tasche hat. Und wenn man Lust hat, kann es ein ganzes Leben lang weitergehen, dieses Wachsen und Reicher-Werden. Ich bin immer heilfroh, wenn ich bei einer Einladung neben jemand sitze, von dem ich weiss, dass  er oder sie ein lebenslanger Lerner ist, egal welches Alter – diese Gespräche sind viel interessanter und müheloser. Und inspirieren mich oft selber, irgendwas nachzuschauen, über das wir gesprochen haben.

Ich bin froh, dass es Menschen wie Thomas Hampson gibt, die die Fackel noch hochhalten. Weil es lebenswichtig ist und er so viele Menschen wie möglich erreichen will, singt er weiter. Und ich bewege mich am anderen, ganz bescheidenen Ende der Skala und lege mit kleinsten Bausteinen den Weg zum grossen Ganzen und frage jeden Herbst wieder: „Hör mal zu, ich spiele dir zwei Akkorde vor. Welcher klingt trauriger?“ Und es wird nie unwichtig oder langweilig. Weil ich überzeugt davon bin, dass es sinnvoll und wichtig ist. Musik, Kunst überhaupt darf nichts für eine Elite sein. Ich möchte so vielen Menschen wie möglich helfen, zu erkennen, was ewig ist und was bleibt. Was andere vor uns geliebt haben und andere nach uns hoffentlich auch noch.

(Foto: neverwordless)

Vom Inn an den Tiber: Einsam oder gemeinsam?

Gestern hat der Wind ein gelbes Blatt genau auf mein Fensterbrett geweht, während ich mit einer Tasse Earl Grey am Fenster stand und den herrlich grauen Himmel angeschaut habe. Das Blatt war der perfekte Herbstgruss und fast zu schön, um echt zu sein. Es wird Zeit für den wirklich letzten Italien – Artikel, bevor ich jedem hier auf den Geist gehe!

Als wir zurück waren, las ich in der Frankfurter Allgemeinen einen Artikel über eine Mittelmeerkreuzfahrt, der erst mal schön klang: viele Tage auf dem blauen Meer, Ausflüge nach Genua, Rom und Neapel vom Schiff aus, gutes Essen. Etwas teuer. Aber dann die ganze Wahrheit: man ist umgeben von 4500 anderen Passagieren auf dem Schiff, und beim Landgang nach Rom von Civitavecchia aus lagen noch zwei Schiffe der Grössenordnung vor Anker und 14 000 Menschen machten sich (gleichzeitig?!) auf nach Rom. Für einen Tag. Das bedeutet: abends findet das, was für mich nach geplanter Massenevakuierung klingt, in umgekehrter Reihenfolge wieder statt. Und ich kann mir kaum ausmalen, wie viele Busse man für 14 000 Menschen braucht. Und wie sie alle gleichzeitig in Rom einfallen.

Interessant, was manche Menschen auf sich nehmen im Urlaub, oder? Ich glaube, ich wäre nach so einem Ausflug urlaubsreif. Es macht schon Spass, gelegentlich andere Touristen zu sehen, und an einem Abend in Rom, als wir etwas erledigt waren, haben wir uns einfach eine Stunde vors Kolosseum gesetzt und hunderten von Leuten beim Selfieproduzieren zugeschaut. Aber ständig? Und gleich zu Tausenden?

Jeder soll nach seiner Art glücklich werden. Unsere Art von Glück sah ganz anders aus – und im Nachhinein kann ich kaum glauben, dass wir zeitgleich völlig allein in Férento, etwa 60 km nördlich von Rom, im Amphitheater sassen, während sich weiter südlich solche Szenarien abspielten.

Férento war der reinste Zufallsfund. Wir studierten die Landkarte, um zu schauen, was es in der Nähe von Viterbo noch Schönes gäbe, und da war kursiv gedruckt und mit den drei Pünktchen drunter, die Ruinen verheissen, eben dieses Férento. Es wurde tatsächlich mit drei Zeilen in unserem Latiumführer erwähnt – wenn man mal dort war, fragt man sich, wie man sich da auf drei Zeilen beschränken kann. (Ich kann es nicht!) Da steht ungefähr: gut erhaltene römische Siedlung mit Amphitheater, Thermen, Decumanus und Häusern, 1172 von Viterbo zerstört, seither unbewohnt.

Férento liegt wunderbar einsam in der Pampa. Schon die Umgebung atmet den Hauch von „es war einmal, vor ganz, ganz langer Zeit“ aus. Denn jetzt ist da kaum mehr was los ausser etwas Landwirtschaft und schlechten Strassen. Aber – ein Hinweisschild auf eine noch einsamere Strasse. Und dann tatsächlich ein lebendiger Mensch und die Andeutung von Infrastruktur vor dem eingezäunten Gelände: ein garagengrosses Hüttchen, das nach vorne offen war, und drin eine Frau, die an dem grossen, bücherübersäten Tisch am Computer zu arbeiten schien. Der geisteswissenschaftliche Anstrich wurde betont durch zwei Katzen, die uns in aller Form vorgestellt wurden. Férento ist Studienobjekt irgendeiner Uni, und deshalb hatten wir das Glück, dass überhaupt jemand da war und uns aufsperrte (normal ist nur am Wochenende auf, wie sie mir in wunderbarem Französisch erklärte). Und das Aufsperren war sehr symbolisch – sie entfernte ein grosses Vorhängeschloss vom hohen Maschendrahtzaun, das sie nach uns wieder dranhängte. Und mehr brauchen wir nicht zum Glücklichsein als einfach mal eingesperrt zu werden in einem verlassenen Ruinengelände – wir können durchaus mal Ruhe geben und einfach nur da sitzen. Und es war der reinste Luxus, dass wir das durften und keiner was von uns wollte.

Die schwarze Katzendame Domitilla schien einen anderen Weg zu kennen (kein Wunder, ist sie doch benannt nach der Gattin des Kaisers Vespasian, die in Férento geboren war), denn sie empfing uns schon in den Ruinen und schmuste um unsere Beine. Und begleitete uns auf dem Rundgang. Deshalb war der Ort natürlich besonders schön für uns… Aber auch sonst: das gut erhaltene Amphitheater ist wunderschön. Vielleicht nicht das grösste, das man je gesehen hat, aber es hat sehr dekorative Rundbögen, die irgendwie ohne Mörtel zusammengefügt sind und deshalb schon eine Sehenswürdigkeit. Das ganze Gelände war überwachsen von kleinen gelben Blümchen und Thymian. Kleiner lilablühender Thymian, wie es wo anders Rasen gibt. Man konnte gar nicht anders als draufzutreten, und das war der Duft von Férento. Wenn ich an diese Rundbögen denke, rieche ich Thymian. Und der versetzte mich langsam so in andere Sphären, und es war so wunderbar einsam und zauberhaft und betörend schön, dass ich beim Blick in eins der Schwimmbecken in der Therme tatsächlich ein leises Plätschern hörte. Obwohl alles staubtrocken war um uns herum. Da ist ein Römer weggeschwommen, weil er nicht angestarrt werden wollte… Ganz sicher.

In den Ritzen der erhaltenen Pflastersteine der Hauptstrasse: auch Thymian. Und auch in den Fundamenten eines Hauses, in dem wir lange mit Domitilla spielten. Ein wunderschöner Ort, an dem man ganz zur Ruhe kommen kann. Natürlich: Selfies aus Férento hätten keinen hohen Wiedererkennungswert in sozialen Medien, und gelato gab es auch nicht. Wer darauf verzichten kann, kommt bei diesem kleinen und feinen Ausflug in die Antike voll auf seine Kosten.

Vom Inn an den Tiber: Noch mehr Sehnsuchtsorte

Wer in seiner Jugend in den Genuss von Lateinunterricht gekommen ist, stolperte unweigerlich früher oder später über die zweisprachigen „Tusculum“ – Ausgaben. Ich dachte anfangs, das ist halt ein poetischer Name für einen idealen Ort, an dem schöngeistige Gespräche stattfinden, oder ein Verlagstrick, um staubtrockene alte Literatur irgendwie an den Mann zu bringen. Bis ich irgendwann mitbekam, dass Tusculum ein realer Ort ist, den man immer noch besuchen kann. Ab da stand er auf der Liste meiner Sehnsuchtsorte weit oben. Ich war und bin kein Cicero – Fan, aber es könnte nicht schaden, den Entstehungsplatz seiner „Tusculanae Disputationes“ zu sehen. Ausser ihm wohnten zahlreiche reiche und berühmte Staatsmänner und Dichter auf diesem Hügel im Süden Roms: der legendäre Lucullus, Cato, Caesar (Grund für ähnlich langatmig sich hinziehende Lateinstunden wie Cicero…). Sie hatten sich bewusst diesen hochgelegenen Hügel mit der sagenhaften Rundumsicht in den Albaner Bergen ausgesucht, um Abstand zur Stadt und wahrscheinlich ein besseres Klima zu haben.

Stilecht wäre ich gerne über die Via Tuscolana aus Rom angekommen, aber wir wohnten ja im Osten und waren nach einem Katzensprung in Frascati. Zeitgenossen mit masochistischen Tendenzen könnten hier den Wanderrucksack auspacken und ständig bergan rauf nach Tusculum laufen. Der Weg entlang der einsamen Strasse ist auch wirklich schön, es gibt Oliven und Steineichen und gelegentlich Schatten – ich war aber doch dankbar für mein Auto, das uns mit leichtem Schnaufen innerhalb von Minuten auf die Hügelkuppe brachte. Denn es war unglaublich heiss und trocken. Und wie die anderen Orte, die wir besuchten, ist Tusculum kein Archäologie – Disneyland und kein bisschen für den Tourismus erschlossen. Keinerlei Infrastruktur, keine Bar, kein Wasser. Einzig und allein der menschenleere Parkplatz liess uns ahnen, dass wir hier aussteigen und loslaufen könnten.

Wir fanden einen schattigen, baumbestandenen Hohlweg mit glattgeschliffenen schwarzen Quadersteinen auf dem Boden, und – erstes Zeichen, dass wir doch an einem sehenswerten Ort waren – tatsächlich eine Schautafel, die informierte, dass Tusculum ein wichtiges Ziel auf der Grand Tour war und besonders deutsche romantische Maler dieses Panorama schätzten. In der drückenden Hitze hält man es kaum für möglich, dass in den letzten Jahrhunderten überhaupt jemand auf diesem Hügel gewesen war. Wir spazierten leicht bergan, vorbei an überwachsenen Fundamenten und umgekippten Säulen, und die Aussicht auf die Albaner Berge wurde immer schöner. Bis wir am höchsten Punkt den Gipfel des Malerischen erblickten: ein weisses Einsatzfahrzeug einer Art Technischen Hilfswerks, und vier Feuerwehrmänner in voller Montur, die bei geöffneten Türen auf ihren Handys lesen. Wir stellten uns kurz zu ihnen, weil sie unter dem einzigen Baum weit und breit parken, und weil – Menschen! Lebendige Menschen! Man hätte eine perfekte Aussicht in alle Himmelsrichtungen, um Waldbrände zu entdecken. Aber ihre Handys sind ihnen wichtiger… Ihr Funkgerät piept und zwitschert und ich finde diesen Einbruch des 21. Jahrhunderts in die antike Welt ziemlich absurd. Aber natürlich nötig. Wir haben in den letzten Tagen mehrere Waldbrände und Löschversuche mit Hubschraubern erlebt, und die Wiesen von Tusculum sind fast die vertrocknetsten, die wir gesehen haben. Und es ist heiss. So stelle ich mir Griechenland vor.

Wir sehen uns noch die Reste des Amphitheaters an und schlendern ein bisschen übers Gelände, bekommen aber fast einen Hitzschlag. Fazit: es ist wahnsinnig schön, die Fernsicht ist sagenhaft, aber mir ist es zu exponiert und zu sehr der Sonne ausgesetzt. Und die Geister dieser langatmigen Schriftsteller  – lieber weg von hier, bevor uns ein Feuer den Rückweg abschneidet. Eine Nacht mit Lucullus wäre sicher vergnüglich, aber wenn dann Caesar und Cicero auftauchen und kein Ende finden… Schnell ins Auto!

Und runter von Frascati in die Ebene um Rom und ans Südende der Via Appia Antica, das wir mit mehr Glück als Verstand fanden. Hier wollte ich auch schon ewig hin, und wir hatten es einmal von der Stadt aus versucht, aber das war Fehlanzeige: der Bus bringt einen an den Anfang. Der ist noch touristenüberlaufen wegen der Calixtus – Katakomben und San Sebastiano, das zu den Hauptkirchen gehört und ein begehrtes Pilgerziel ist. Dann: haushohe Mauern, die sich gefühlt kilometerlang hinziehen und Privatgrundstücke abschotten. Wenn man nicht auf eine lange Wanderung eingestellt ist, ist der Abschnitt in Stadtnähe sehr enttäuschend.

Wenn man bereit ist, sich in die geordnete Anarchie des Autobahnrings um Rom zu begeben und nicht davor zurückschreckt, das Auto neben einem wenig vertrauenerweckenden Wohnwagenpark gegenüber vom Flughafen Ciampino abzustellen, kann man das herrliche, einsame Südende der Via Appia finden. Und hier ist sie wie aus dem Bilderbuch: das glattgeschliffene schwarze Pflaster zieht sich schnurgerade und pinienbestanden Richtung Rom. Kein Mensch ist in Sicht bis auf gelegentliche Jogger, und wenn die in ihren grellen Outfits verschwunden sind, könnte man glauben, geradewegs in der Antike zu sein. Und dann tauchen auch noch Schafe auf den vertrockneten Wiesen auf… Es ist Idylle pur. Das Abendlicht wird immer sanfter und wärmer, während wir langsam Richtung Stadt wandern, die warmen, trockenen Piniennadeln knirschen, wenn man drauftritt, und es riecht intensiv nach Harz aus den vielen abgefallenen Pinienzapfen. Ich hebe einen auf und habe fortan einen Harzklumpen an den Fingern, den ich immer wieder zur Nase führe – erinnert mich an meine ganzen Streicherfreunde und den leichten Kolophoniumgeruch, der sie manchmal umgibt. Das Parfüm der Via Appia… Hier kommen wir völlig zur Ruhe. Wollen und Erleben schieben sich mit einem leisen „klick“ in einen wunderbaren Einklang übereinander und wir sind beide an dem seltenen Punkt, dass wir sagen: so soll es sein. Genau so, wie es jetzt ist, ist es perfekt. Ich würde nichts ändern wollen an diesem Augenblick.

Vom Inn an den Tiber: Probewohnen

Als wir in Blera ankommen, ist es vier Uhr nachmittags. Alles schläft. Das ganze hübsche Städtchen befindet sich im Dornröschenschlaf, und wäre es nicht so gut erhalten und gepflegt, wären da nicht unzählige bepflanzte Blumentöpfe vor den Haustüren und auf den Treppchen, könnte man meinen, die Stadt sei ausgestorben. Wir schleichen in der Spätsommerhitze durch die engen Gässchen und sind begeistert, wie stimmungsvoll und malerisch der kleine Ort ist, selbst wenn alle Fensterläden zu sind.

Blera ist eines der vielen kleinen Städtchen nördlich von Rom, die auf einem langgezogenen Tuffsteinfels thronen. Lauter kleine, hochgebaute Steinhäuschen drängen sich dicht an dicht. Die schattigen Gassen sind so eng, dass man mit ausgestreckten Armen fast beide Häuserzeilen berühren kann. In der Mitte des kleinen Ortes öffnen sich die Gassen auf eine ähnlich kleine und enge Piazza, deren Mittelpunkt ein Brunnen ist. Danach wird es wieder eng, und der Weg führt leicht abwärts auf der alten Via Claudia.

Auch wenn der Ort schlief, hatten wir das Gefühl, ganz in der Zivilisation zu sein. Ein paar Schritte abwärts durchs Stadttor und auf einen kleinen Feldweg, der staubig an Schrebergärten vorbeiführte, und wir entfernten uns mit jedem Meter mehr aus der Gegenwart. Der olivenbestandene Hohlweg führte beständig bergab, die Schatten der Nachmittagssonne warfen das Muster der Olivenzweige in den Staub vor uns. Hier in den Gärten und auch oben in der Stadt hatten wir keine Seele gesehen, aber je näher wir der Etrusker – Nekropole kamen, die laut Landkarte irgendwo hier unten sein musste, desto mehr regte sich in der Luft und in der Atmosphäre. Einbildung? Hitzeflimmern? Zu wenig Wasser dabei? Wie auch immer, der spontane Ausflug wurde eine magische Reise in die Antike. In die richtig ferne Antike. Laut Führer war die Gräberstadt von 700 bis 500 vor Christus in Benutzung – da lebte Homer noch, so ungefähr… Und da waren die Etrusker schon so lange hier sesshaft, dass die Ersten sich ins Jenseits verabschiedeten und angemessene Wohnungen dafür brauchten. Ich liebe solche Orte mit Vergangenheit…

Und unversehens ging es schon los mit den Grabkammern. Wir dachten, die sind alle unten in der Schlucht, aber rechts von uns tauchten die ersten Öffnungen auf, in italienischer Manier als Geräteschuppen oder Viehställe mit halben Türen zweckentfremdet. Dann kamen offene, leere Gräber, kühl und schattig und geräumiger, als ich dachte: Dreiergräber, Fünfergräber, auch mal ein querliegendes Einzelgrab für die eher Introvertierten. Anfangs waren wir ganz leise und ehrfürchtig, schauten uns vorsichtig um, atmeten unwillkürlich langsamer. Dann kam noch ein Grab. Und noch eins. Und der Entdeckergeist wurde etwas übersättigt. Es war auch nett, zwischendurch wieder raus in die Sonne zu gehen und die Wärme zu spüren. Dabei entdeckte ich haufenweise Brombeeren, die aus und über Gräbern wuchsen, und sogar einen Feigenbaum mit dunkellila Früchten. Ich trödelte ein bisschen beim Obst, der Gatte explorierte weiter – „Guck mal hier, das Modell „Andante“!“ Mit einer Handvoll Brombeeren schlenderte ich zum nächsten Grab, einem richtig geräumigen, gemütlichen, und dachte mir drinnen spontan: was, wenn ich schwarze Früchte, die aus Gräbern wachsen, in einem Grab esse? Vielleicht tut sich da was? Vielleicht finde ich endlich den Fahrschein in die Vergangenheit? Es ist einen Versuch wert. Ich schliesse die Augen, esse ein paar Brombeeren, wünsche mich ganz sehr ein paar Tausend Jahre zurück und warte. Alles ist still und kühl, aber – das ist es auch schon. Als ich die Augen wieder aufmache, strahlt die Sonne vor dem säuberlich gehauenen Steinrechteck der Türöffung aufs gelbe Gras. Eine Eidechse flitzt vorbei. Ich fürchte, ich bin immer noch hier.

Und auch unten in der eigentlichen Nekropole hat’s mit der Magie nicht geklappt. Obwohl der Ort ohne Zweifel sehr magisch und einsam ist. Wir kletterten an dem gigantischen Felsen aus rötlichem Tuffstein herum, schauten uns noch in ein paar Gräbern um, waren selig und sprachlos, an so einem wunderschönen, besonderen Ort ganz für uns zu sein. Auch hier: Brombeeren, Haselnüsse und wilder Dill, der auch sehr lecker schmeckte, und Pfefferminze in rauhen Massen. (Auch lecker. Und mehr kann man sich bei einer Friedhofsbesichtigung wohl kaum in den Mund stecken zum Zwecke der Zeitreise. Also: Experiment gescheitert.)

Wieder zurück über die kleine gebogene Steinbrücke, und wir probierten einen anderen Rückweg aus, der links steil durch den Wald nach oben führte. Innerhalb kurzer Zeit muss man hier die ganze Steigung bewältigen, die man vorher in einer Viertelstunde bergab gegangen war, und gelangt oben an ein handgeschriebenes Holzschildchen „Belvedere“. Das musste die ursprüngliche etruskische Akropolis gewesen sein, auf die im Ort hingewiesen wurde. Die Siedlung wurde im Mittelalter als Steinbruch genutzt, um Blera etwas weiter hinten aufzubauen – es ist überhaupt nichts mehr von einer Stadt zu sehen. Aber ganz am Ende des Abhangs ein traumhafter Blick auf die Schlucht und die Felsen der Gräberstadt, in der wir grade noch gewesen waren: grün, so weit das Auge blickt, dunkelgrün, und dann die erdfarbenen Tuffsteinfelsen.

Unser völlig ungeplanter Spaziergang von etwa einer Stunde war einer der zauberhaftesten Momente der Reise. Gut, dass uns in Blera keine Bar und keine Katzen abgelenkt hatten. (Und als wir zurückkamen, war der Ort kaum wieder zu erkennen: quirliges Leben, eine moderne Apotheke, ein Optiker, Leute mit Einkaufstaschen, alte Männer vor der Bar… Diese Metamorphose ist immer wieder erstaunlich!)

Vom Inn an den Tiber: Villa Adriana

„Noch nie sah ich so malerische Ruinen“, schrieb Viktor Hehn, als er im 19. Jahrhundert die Villa Adriana in Tivoli besuchte. Ich stehe im ausgehenden Winter in Mantel, Stiefeln und Schal beim Dealer meines Vertrauens und habe eben das Hehn – Buch in einem seiner sich biegenden Regale ausgegraben. Es ist mir ein Begriff, weil es in fast jeder Italien – oder Rom – Bibliographie als eines der ersten auftaucht, neben Goethe und Gregorovius. Und jetzt halte ich es in der Hand? Dieses Juwel? Ich dachte, das gibt es gar nicht mehr! Keine Frage, ich kaufe es. Laufe durch den Schneematsch nach Hause und fange gleich an, drin zu blättern. Und was gibt es Schöneres, als im rauhen Germanien von südlichen Gefilden und ein paar Sonnenstrahlen zu träumen.

Sechs Monate später befinde ich mich auf dem Gelände der Villa Adriana in Tivoli, in weissem Leinen, Sandalen und Sonnenhut. Meine Fussrücken sind braungebrannt, die Füsse staubig, weil es hier wochenlang nicht geregnet hat. Es hat 38 Grad im Schatten und wir sind so ziemlich die einzigen Lebenden hier, abgesehen von den Schildkröten im grün schillernden Wasser des Canopo und einer freundlichen Katze, die in einem Blumentrog döst. Die Hitze, die Trockenheit, alle Anstrengungen sind völlig egal: wir sind beide schlicht überwältigt von der Grösse und Schönheit der Villa oder dessen, was davon noch übrig ist. Wir wandern durchs pinien – und zypressenbestandene Gelände und ich kann nicht anders als zu denken: „Noch nie sah ich so malerische Ruinen.“

Da die Villa Adriana zu den Hauptsehenswürdigkeiten Roms gehört, hatten wir einen ähnlichen Rummel wie in der Villa d’Este oben in Tivoli erwartet. Ausser meinem treuen Gefährt waren etwa zehn andere Autos auf dem Parkplatz. Aber das Areal der Anlage ist so riesig, dass wir nur einmal kurz andere Menschen zu Gesicht bekamen. Wir hatten auch ehrlich gesagt ein viel kleineres Anwesen erwartet. Ein Reiseführer warnte, selbst für den Schnelldurchlauf brauche man einen halben Tag, und ich dachte erst, das ist halt ein gründlicher Enthusiast. Aber: ein halber Tag reicht grade so. In der „Villa“ lebten zeitweise 20 000 Menschen, inklusive einer Garde aus 1000 Soldaten. Die hatten natürlich alle Behausungen, und Thermen, und Wandelgänge. Das Gelände entspricht gefühlt dem unseres Städtchens. Die zahlreichen Ruinen werden immer wieder unterbrochen von grossflächigen Olivenhainen, in denen man im Halbschatten ausruhen kann: ein wunderbarer Wechsel aus ergriffen und erstaunt sein und kurz die Seele baumeln und nachkommen lassen. Und drüber reden, was für aussergewöhnliche, kreative, leicht verrückte Ideen dieser Kaiser hatte.

Hadrian lebte in einer der wenigen ausgesprochen friedlichen Zeiten des römischen Kaiserreichs. Er reiste sehr viel in seinem immensen Reich, das damals die grösste Ausdehnung hatte: von Schottland (wo er seinen Wall baute) über Spanien (wo er geboren war), seinem Lieblingsaufenthalt Ägypten, Palästina, Syrien und Griechenland, das ihm auch besonders am Herzen lag. Als er älter und ruhiger wurde, beschloss er, all seine Lieblingsorte in der Nähe von Rom nachzubauen – aber nicht in Rom, um nicht ständig gestört zu werden. Und so findet man in der Ebene bei Tivoli die irrwitzigsten Nachbauten von damals berühmten echten Orten, oder Bauten, die von existierenden Vorbildern inspiriert wurden. Hadrian liess es sich auch nicht nehmen, die meisten der Gebäude selber zu entwerfen. Mir gefällt seine Vorliebe für ungewöhnliche Grundrisse: lange Ovale, komplett rund, mehreckig, und oft mit sehr hohen Kuppeln. Was ich nicht wusste: auch die Engelsburg in Rom ist ein Entwurf von ihm. Sie war ursprünglich sein Mausoleum und wurde erst in späteren Jahrhunderten umgebaut. (Und wer meint, er war ein bisschen grössenwahnsinnig, sollte dran denken, dass Hadrian gern in Ägypten unterwegs war und die Pyramiden kannte. So werden halt Herrscher beerdigt.) Das „Teatro Marittimo“ ist so ein netter exzentrischer Ort. Rund, mit einer Insel in der Mitte, die von Wasser umgeben ist und nur über Zugbrücken erreicht werden kann. Hierhin zog er sich zum Lesen und Nachdenken zurück.

Hier wie in allen anderen zahlreichen künstlichen Seen und Wasserflächen schwammen Schildkröten, die träge unter Wasser paddelten oder ihre Köpfchen kurz mal nach oben streckten. Das fand ich einerseits richtig nett, weil ich noch nie so viele Schildkröten gesehen habe – andererseits hat ihre Anwesenheit eine gewisse tragische Komponente, die alles mit Melancholie erfüllen könnte. Hadrians junger Geliebter, der von herausragender Schönheit gewesen sein muss, ertrank auf einer der Reisen beim Schwimmen im Nil. Zum Andenken an ihn gestaltete Hadrian das sogenannte Canopo, der Fleck der Villa, der mir am besten gefallen hat: unglaublich malerisch und ausgewogen und perfekt. Ein sehr langes, ovales Becken (mit noch mehr Schildkröten und einer Krokodilsstatue) soll an den Nil erinnern, am einen Ende ist eine Nachbildung eines Serapis – Heiligtums, in dem regelmässig abendliche Parties stattfanden (angeblich mit geheiztem Sand, damit man sich wirklich wie in Ägypten fühlt – ein Gedanke, den ich bei 38 Grad schnell von mir schiebe…), und am anderen die meistfotographierte Ansicht der Villa, ideale Statuen in Bogengängen, die sich im grünen Wasser spiegeln. Ich könnte mir vorstellen, dass Viktor Hehn, diese Stelle meinte, als er das mit den malerischen Ruinen schrieb… Eine Steigerung ist kaum noch möglich.

Vom Inn an die Bandusia: Villa d’Orazio

Einer der Orte, an den ich mich schon lange gesehnt habe und den man ohne Auto wirklich nicht erreicht, war das Landgut von Horaz in den Sabiner Bergen. Maecenas schenkte ihm das Anwesen. Horaz schenkte Maecenas in den folgenden Jahren eine Fülle an Oden. Das waren noch Zeiten, für beide Seiten! Horaz genoss seine Aufenthalte in den waldreichen Bergen, wie viele seiner Gedichte belegen. Überhaupt schien er regelmässig Abstand von der Grosstadt zu brauchen – vor seinem Sabinum, wie er das Gut nannte, hatte er schon eine Villa in Tivoli, deren Standort heute aber unklar ist. Die erhaltenen Ruinen der Villa bei Licenza sind aber eindeutig seine Villa, und es war für mich mehr als magisch, tatsächlich dort zu sein.

Auch wenn es streberhaft klingt, aber: ich mochte Horaz schon in der Schule. Einmal wegen des wunderbaren Rhythmus seiner Gedichte, und dann wegen der greifbaren, nachvollziehbaren und lebensnahen Themen. Damals wie heute fühle ich mit ihm, wenn ihm ein aufdringlicher Schwätzer einen Spaziergang verdirbt. Mir gefällt, dass er sich dann und wann in die Natur zurückziehen muss, um wieder aufzutanken, in Ruhe den Kreislauf der Jahreszeiten betrachtet und einfach den Augenblick geniesst. Dass er dann aber auch wieder die grosse Stadt braucht und ein Gelage mit Maecenas und Vergil persönlich, bei dem die neuesten Werke vorgelesen werden (wenn ich mir das vorstelle, kriege ich Gänsehaut!).

Der Vater von Horaz war ein freigelassener Sklave, der wusste, dass Bildung die einzige Chance für seinen Sohn wäre, im Leben weiterzukommen. Er tat alles dafür, um dem Jungen eine gute Schulbildung in Rom zu ermöglichen. Danach studierte Horaz in Athen und kam mit der Lehre der Stoiker und Epikurs in Berührung. Das lebensbejahende, genussvolle Auskosten des einzelnen Augenblicks, das ganz im Jetzt – Sein, ist eine Konstante in seinen Gedichten. Von ihm stammt auch der berühmte Rat „Carpe diem“, ebenfalls beeinflusst von Epikur. Und er betont immer wieder, dass derjenige glücklich ist, der zufrieden ist mit dem, was er hat, statt immer noch nach mehr zu streben.

Horaz ist und bleibt einer meiner liebsten Begleiter im Leben, und es ist immer was besonderes, tatsächlich an den Ort zu pilgern, an dem der verehrte Mensch gelebt und geschrieben hat. Eine Mischung aus Ehrfurcht und zappeliger Vorfreude begleitete mich, als ich das Autole die Serpentinen von Vicovaro Richtung Licenza entlangsteuerte, immer höher hinauf in die bewaldeten Berge. Kurz vor Licenza das verheissungsvolle braune Schild, das in Italien archäologische Denkmale ankündigt, und ich bog auf eine schattige, baumbestandene gepflasterte Strasse, die in noch mehr sanften Kurven weiter nach oben führte. Dunkel, geheimnisvoll, umgeben von Grün – und so viel gepflegter, als ich erwartet hatte. Die übliche Zufahrt zu den obskureren Denkmälern in Latium ist oft eine staubige, schlaglochübersäte Schotterstrasse in wenig vertrauenerweckenden Gegenden, und meistens fährt man am Ziel vorbei, weil man gar nicht erkennt, dass da was sein soll. Horaz hat, wie es eines Dichterfürsten würdig ist, eine stilvolle Auffahrt und einen netten kleinen Parkplatz. Und dann – ist man erst mal baff und begeistert, wie gepflegt die Anlage ist. Das ganze grosse Grundstück ist umgeben von einem hochwertigem grünen Zaun. Nachdem die Italiener manchmal erstaunlich sorglos mit ihrem kulturellen Erbe umgehen, hatte ich erwartet, dass die Ruinen halt im Wald sich selbst überlassen sind und es ohnehin niemand interessiert. Aber wenn man die Mosaike gesehen hat, ist man nur froh, dass der Zaun Wildschweinchen abhält, da nachts drüberzutrappeln.

Gelbes, trockenes Gras, eine dicke Schicht an verdorrten Piniennadeln, die beim Drauftreten einen herrlichen harzigen Geruch ausatmeten, kleine Lärchenzapfen auf dem Boden, gelbe, vertrocknete Eichenblätter, scheinbar endlos sich erstreckende Grundmäuerchen, Treppen und tiefer liegende Reste von Gebäuden (wie war das noch mal mit dem bescheidenen Landgut?!), und kein Mensch ausser uns. Und wir waren vor Ehrfurcht und wegen der Magie, die dieser verlassene, vergangene Ort ausstrahlte, sprach – und atemlos. Gingen vorsichtig übers Gelände, stiegen über die Mäuerchen, schauten ungläubig die schwarz – weissen Mosaike an, die da einfach seit 2000 Jahren unter freiem Himmel liegen. Hatten das Gefühl, völlig allein zu sein auf diesem besonderen Ausflug in die Antike. Bis auf einmal am anderen Ende des Geländes ein untersetztes, rundliches Männchen auftauchte, der mit einem riesigen Buch auf uns zuwatschelte. Das dauerte, und während er näher kam, öffnete er den Band, trug ihn auf zwei Händen wie ein Messdiener die Heilige Schrift, hielt ihn uns feierlich hin und bat uns, uns ins Gästebuch einzutragen. Wie süss. Er trug ein weisses Poloshirt mit dem offiziellem Aufdruck irgendeiner archäologischen Vereinigung und sagte, dass es für sie sehr wichtig sei, einen Überblick über die Besucherzahlen zu bekommen. (Und man muss sagen: sie drängen sich nicht grade, die Besucher… Wir waren die ersten seit neun Tagen. Und auch davor war es eher übersichtlich…) Anscheinend gehört sein ganzes Herzblut der Anlage. Er liess es sich nicht nehmen, uns in einer kleinen Führung das Mosaik im Schlafzimmer von Horaz zu zeigen, die Therme mit ihren verschiedenen Becken, und das Fischbecken. Er beschrieb uns auch den Weg zur in Gedichten unsterblich gewordenen Bandusia – Quelle und watschelte dann betriebsam wieder davon. Und wir hatten das Gelände wieder ganz für uns. Ich hob ein paar gelbe, gezackte Blätter auf und einige Lärchenzapfen, die jetzt vor mir liegen, und wusste schon in dem Moment: das sind ganz besondere Andenken. Ich werde mich ewig an diesen friedlichen, abgelegenen Ort in den Bergen zurücksehnen.

Auf dem Hinweg waren wir von Tivoli und Vicovaro gekommen, voll durch die Zivilisation (Obi Tivoli, Ford Tivoli, Werbung für Komplettbegräbnis (950.-), und Zahnkronen (450.-) am Strassenrand). Jetzt dachten wir, wir fahren durch das Naturschutzgebiet da auf der Landkarte Richtung Orvinio. Könnte ja ganz nett sein. Die folgende halbe Stunde wurde unversehens eine der spektakulär schönsten Autofahrten der Reise: keine Ortschaft weit und breit, aber dunkelgrün bewaldete Hügel ohne Ende. Dunkles Grün, so weit das Auge reichte. Das ist für mich die Farbe und Essenz von Latium. Und es war so verdammt einsam – die ganze Zeit kam uns nicht mal ein Auto entgegen, und wir sagten uns, dass es in Kanada ähnlich sein müsste. Zu Zeiten von Horaz gab es hier Wölfe und Bären, und wenn man die Einsamkeit und Abgeschiedenheit des Landstrichs erlebt hat, glaubt man, dass das heute noch der Fall sein könnte. Ich trage die unglaublich schönen Aussichten immer noch im Herzen und bin froh über den spontanen Umweg.

Vom Inn an den Tiber: Bewahren

Andere Menschen versuchen nach dem Urlaub, ihre Sonnenbräune möglichst lange zu erhalten. Mein Vorsatz für diese Wochen: möglichst viel vom Freiheitsgefühl dieser wunderbaren zwei Wochen in Rom zu bewahren und in den Alltag hinüber zu retten. Denn man merkt erst, wie durchorganisiert, vollgestopft und anstrengend der eigene Alltag ist, wenn im Urlaub alles von einem abfällt und man mit diesem köstlichen neuen Gefühl erst mal gar nichts anfangen kann.

Aber wir haben es wieder gelernt, keine Sorge. Sehr viel dazu beigetragen hat, dass wir die ganzen sechzehn Tage ohne Internet und Telephon waren. Wir haben es keine Sekunde vermisst, im Gegenteil, wir wurden immer nostalgischer und haben oft zueinander gesagt: „das ist ja wie früher, einfach Bücher lesen auf der Terrasse…“. Aber ich habe festgestellt, wie ungesund ich normalerweise meine Tage beginne: meistens, weil die Zeit drängt und ich es irgendwann eh machen muss, mit eingeschaltetem Computer und den ersten Mails. In unserem wunderschönen Ferienhaus bin ich mit meinem ersten Kaffee im Nachthemd raus in den Garten und hab direkt vom übervollen Feigenbaum ein paar sonnenwarme Früchte gegessen, während ich den Eidechsen auf den Steinen zuschaute und sonst – überhaupt nichts tat. Oder das Kochen: zuhause passiert das oft in so einem multi-taskenden Zustand, dass ich danach erledigt und fertig bin und gar keinen Hunger mehr habe. In unserem Ferienhäuschen dreissig Kilometer östlich von Rom wurde es ein entspannendes Abendritual. Das Häuschen gehört einer offensichtlich gern kochenden Australierin, denn die hübsche, grosse Küche war perfekt ausgestattet (fast besser als meine eigene!), bis hin zu einem Meter Kochbüchern im Regal und sieben grossen Terracottatöpfen mit Kräutern im schattigen Innenhof. Ich goss sie jeden zweiten Morgen, langsam, liebevoll, aufmerksam – so ganz anders als meine Töpfe zuhause – und erlaubte mir deshalb, ein paar Zweige zum Kochen zu ernten. Die Feigen, Nektarinen und Trauben im Garten waren ausdrücklich im Preis inbegriffen – herrlich, oder? Von der Wohnküche ging es direkt auf die grosse West – Terrasse, und während ich entspannt kochte, ging ich mal zum lesenden Gatten auf die Terrasse, um ein paar Oliven und einen Schluck Wein zu mir zu nehmen, oder eben in den Innenhof zu den Kräutern, und alles langsam und genussvoll und ungehetzt. Nach dem Essen lasen wir in der samtigen, warmen Nacht mit Hilfe einer Stehlampe aus dem Haus noch lange auf der Terrasse. Und ich guckte auch oft einfach nur vor mich hin, auf die glitzernden Lichterketten der Städtchen auf den Albaner Bergen gegenüber, auf den jeden Tag runder werdender Mond, oder den erhellten Himmel über Rom. Das war Entschleunigung pur.

Und dieses frei und sorglos und einfach nur man selber sein… Das will ich auch noch etwas länger spüren. Italien mit dem eigenen Auto war absolut wundervoll. Wir sind ja bisher immer ethisch und politisch korrekt mit Zug und Bus gereist. Wie anstrengend und langatmig das ist, merkt man erst, wenn man eben anders reist. Ich sag nur: fermata a richiesta – Bedarfshaltestelle. Anders als bei gewissen Statuen macht es mir bei den blauen CoTral – Bussen, die in Latium verkehren, wenig Spass, die Rückansicht zu betrachten… Die flexible, kreative Fahrweise der Italiener kommt mir sehr entgegen. Wegen der Hitze hatten wir immer alle vier Fenster offen, was zum roadmovie-artigen Freiheitsgefühl beitrug: gebräunte Unterarme, ein bad-hair-day nach dem anderen, aber egal. Wenn ich für irgendwelche Ruinen ansehnlich aussehen wollte, stülpte ich mir den Sonnenhut auf die Haare und fertig.

Trotzdem war ich froh, dass ich, als wir die Verwandten in Rom besuchten, nicht als Räuberbraut ankam. Es ist mir tatsächlich schwer gefallen, mich nach dieser ersten Woche in Freiheit und nach ganz eigenen Regeln etwas zu zivilisieren, die Haare zu waschen und das nettere Kleidchen anzuziehen. Aber es war gut so: die Cousins des Gatten kamen, wie andere Römer auch, abends in Anzug und mit eleganten Schnürschuhen aus der Arbeit – bei 36 Grad wohlgemerkt. Und sie blieben auch so. Aber innerlich flatterten meine Haare noch, und wir hatten viel Spass. (Über die Verwandtschaft könnte man mehrere Artikel schreiben. Nur ganz kurz: es ist so, wie man es sich vorstellt, und ich habe noch nie so viele Papst – Kühlschrankmagneten an einem Kühlschrank gesehen.)

Wir sind bewusst mit dem Auto gefahren, weil wir nach mehreren Aufenthalten in der Innenstadt die Umgebung von Rom anschauen wollten. Die ganzen Juwelen, die man mit Öffentlichen kaum oder gar nicht erreicht. Und wenn man tagelang so durch römische Ruinen stakst oder in schattigen Etruskergräbern steht, kristallisiert sich noch eine andere Einsicht heraus: unser Leben ist so kurz. Wir sind so unbedeutend und nur so vorübergehend auf dieser Welt – warum eigentlich der ganze Stress? Wenn man in Jahrtausenden denkt, sind die eigenen Befindlichkeitsstörungen und Zukunftssorgen so was von nebensächlich. Wir gehören nicht zu den glücklichen Auserwählten, die der Welt grossartige Kunstwerke hinterlassen. Ich bin nun mal kein Hadrian und kein Beethoven. Ich kann sehr geniessen, was sie geschaffen haben – aber man könnte dieses ganze Rudern und Strampeln und Stressmachen einfach mal aufhören. Nicht jeder muss einer Epoche seinen Stempel aufdrücken. Vielleicht ist der Sinn des Lebens für uns normal Sterbliche, einfach nur – zu sein? Einfach da sein, Gutes tun, so weit wir können, sich um andere kümmern und so, aber einfach auch mal nur in der Sonne zu sitzen wie eine Eidechse. Ohne sich zu fragen, was heute abend und morgen und nächstes Jahr ist. Das ist der Plan für dieses Schuljahr.

Umfangen und geborgen

Häuser waren für mich schon immer Persönlichkeiten. Ich erinnere mich an manche Gebäude, in denen ich als Kind aus und ein gegangen bin, wegen des Gefühls, das mich sofort eingehüllt hat, wenn ich die Schwelle überschritten hatte. Ein  typischer, einzigartiger und unbeschreiblicher Geruch oder ein dämmriger Flur, in den die Sonne ein bestimmtes Dreieck aus Licht warf sind für immer mit den Personen verbunden, die in diesen Häusern lebten. Eins gehörte untrennbar zum Anderen. Und selbst wenn die Menschen, die diese Häuser gebaut haben, schon lange zu Staub geworden sind, spürt man ihre Gegenwart in ihren Gemäuern. Manchmal, weil es ohnehin geschichtsbeladene Orte sind, die heute der Öffentlichkeit zugänglich sind; manchmal weht einen ein Hauch von früher an, ohne dass man irgendwas über das Gebäude weiss. Und genau so unerklärlich ist es, warum man sich in manchen Häusern spontan wohlfühlt und in anderen quasi immer über die Schulter schauen will, weil die Geister gar zu unsympathisch sind. Warum man manche Wohnungen ablehnt, auch wenn Lage und Preis in Ordnung wären (ich hab mal eine Wohnung besichtigt, in der ich nur gesträubte Haare hatte – die Maklerin pries sie an, als ob alles wunderbar wäre, und die Sonne schien, aber ich erfuhr erst danach und durch Zufall, dass eine verblutete Leiche eine Woche in dieser Wohnung gelegen hatte. Eine Woche!! Und das war zwei Monate vor der Besichtigung!) Und es gibt auch den seltsamen Fall, dass Häuser mit einer eigentlich unguten Geschichte eine positive Ausstrahlung haben können – da fragt man sich, ob wir mit unserem nur vorübergehenden Dasein Häusern unseren Stempel doch nicht so stark aufdrücken können, dass sie davon beeinflusst werden. Die Steine überdauern uns und sind vielleicht doch unabhängig von dem, was sich in ihnen abgespielt hat. Und die ursprünglich gute Idee, die jedem Bau vorangeht, ist vielleicht stärker als das, was sich dann darin abgespielt hat.

Ich suche grade etwas verkopft nach Argumenten, warum ich mich in einem Haus mit einer besonderen und seltsamen Geschichte so ausserordentlich wohl fühle. Denn anfangs wusste ich nichts über das Haus, in dem ich seit Monaten regelmässig aus und ein gehe. Ich kenne es schon seit Jahren von Besuchen und Essenseinladungen und fand es von der ersten Sekunde an unglaublich gemütlich und einladend. Es ist eine grosszügige, flache Villa im Dreissigerjahrestil in einem noch grosszügigeren Grundstück. Zur Strassenseite hin ist sie eher unscheinbar und fällt nicht weiter auf, aber zum Garten hin öffnet sie sich in einem ganz breit gezogenen Halbrund. Überhaupt fand ich den Grundriss immer leicht seltsam und undurchschaubar bei Besuchen. Inzwischen hab ich die grosse Haustour hinter mir und weiss mehr über das Gebäude, und da die Entwürfe und Zeichnungen in einem Wiener Architekturarchiv für jedermann einsehbar sind, erlaube ich mir, hier drüber zu schreiben in der Hoffnung, die Privatsphäre der Bewohner trotzdem zu wahren (immer diese Gratwanderung beim Blogschreiben!) Das eindrucksvolle Anwesen wurde von Lois Welzenbacher entworfen, einem österreichischen Architekten, der 1889 geboren wurde und seine Hauptschaffenszeit vor dem zweiten Weltkrieg hatte. Welzenbacher entwarf hauptsächlich Häuser für den alpinen Raum, und er liebte es, die Gebäude mit oft ungewöhnlichen Grundrissen organisch in die Landschaft einzufügen. Das Wasserburger Haus ist ganz typisch für seine Vorgehensweise: an der höchsten Stelle, von der Strasse her eher abweisend, zur Aussichtsseite hin grandios und offen. Das Haus hier steht an einem der höchsten Punkte Wasserburgs und bietet im Winter, wenn die Bäume kahl sind, eine unglaubliche Sicht auf den Fluss und alles, was sich an der anderen Seite darüber erhebt.

Ich mochte das Haus von Anfang an, weil ich eine Schwäche für farbige Fensterläden und überhaupt alte, gerundete Fenster und Fensterbänke habe. (Egal, welche Jahreszeit: ich sehe da immer Chancen für adventliche Dekoration mit schlichtem Tannengrün und Kerzen.) Und der Eingangsbereich ist grosszügig und gemütlich, wie eine Umarmung. Und die wunderschönen alten Dielen und die Schiebetür zum Wohnzimmer, in dem wir Klavier spielen, und die Terrassentüren neben dem Klavier, und die Holztreppe in den ersten Stock mit den unterschiedlich bemalten Stufen – alles strahlt eine Wärme, Geborgenheit und Gemütlichkeit aus, die moderne Häuser nie haben können.

Ende des letzten Winters fingen meine Bekannte und ich an, ernsthaft Klavierduo zu üben. Bei den ersten Proben war der Garten kahl und leer. Wenn ich kam, prasselte ein Feuer im Ofen, und wochenlang musste ich als erstes den Regenschirm ausschütteln und aufstellen. Nach der Regenzeit tauchten die ersten Tränenkrüglein büschelweise auf an der Terrassentür neben dem Flügel, auf dem ich immer spiele. Dann die Osterglocken und Tulpen. Dann kam der Frühsommertag, an dem wir zum ersten Mal die Türen offen liessen, weil es so angenehm war. Dann kam die Hitze, und an einem heissen Julimorgen, als ich auf dem kurzen Spaziergang schon fast verschmachtete, empfing mich das Haus kühl, schattig und winddurchweht: buchstäblich alle Türen waren offen, in alle Himmelsrichtungen. Aus dem parkähnlichen Garten kamen leichte Lüftchen, die Kugeln an einem der Kronleuchter wackelten im Wind und eine Amsel machte wirklich und wahrhaftig wiederholt einen Rhythmus aus unserem Brahms nach. Ich bin es überhaupt nicht gewöhnt, bei offenen Fenstern Musik zu machen, aber durch die Alleinlage des Gebäudes stört man keinen, und es ist eigentlich der reinste Luxus, so inmitten der Natur Klavier zu spielen. Und noch mehr als im  Winter hatte ich das Gefühl, dass die beiden riesigen Flügel wie Schiffe sind, an denen wir – weit voneinander entfernt – wie zwei (mehr oder weniger planvoll vorgehende…) Kapitäne sitzen und dass wir vielleicht, wenn es besonders schön läuft, irgendwann auf den Wogen unserer Musik runter in den Inn gleiten können und da weiter schwimmen…

Unser vielzitiertes und bei vielen Tassen Tee geplantes Hauskonzert wabert aber noch in unsicherer Ferne. Vor allem, weil meine Partnerin nach dem Klavierstudium noch was Vernünftiges studiert hat und schlicht und einfach keine Zeit zum Üben hat. Den Willen schon, und die Lust auch, aber ich verstehe ihr Zeitproblem absolut. Und dann, weil wir eben nicht nur üben… Sondern auch gern reden. Über das Haus zum Beispiel. Und da kam Erstaunliches raus – oder vielleicht doch nicht, bei einem Haus, das in den Dreissigerjahren gebaut wurde? Es wurde in Auftrag gegeben von einem Wasserburger Nazi – Oberfunktionär, der dann hier wohnte und auch Bürger empfing und so. Man kann sich vorstellen, dass hier wirklich haarsträubende Dinge besprochen wurden – aber mir sträuben sich die Haare nicht. Gar nicht. Der Architekt hat vielleicht so viel Gutes hier reingesteckt, dass die schlimme Zeit davon überdeckt wird. Und es wurde ja seither mit vielfältigem anderen Leben gefüllt, vielleicht hat das auch was für die Aura des Hauses getan.

Und jetzt machen wir auch noch Musik zur Aura – Optimierung, wenn wir nicht Tee trinken. Da die Haydn – Variationen, an denen wir zugegeben den grössten Spass haben, für meine Partnerin mit ihren kleinen Händen sehr schlecht liegen, hab ich sie aufgefordert, das nächste Stück vorzuschlagen. Nach kurzem Überlegen meinte sie: „Ravel, La Valse?“ Und ich entgegnete mit professioneller Miene: „Hm, ja, Ravel, warum nicht?“ (Und innerlich: „ja ja ja!! Soll ich die Noten besorgen? Wann fangen wir an? Welche Stimme soll ich üben? Können wir sofort jetzt gleich anfangen, bitte?“ Ich bin wirklich unschuldig an diesem Ravel!)

Fotos: Archiv für Baukunst und Austria – Forum; Häuser in Linz, Barbiano und Zell am See

…“breathing dreams like air“

Mein Vorhaben, endlich Klassiker zu lesen, um die ich bisher einen Bogen gemacht habe, hat in den letzten Monaten zu wunderbaren Entdeckungen geführt: nach Homer, der mich restlos überrascht und begeistert hat, bin ich ins Amerika der Zwanziger Jahre gehüpft und habe mit F. Scott Fitzgerald einen anderen grossen Dichter entdeckt. Bei beiden hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie wahre Poeten sind. Ich habe immer mit den Vorurteilen gelebt, dass Homer ein genauer, vielleicht trockener Chronist ist, der kein Ende finde, und Fitzgerald ein glitzernder, schillernder Chronist einer verrückten Zeit, der hauptsächlich seine Träume und Illusionen lebt. Nach der Lektüre muss ich sagen: beides trifft in einem kleinen Umfang zu, aber – warum spricht niemand darüber, was für eine sagenhafte Sprache beide haben? Fitzgerald hat mich wirklich umgehauen, grade, weil ich keine all zu grossen Erwartungen hatte. Ich kannte den üblichen Klatsch: dass er und seine Frau das Glamourpaar des Jazz Age waren, in Hoteldrehtüren Karussell fuhren, in voller Abendgarderobe in öffentlichen Brunnen badeten, feierten bis zum Umfallen und fatal viel tranken. Dass es mehr als Klatsch, sondern ihr ganz alltäglicher Lebenswandel war, bestätigte eine sehr gut geschriebene Biographie von Michaela Karl, zu der mir eine Freundin verholfen hat. Trotzdem war ich wild entschlossen, endlich etwas von ihm zu lesen.

Ich begann mit Kurzgeschichten und war sofort gebannt. Ich hatte keine Ahnung, wie betörend schön er schreibt. Das ist allerhöchste Sprach – und Schreibkultur! Etwas zeitgebunden, natürlich, aber für mich sind Stimmgabeln, die an den Sternen angeschlagen werden, eine kaum menschlich zu nennende Orchidee einer Frau oder Tonleitern, die wie Silber über mondbeglänzte Buchten schweben, grade recht. Es gibt haufenweise Stellen, die man anmerken, immer wieder lesen und auswendig lernen will. Der glamourös aufgemachte Band Kurzgeschichten war eigentlich ein Versuch, ihm eine Chance zu geben. Aber ich war süchtig und machte sofort weiter mit „Tender is the Night“. Ein wunderbarer und gleichzeitig bedrückender Ausflug an die Riviera aus Sicht eines Amerikaners – das war auch deshalb spannend, weil ich bisher nur in Begleitung exzentrischer Engländer dort gewesen war. Mit dem Train Bleu und so. Aber es ist doch was ganz anderes, mit dem Schiff über den Ozean zu kommen und in Genua anzulegen… Trotz immer mehr manifest werdender Ehe- und Gesundheitsprobleme war auch das faszinierende Lektüre, die ich sicher wiederholen werde. Schon einfach wegen dieser Sprache.

Die berühmteste Schullektüre überhaupt, die in den USA immer noch 300 000 Mal im Jahr verkauft wird, habe ich immer mit Argwohn betrachtet. Einmal, weil unsere Schullektüre dieser Jahrgangsstufe – Bölls „Ansichten eines Clowns“ – so was von trocken und öde war und so gar keine Lust auf Literatur machte. Ich fürchtete, dass der Gatsby ähnlich unterhaltsam wäre und war auch skeptisch, weil ich oft mit Werken/Filmen/Sehenswürdigkeiten, die als „der grösste“ (amerikanische Roman) angepriesen werden, wenig anfangen kann. Trotzdem beschloss ich, über die Stränge zu schlagen und mir auch hier die Luxusausgabe zu kaufen, und zwar in Paris, in einem gewissen überfüllten Buchladen gegenüber von Notre Dame, in dem auch die Fitzgeralds in ihrer Zeit dort aus und ein gingen… Bin ich froh, dass ich so eine schöne Ausgabe habe: es wird garantiert eines meiner Lieblingsbücher bleiben. Nicht unbedingt wegen der Handlung – die ist jetzt nicht sensationell – , aber wegen des Lebensgefühls, wegen der ewigen Sehnsucht und Suche nach dem grünen Licht am Ende des Stegs, wegen des Bewusstseins, was Illusionen in unserem Leben bedeuten („The sentimental person thinks things will last – the romantic person has a desperate confidence that they won’t.“) Und weil es, wenn man moralische und menschliche Bedenken mal aussen vor lässt, schon wunderbarer Eskapismus ist, sich in diese glamouröse Welt hineinzuträumen. Darf schon mal sein, oder? Denn anders als Fitzgerald bin ich viel zu nüchtern und realistisch, um krampfhaft dazugehören zu wollen. Ich würde behaupten, dass ich auch in seinem Alter nicht so verführbar gewesen wäre (ich denke, das ist auch einer der Aspekte, warum es Schullektüre ist – welche Opfer man bringen will, um zu einer bestimmten Gruppe zu gehören, überhaupt der ganze soziologische Hintergrund des Romans). Aber jetzt habe ich nichts gegen gelegentliche Tagträume… Und wenn ich eine Zeitreise machen dürfte und weder Gustav Mahler noch Virginia Woolf Zeit für ein Abendessen hätten (oh, und Maurice Ravel keine Zeit zum Vierhändigspielen – gibt’s eigentlich miles and more für Zeitreisen?!), dann würde ich gern nach Long Island reisen, auf eine von Gatsby’s Parties… Im passenden Seidenkleid, versteht sich…

Und, was wären Eure Lieblings – Zeitreisen?