Archiv der Kategorie: am Grübeln

Elitär

Letzten Sommer gab der Bariton Thomas Hampson einen Liederabend bei den Münchner Opernfestspielen. Ursprünglich war ein Programm unter dem Motto „Die Götter Griechenlands“ vorgesehen. Deshalb lud ihn die Süddeutsche Zeitung zu einem Interview in die Glyptothek ein, um in Anwesenheit der Götter über sie zu sprechen. Die ganzseitige, mit vielen in der Glyptothek entstandenen Fotos versehene Serie nennt sich „SZ Kultursalon“. Dies nur vorneweg, weil ich mich gleich aufregen muss. Denn ich liebe Thomas Hampson und seine amerikanische „alles ist machbar“ – Herangehensweise seit vielen Jahren. Er ist mit einer wunderbaren Stimme gesegnet, aber das ist nur die halbe Miete: ohne Disziplin, Mut und Optimismus kommt man als Musiker nicht weit, und er strahlt optisch und musikalisch einfach eine Riesenportion Optimismus aus, aber eben auf diese für mich typisch amerikanische Art. Die ich in meinem Studienjahr dort eindrucksvoll kennenlernen durfte. Es ist zwar lange her, aber dort herrschte eine andere Grundeinstellung, an der sich glaube ich nicht viel geändert hat: staatliche Leistungen gibt es kaum, jeder ist in einem viel grösseren Umfang als hier für sich selbst und sein Wohlergehen verantwortlich. Und jeder wächst in diesem Wissen auf. Wer weiterkommen will, muss halt was dafür tun.

So, jetzt zu diesem Artikel. Hampson wird gefragt, ob Liederabende überhaupt eine Zukunft haben. Und er antwortet so wunderbar, dass man es rahmen und aufhängen möchte:

„Es ist die Frage, was wir in unserer Freizeit tun und wie weit wir sie für Bildung nutzen wollen. Bildung heisst ja nicht nur, etwas zu wissen, sondern sich weiterzuentwickeln, mehr zu erfahren und jeden Tag danach zu streben, ein besserer Mensch werden zu wollen.“

Die Gegenfrage der SZ ist wie eine kalte Dusche:

Das klingt ein bisschen elitär. Ist Klassik elitär?

Hampson konterte Gott sei Dank mit „Nein, das ist absoluter Blödsinn.“ Ich wäre noch deutlicher geworden und stand und stehe kurz vor einem Leserbrief. Wie kann man jemand in den absoluten Musentempel einladen und dann so depperte Fragen stellen? Wer ist jetzt elitär?! Die, die einen sogenannten Kultursalon unterhalten, oder die, die mit ihrem ganzen Herzblut für eine immer unwichtiger werdende Sache kämpfen und dabei noch völlig vernünftige Ansichten haben?

Vielleicht wollten die beiden Journalisten auch von einem unangenehmen Aspekt von Hampson’s Äusserung ablenken: es steht ja wirklich jedem frei, wie er seine freie Zeit verbringt. Aber es ist eventuell etwas anstrengender, etwas für seine Bildung zu tun, auf welchem Weg auch immer, als sich ein Fussballspiel anzusehen oder drei Stunden lang fernzusehen. Aber jeder Mensch hat 24 Stunden am Tag, und jeder kann entscheiden, wo seine Prioritäten liegen. Man sollte es niemanden neiden, wenn bei den einen vielleicht was hängen bleibt, was das Leben bereichert. Die anderen haben dafür was für ihre Tiefenentspannung getan und fühlen sich deshalb so gut wie jemand, der ein paar Stunden im Museum verbracht hat. Und Zugang zu den vermeintlich elitären Einrichtungen hat inzwischen eigentlich jeder: jeder darf in jede Bibliothek reinspazieren und dort Bücher lesen, sonntags kann man für einen Euro in die Münchner Museen. (Und ich verkneife es mir, darauf hinzuweisen, dass komplett freier Eintritt in Museen und Theater – die ultimative Abschaffung von Schranken vor einer vermeintlich nur einer Elite zugänglichen Art der Unterhaltung – von Empfängern von Sozialleistungen so gut wie nicht in Anspruch genommen wird. Da spielen natürlich Berührungsängste und die fehlende Vertrautheit/ die fehlende Schulbildung mit hinein – gegen die gewisse Zeitungen eigentlich was tun könnten. Aber dann müssten diese Zeitungen auch gelesen werden… Es ist ein Teufelskreis.)

Und „Bildung“ klingt doch tatsächlich nach Anstrengung, stundenlangem Büffeln, unangenehmen Erinnerungen an die Schulzeit, Bedauern, die Zeit nicht für was Netteres nutzen zu können. Das ist auch so ein Problem – dass viel zu wenige erfahren, wie spannend und beglückend es sein kann, was Neues zu lernen oder tiefer einzutauchen in ein Thema, das einen fasziniert. Und der Anstoss, sich mit etwas eingehender zu beschäftigen, muss nicht unbedingt von Menschen kommen, die extra dafür ausgebildet sind, also Lehrern oder Professoren. Bildung findet gar nicht immer in Klassenzimmern statt. Es kann die Begegnung mit einem Musiker wie Hampson sein, die dazu führt, dass man sich mit Schuberts Welt beschäftigt. Oder die Abbildung in einem Kunstgeschichtebuch, die einem fast den Schlaf raubt und einen veranlasst, irgendwann im Leben an diesen Ort, in dieses Museum zu fahren und zuvor so viel wie möglich drüber zu lesen. Oder die Faszination für eine Sprache… Oder eine Epoche oder einen Baustil… Alles, was man sich abends oder am Wochenende in Eigeninitiative aneignet, bleibt ganz anders hängen. Und beglückt einen auch ganz anders als damals eine schnöde Schulaufgabe, bei der man ja mehr um der Note als um des Wissens willen gelernt hat. Und diese Art von Bildung, die täglich und in jedem Alter stattfinden kann, ist wirklich nicht elitär und dank Internet komplett kostenlos.

Mir gefällt auch, dass Hampson andeutet, dass es keine limitierte Zeitspanne im Leben gibt, um Wissen zu erwerben. Es geht weiter, nachdem man sein Abschlusszeugnis oder Unidiplom in der Tasche hat. Und wenn man Lust hat, kann es ein ganzes Leben lang weitergehen, dieses Wachsen und Reicher-Werden. Ich bin immer heilfroh, wenn ich bei einer Einladung neben jemand sitze, von dem ich weiss, dass  er oder sie ein lebenslanger Lerner ist, egal welches Alter – diese Gespräche sind viel interessanter und müheloser. Und inspirieren mich oft selber, irgendwas nachzuschauen, über das wir gesprochen haben.

Ich bin froh, dass es Menschen wie Thomas Hampson gibt, die die Fackel noch hochhalten. Weil es lebenswichtig ist und er so viele Menschen wie möglich erreichen will, singt er weiter. Und ich bewege mich am anderen, ganz bescheidenen Ende der Skala und lege mit kleinsten Bausteinen den Weg zum grossen Ganzen und frage jeden Herbst wieder: „Hör mal zu, ich spiele dir zwei Akkorde vor. Welcher klingt trauriger?“ Und es wird nie unwichtig oder langweilig. Weil ich überzeugt davon bin, dass es sinnvoll und wichtig ist. Musik, Kunst überhaupt darf nichts für eine Elite sein. Ich möchte so vielen Menschen wie möglich helfen, zu erkennen, was ewig ist und was bleibt. Was andere vor uns geliebt haben und andere nach uns hoffentlich auch noch.

(Foto: neverwordless)

…“breathing dreams like air“

Mein Vorhaben, endlich Klassiker zu lesen, um die ich bisher einen Bogen gemacht habe, hat in den letzten Monaten zu wunderbaren Entdeckungen geführt: nach Homer, der mich restlos überrascht und begeistert hat, bin ich ins Amerika der Zwanziger Jahre gehüpft und habe mit F. Scott Fitzgerald einen anderen grossen Dichter entdeckt. Bei beiden hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie wahre Poeten sind. Ich habe immer mit den Vorurteilen gelebt, dass Homer ein genauer, vielleicht trockener Chronist ist, der kein Ende finde, und Fitzgerald ein glitzernder, schillernder Chronist einer verrückten Zeit, der hauptsächlich seine Träume und Illusionen lebt. Nach der Lektüre muss ich sagen: beides trifft in einem kleinen Umfang zu, aber – warum spricht niemand darüber, was für eine sagenhafte Sprache beide haben? Fitzgerald hat mich wirklich umgehauen, grade, weil ich keine all zu grossen Erwartungen hatte. Ich kannte den üblichen Klatsch: dass er und seine Frau das Glamourpaar des Jazz Age waren, in Hoteldrehtüren Karussell fuhren, in voller Abendgarderobe in öffentlichen Brunnen badeten, feierten bis zum Umfallen und fatal viel tranken. Dass es mehr als Klatsch, sondern ihr ganz alltäglicher Lebenswandel war, bestätigte eine sehr gut geschriebene Biographie von Michaela Karl, zu der mir eine Freundin verholfen hat. Trotzdem war ich wild entschlossen, endlich etwas von ihm zu lesen.

Ich begann mit Kurzgeschichten und war sofort gebannt. Ich hatte keine Ahnung, wie betörend schön er schreibt. Das ist allerhöchste Sprach – und Schreibkultur! Etwas zeitgebunden, natürlich, aber für mich sind Stimmgabeln, die an den Sternen angeschlagen werden, eine kaum menschlich zu nennende Orchidee einer Frau oder Tonleitern, die wie Silber über mondbeglänzte Buchten schweben, grade recht. Es gibt haufenweise Stellen, die man anmerken, immer wieder lesen und auswendig lernen will. Der glamourös aufgemachte Band Kurzgeschichten war eigentlich ein Versuch, ihm eine Chance zu geben. Aber ich war süchtig und machte sofort weiter mit „Tender is the Night“. Ein wunderbarer und gleichzeitig bedrückender Ausflug an die Riviera aus Sicht eines Amerikaners – das war auch deshalb spannend, weil ich bisher nur in Begleitung exzentrischer Engländer dort gewesen war. Mit dem Train Bleu und so. Aber es ist doch was ganz anderes, mit dem Schiff über den Ozean zu kommen und in Genua anzulegen… Trotz immer mehr manifest werdender Ehe- und Gesundheitsprobleme war auch das faszinierende Lektüre, die ich sicher wiederholen werde. Schon einfach wegen dieser Sprache.

Die berühmteste Schullektüre überhaupt, die in den USA immer noch 300 000 Mal im Jahr verkauft wird, habe ich immer mit Argwohn betrachtet. Einmal, weil unsere Schullektüre dieser Jahrgangsstufe – Bölls „Ansichten eines Clowns“ – so was von trocken und öde war und so gar keine Lust auf Literatur machte. Ich fürchtete, dass der Gatsby ähnlich unterhaltsam wäre und war auch skeptisch, weil ich oft mit Werken/Filmen/Sehenswürdigkeiten, die als „der grösste“ (amerikanische Roman) angepriesen werden, wenig anfangen kann. Trotzdem beschloss ich, über die Stränge zu schlagen und mir auch hier die Luxusausgabe zu kaufen, und zwar in Paris, in einem gewissen überfüllten Buchladen gegenüber von Notre Dame, in dem auch die Fitzgeralds in ihrer Zeit dort aus und ein gingen… Bin ich froh, dass ich so eine schöne Ausgabe habe: es wird garantiert eines meiner Lieblingsbücher bleiben. Nicht unbedingt wegen der Handlung – die ist jetzt nicht sensationell – , aber wegen des Lebensgefühls, wegen der ewigen Sehnsucht und Suche nach dem grünen Licht am Ende des Stegs, wegen des Bewusstseins, was Illusionen in unserem Leben bedeuten („The sentimental person thinks things will last – the romantic person has a desperate confidence that they won’t.“) Und weil es, wenn man moralische und menschliche Bedenken mal aussen vor lässt, schon wunderbarer Eskapismus ist, sich in diese glamouröse Welt hineinzuträumen. Darf schon mal sein, oder? Denn anders als Fitzgerald bin ich viel zu nüchtern und realistisch, um krampfhaft dazugehören zu wollen. Ich würde behaupten, dass ich auch in seinem Alter nicht so verführbar gewesen wäre (ich denke, das ist auch einer der Aspekte, warum es Schullektüre ist – welche Opfer man bringen will, um zu einer bestimmten Gruppe zu gehören, überhaupt der ganze soziologische Hintergrund des Romans). Aber jetzt habe ich nichts gegen gelegentliche Tagträume… Und wenn ich eine Zeitreise machen dürfte und weder Gustav Mahler noch Virginia Woolf Zeit für ein Abendessen hätten (oh, und Maurice Ravel keine Zeit zum Vierhändigspielen – gibt’s eigentlich miles and more für Zeitreisen?!), dann würde ich gern nach Long Island reisen, auf eine von Gatsby’s Parties… Im passenden Seidenkleid, versteht sich…

Und, was wären Eure Lieblings – Zeitreisen?

A morbid longing for the picturesque

Am Wochenende war ich auf einer kleinen, feinen Fortbildung für Klavierlehrer, die bis zur letzten Sekunde interessant war. Oft dümpelt grade die letzte Stunde von solchen Tagen mühsam vor sich hin, begleitet von kaum verhohlenen Blicken auf die Uhr bis zur erlösenden Frage, ob man nicht eine halbe Stunde früher aufhören will. Hier hatten wir sogar überzogen, da es im kollegialen Austausch so viele Fragen zu klären gab. Das Bereichernde war, dass es, anders als bei Fortbildungen von Verlagen oder den sehr wissenschaftlich ausgerichteten an der Hochschule, ausschliesslich um Fragen und Problemstellungen im Unterrichtsalltag ging. Und egal, wie lange man schon unterrichtet: man kann immer eine neue Erkenntnis, eine unbekannte Idee für sich und seine Schüler mitnehmen und startet beschwingter in die neue Unterrichtswoche.

Fast der ganze Vormittag war reserviert für die Vermittlung der Grundlagen im Anfangsunterricht. Als unverzichtbare Elemente wurden bearbeitet: Haltung, Notenlesen, Rhythmus, Technik. Am Rande gestreift wurde die Ausbildung der Klangvorstellung, die Wichtigkeit, auf Klangschönheit hinzuweisen und zu achten. Ich glaube, das war das einzige Mal an diesem Tag, dass der Begriff „Schönheit“ erwähnt wurde.

Dabei ist er für mich so elementar! Im Anfangsunterricht, bei den Fortgeschrittenen, überhaupt beim Klavierspielen, und im ganzen Leben! Wir diskutierten so detailliert, dass vor dem Mittagessen keine Zeit mehr blieb, sich entsprechend einzuklinken, und danach waren wir bei anderen Themen. Und wenn man eher abwegige Ideen hat, fragt man sich ja selber, ob diese Fragen von allgemeinem Interesse sind oder die anderen innerlich stöhnen, wenn man jetzt nachhakt. Und natürlich hat man Zweifel, wie man diesen so schwer zu definierenden Begriff überhaupt unterbringen will. Dabei bin ich überzeugt, dass alle von uns unterschreiben würden, dass Musik mit Schönheit zu tun hat. Und dass es letztlich das Ziel von diesem ganzen Notenlesen, der richtigen Haltung, der rhythmischen Sicherheit ist, Schönheit in die Seelen der Zuhörer zu transportieren. Deshalb sollte eine gewisse ästhetische Erziehung von Anfang an zum Unterricht gehören.

Vielleicht scheut man sich auch davor, das anzusprechen, weil es nicht nur enorm schwer ist, zu sagen, was Schönheit eigentlich ist, sondern weil es auch sehr subjektiv ist. Für mich kann ein barbarischer, grausiger Bartok eine gewisse Art von haarsträubender Schönheit haben (denn die gibt es schon auch, oder?) – in der Runde gab es aber eine Kollegin, die den „Mikrokosmos“ kategorisch und eindeutig ablehnt und ihren Schülern nie so was vorsetzen würde. Es wäre sinnlos, darüber zu diskutieren. Aber mit Schülern kann und muss man diskutieren, es gehört zur Erziehung dazu, sie im Dialog mit gegensätzlichen Meinungen etwas zu provozieren und so einen eigenen Standpunkt finden zu lassen. Und grade weil das, was wir machen, unsichtbar ist, ist es wichtig, Bilder vor seinem inneren Auge zu haben.

Ich hab im Lauf meines Lebens mit Erstaunen festgestellt, dass es Menschen gibt, die weniger schönheitssüchtig sind als ich, oder sogar überhaupt nicht. (Was man nicht aller lernt!) Auf eine gewisse Art beneide ich Menschen, die gar kein Interesse daran haben, hinter die Dinge zu sehen und nach ihrer Geschichte zu fragen, oder sich zu fragen, wie man gewisse Bilder und Farben und Gefühle verknüpfen kann. Ich fürchte, diese Realisten und Pragmatiker haben es leichter im Leben und kommen schneller dahin, wo sie hinwollen. Ich bewundere sie, weil ich mich immer zu viel mit der „morbiden Sehnsucht nach dem Malerischen“, wie Donna Tartt es so wunderschön ausdrückt, aufhalte. Trotzdem ist und bleibt sie mir wertvoll, diese Sehnsucht, und ich versuche, auch den aller – realistischsten Pragmatikern unter meinen Schülern ein bisschen von diesem Zauberpulver mitzugeben. Denn auch das ist nur Erziehungssache. Manche müssen sich vielleicht mehr anstrengen, um Bilder zu sehen – andere erzählen mir spontan und ungebremst, was sie fühlen, oder malen es auf bis zur nächsten Stunde, oder schreiben Gedichte darüber.

Abgesehen von allem anderen, was wir den Schülern mitgeben wollen, ist es einfach schön, ihnen die Augen zu öffnen für Momente – seien es musikalische oder optische in der ganz normalen, sichtbaren Welt. Wie die wertvollen Sekunden, wenn der See hinter unserem Grundstück im Abendlicht aufleuchtet. Man sieht das nur im März, wenn die Bäume noch kahl sind und die Sonne in einem gewissen Winkel steht. Plötzlich fängt das Klavierzimmer an, gelb und golden zu strahlen. Lange, warme Sonnenstrahlen und Reflexe vom Wasser zittern hinter uns über die Wand, und egal, wie oft ich es schon erlebt habe: es ist immer ein magischer Moment. Kürzlich passierte es, quasi als Zugabe von oben, als ich mit einem älteren Schüler Ravels „Pavane pour une infante défunte“ übte, die vierhändige Fassung für den Klaviersommer. Er ist sehr weit und einfach schon ein richtiger Musiker, und wir verloren uns in der zarten Traurigkeit und zeitlosen Schönheit dieser Erinnerung an eine tote Prinzessin. Und als wir wortlos die Zeit dehnten und anhielten und wieder fliessen liessen – kam dieses vom Wasser reflektierte Strahlen und hüllte uns noch mehr ein als die Musik. Wir spielten weiter, schauten uns aber kurz an – ich glaube, er hat das gleiche gedacht wie ich. Zwei Tage später sass ich mit einem Kleineren an der selben Stelle, als die Sonne kurz vor dem Untergehen wieder ins Zimmer schien. Der Kleine wurde still, schaute um sich und in den Garten und sagte: „Der Teich ist in Gold getaucht.“ Und ich denke gleichzeitig, ganz überwältigt: wo schreib ich das auf? Wo ist ein Taschentuch für mich? Super, der Kleine hat sein Abschlusszeugnis in ästhetischer Erziehung praktisch in der Tasche… (Und ich mag den Racker genau so gern, wenn er sich beim Stundenwechsel dramatisch seinem Bruder entgegenschmeisst und ruft: „Endlich bist du da! Rette mich aus dieser Hölle!“)

Langsamer Genuss

Als ich kürzlich „Die geheime Geschichte“ praktisch verschlang und kaum aus den Händen legen wollte, um irgendwas anderes zu tun, bemerkte ich, dass es mir gleichzeitig etwas peinlich war. Es hatte definitiv etwas davon, wenn man eine Tüte Chips, weil sie nun schon mal offen ist, bis zum letzten Krümel vertilgt, obwohl einem klar ist, dass das nicht gut ist. Aber aufhören will man auch nicht. Wie kommt es, dass man sich trotz besseren Wissens manchmal versklaven lässt von leicht Konsumierbaren, seien es ungesunde, leckere Lebensmittel, fesselnde Bücher, bestimmte Musik oder Fernsehserien, bei denen man denkt „eine Folge geht noch“? Es ist ein seltsames Phänomen, und wahrscheinlich müssen ein paar Faktoren zusammenkommen, damit man bereit ist, sich so komplett für ein paar Stunden aus dem Alltagsgeschehen auszuklinken. Es hat was mit Weltflucht zu tun. Entweder ist man mit einer Situation unzufrieden, die man mit ein bisschen Anstrengung selber lösen könnte – aber erst, wenn man vielleicht dieses Buch ausgelesen hat. Oder, sehr beliebt bei mir, wenn es richtig viel zu tun gibt: eine fatale Art von Prokrastination vor Aufgaben, die mich eh fast überfordern, denen ich ohnehin kaum gerecht werden kann in dem bisschen Zeit, das mir dafür bleibt, und die ich auf die lange Bank schiebe mit der Hoffnung, dass der Terminstress dann so einen Adrenalin – und sonstigen Schub von Disziplin auslöst, dass ich es in der Hälfte der Zeit schaffe. Was irgendwie meistens hinhaut – und dann hab ich trotzdem noch das Vergnügen gehabt, jenen Roman zu lesen.

Bei meinen Schülern ist es ähnlich. Wie könnte es anders sein… Gäbe ich ein Präludium und Fuge in As – Dur auf (ich schreibe hier wohlweislich „gäbe“…), würde es Heulen und Zähneknirschen geben. Doch ein Einaudi in As – Dur? Da wird mit keiner Wimper gezuckt, nur genickt und mit begeistert aufgerissenen Augen gefragt, ob ein Übezimmer frei ist. Jetzt gleich und sofort. Und die meisten spielen mir nach einer Woche sechs oder acht Seiten fehlerfrei vor und betonen, wie viel Spass es macht. Ich glaube, es ist das gleiche Phänomen: leichte Kost, aber suchterzeugend schön. Damit will ich weder Donna Tartt, die an jedem ihrer Romane bisher zehn Jahre geschrieben und gefeilt hat, Unrecht tun noch dem geschätzten Ludovico Einaudi, ohne dessen nicht abreissenden Strom an Einfällen ich mindestens die Hälfte meiner über Fünfzehnjährigen längst verloren hätte. Populär muss nicht zwangsläufig schlecht sein, überhaupt nicht. Vielleicht sollte man es auch überhaupt nicht bewerten, sondern sich freuen, dass einem manche Sachen schneller und leichter zufliegen?

Aber ganz wohl ist mir nicht bei der Sache. Ich bin auch ehrlich gesagt skeptisch, was davon für die Ewigkeit Bestand haben wird, falls man mal ganz weit denken will… Oder wenn man nur die berühmte einsame Insel nimmt: ausschliesslich Einaudi, den ich privat eh nicht anhöre, würde mich umbringen. Bach könnte ich jahrzehntelang und immer wieder von vorne hören  – so wie im richtigen Leben. Und mit dem Lesen: vor drei Jahren habe ich den Sommer damit verbracht, den „Zauberberg“ zu lesen. Ich glaub, ich hab sechs Wochen gebraucht. Weil man eben nicht atemlos wie ein Junkie die Seiten umblättert, sondern eine Seite liest, sich eine Tasse Tee eingiesst, die Seite noch mal liest, ein bisschen in den Himmel guckt und mit dem Fuss wippt, dann die Seite noch mal liest und noch mal mehr staunt. Beides, das Verschlingen und das langsame auf der Zunge zergehen – Lassen, hat was mit Genuss  zu tun – aber was ist nachhaltiger? Also für den Kopf?

Oder vielleicht ist es genau das: es gibt Lesen für den Kopf und Lesen für’s Herz. Manchmal will man das eine, manchmal braucht man das andere. Diese populären, leicht konsumierbaren Bücher/ Musikstücke/ Filme verkaufen sich wahrscheinlich auch deshalb millionenfach, weil sie einem nicht zu viel abverlangen und – ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt – einen nicht zu sehr aus seiner Komfortzone locken. Man muss sich nicht zu sehr strecken oder anstrengen, um in komplett andere Welten zu gelangen. Es hat sogar was Beruhigendes, zu wissen, dass man aus den ungewohnten und vielleicht irgendwie aufregenden Szenarien doch ganz leicht und heil wieder rauskommt. Diese Art von „Konsum“, um mal ein scheussliches Wort zu verwenden, verändert einen nicht unbedingt. Manchmal will man das ja auch nicht. Manchmal darf es etwas mehr sein (wie wenn ich am Wochenende zum Emerson String Quartet ins Prinzregententheater gehe, um späte Beethoven – Quartette anzuhören. Schwere Kost vom asketischsten Streichquartett, das es gibt – das wird nicht unbedingt vergnüglich, aber wahrscheinlich werde ich die nächsten Jahrzehnte davon reden, wie sagenhaft es war. Und dass ich das Glück hatte, die noch live zu hören.). Das Schöne ist ja, dass man wählen kann, was einem grade gut tut.

Sprache als Klang

hochwertige-weihnachtsdekoZwei lange Tage auf dem Literaturfest München, und ich fühle mich wie neugeboren, angeregt für Wochen, inspiriert, ganz viel nachzugucken und zu lesen, motiviert, anders und besser Musik zu machen – kurzum, das reinste Rundum – Wellness – Erlebnis für Kopf und Seele. Und ich habe auch das Drumherum genossen, die Tatsache, aus unserem kleinen Städtchen zwei Mal hintereinander in die ganz grosse Stadt zu fahren. Dank zentraler Veranstaltungsorte wie den Kammerspielen oder dem Literaturhaus kam ich als Bonus schon in den Genuss der grandiosen Weihnachtsbeleuchtung auf der Maximilianstrasse – was will man mehr?

Ich schleiche um diese ganzen Schreibenden rum wie die verhinderten Musiker, die sich manchmal auf meinen Konzerten rumdrücken und einen mit eigentlich selbstverständlichen Fragen aufhalten. Man spürt ihre Faszination, staunt über ihr Fachwissen, fragt sich aber auch, warum man jetzt so eine banale Frage nach dem Übeverhalten oder den verwendeten Editionen beantworten soll. Ist gleichzeitig milde gestimmt, weil man spürt, dass sie in harmloser Weise einen Blick durch eine angelehnte Tür in einen ganz anderen, ersehnten Lebensentwurf werfen wollen. Und so geht es mir mit Menschen, die den ganzen Tag mit Wörtern verbringen dürfen. Ich beneide sie ein bisschen, bewundere sie ganz arg und träume auch von so einem Leben…

Auf dem sagenhaften Übersetzertag kam ich mir vor wie so ein Zaungucker. Die Veranstaltung stand ganz offiziell auf dem Programm, war aber eine Art Tagung des Deutschen Übersetzerfonds. Ich war mir kurz unsicher, ob ich da überhaupt reindarf. Aber solange ich zahle? Und überhaupt? Doch als die Stühle knapp wurden und die Dame neben mir ihre Begleiterin fragte: „Sind denn Zivilisten hier?“, fühlt ich mich kurz verunsichert… Studierte aber intensiv die Decke und blieb unauffällig sitzen. Was ein Glück war: der Tag war für mich so ein Gewinn und sollte für Musiker eine verpflichtende Fortbildung sein – sind wir doch auch und ständig Übersetzer von Texten. Man hätte praktisch in jedem der hochkarätigen Vorträge „Übersetzer“ durch „Musiker“ ersetzen können und zu neuen Einsichten gelangen können. Mir hat irgendwann der Kopf geraucht, so erschlagen war ich von den ganzen neuen Erkenntnissen – aber auch beglückt und eben inspiriert und bereit, mich meinen zwei Leidenschaften auf neue oder andere Weise anzunähern. Es ging um den Gedankenstrich bei Emily Dickinson (man glaubt nicht, wie fesselnd das sein kann!), den unterschwelligen Beat bei Shakespeare, der Erkenntnis, dass ein Gedicht mit einem redet, einen plötzlich anspringt, oder die Feststellung, dass Sprache Klang ist und eigentlich alle Texte laut vorgetragen werden müssen. Sprache sei eine Ohrenkultur, und ich ergänze für mich: Musik ist (auch) eine Augenkultur, muss gelesen, analysiert, als Architektur durchdrungen werden. Ich werde anders lesen nach diesem Tag, und ich werde anders Musik machen.

aussen-weihnachtsbeleuchtung-1000x486Dass Sprache erklingen muss, hörbar gemacht werden muss, zeigte in wunderbarer Weise auch der Abend davor: eine moderierte Lesung von Carolin Emcke im Jugendstiljuwel der Kammerspiele. Während sie kurze Abschnitte aus ihrem neuesten Buch las, wurden mir Zusammenhänge oder überhaupt: der Sinn mancher Stellen sofort klar, die mir beim eigenen, zu schnellen und gierigen Lesen entgangen waren. Das war auch wirklich erhellend: wie wichtig das Tempo ist, wie wichtig Pausen sind… Ich bin kein Fan von Hörbüchern, durfte aber eindrucksvoll feststellen, wie viel mehr vom Gehalt transportiert wird, wenn der Text nicht zu schnell an einem vorbeirauscht. Das noch kurz zur Sprache als Klang… Und inhaltlich war es enorm interessant und leider sehr aktuell. Das neue Buch heisst „Gegen den Hass“. Es war faszinierend, dem Soziologen Armin Nassehi und der Autorin sozusagen beim Denken zuzuhören, zu sehen, wie solche unglaublich intelligenten und gebildeten Menschen Fragen und Antworten entwickeln, wie präzise und klar selbst die verschachteltsten Sätze sind, was für einen langen Atem sie haben. Und auf welch zivilisierten Niveau alles ablaufen kann – naja, das ist vielleicht kein Wunder, wenn man sich inhaltlich einig ist. Aber es war wohltuend nach den ganzen überhitzten Debatten über Zuwanderung und reine Rassen, die es in den Medien in den letzten Monaten gab. Dass man sich auch einfach kultiviert über schwierige Sachverhalte unterhalten kann.

Was von hier blieb, ist eine Feststellung, die ich selber auch gemacht habe – dass ich noch nie in meinem Leben derart rohe, verrohte Debatten miterlebt habe, wie wir sie seit letztem Jahr erleben müssen. Dass der Ton, in dem gesprochen wird, zunehmend aggressiver und eben verrohter wird, und dass das noch nicht mal jemand zu stören scheint. Vielleicht sind wir die letzte Generation, der noch auffällt, dass es mit der Gesprächskultur bergab geht? Und später Geborene halten es für normal, ihre negativen Gefühle und Ressentiments in sozialen Netzwerken ungehindert und in verkürzter, darum noch brutalerer Form auf die Welt loszulassen? Und überhaupt, diese öffentliche Äusserung von eigentlich ganz privaten Meinungen (sollte man als Blogschreiberin eigentlich nicht sagen…) ist auch was Neues. Es wurde, auch im Zusammenhang mit dem amerikanischen Wahlkampf, von einem „Exhibitionismus der Schäbigkeit“ gesprochen, für den man sich noch nicht mal schämt. Abgesehen vom Inhalt, von den Themen, die überhaupt diskutiert werden, erleben wir hier eine besorgniserregende Entwicklung mit. Und man fragt sich, wie man noch gegensteuern kann.

professionelle-weihnachtsbeleuchtung-aussen1Deshalb hinterliess der wirklich bereichernde und anregende Abend auch eine Art Katerstimmung. Weil man, wenn man vor der Veranstaltung einen vorzüglichen Kaiserschmarrn im Theaterrestaurant isst und danach an den wunderbar dekorierten Schaufenstern von Chanel und Hermès vorbei durch die vorweihnachtlich glitzernde Maximilianstrasse läuft, feststellen muss: ich lebe in einer absolut privilegierten, schillernden Seifenblase und habe vom wirklichen Leben keine Ahnung. Ich gehöre nicht zu den schlecht Ausgebildeten, die vielleicht auch noch grade ihren Job verloren haben, berechtigte Befürchtungen haben, dass ihnen gleichermassen wenig ausgebildete Zuwanderer auf dem Arbeitsmarkt die Chancen verderben und deswegen Vorbehalte haben oder sogar Hass entwickeln. Ich gehöre zu den satten, gut gekleideten Sorglosen, die sich im Theater moralisch ein bisschen aufrütteln lassen. Aber echte Probleme gibt es in unserem Umfeld nicht. Und da fragt man sich wirklich, was man tun kann. Denn mit den vorzüglichen Argumenten, die der Abend und das Buch liefert, muss man den wirklich Hassenden gar nicht kommen. Meine Lösung im Moment: die guten, vermittelnden und diplomatischen Gedanken zu verbreiten. Und auf eine gehobenere, respektvollere Gesprächskultur zu achten – und das beginnt natürlich an der Basis, im Alltag und mit den vielen Kindern, die mir anvertraut sind. Wahrscheinlich kann ein einziger doch mehr bewegen, als man denkt.

(Fotos: Fine Arts Christmas)

Nicht nur schwarz – weiss

DSCF8490Und dann gibt es die anderen, die die ganze Sache differenzierter sehen. Die ruhig bleiben und eine Diskussion nicht als Anlass nehmen, nur lauthals ihre Sicht der Dinge loszuwerden, ohne den anderen zuzuhören. Und es sind erstaunlicherweise nicht die studierten, lebenserfahrenen Akademiker, die ich kürzlich im Fast – Nahkampf erleben durfte, sondern – ein sechzehnjähriges Mädchen, das mich durch ein paar ruhige Bemerkungen wieder an  das Gute im Menschen glauben lässt. Sie ist eine Schülerin von mir, die ich neuerdings nach der Klavierstunde abends heimfahre, weil so spät kein Bus von Erding mehr in ihr Dorf fährt und ich auf dem Heimweg ohnehin dort durch fahre. Wir reden vom Einsteigen bis ich sie an ihrer Bushaltestelle rauslasse ohne eine einzige Pause – aber kaum übers Klavierspielen. Übers Reisen, Lesen, Sprachenlernen, und jetzt zufälligerweise über Flüchtlinge. Aber nicht, weil uns was akut im Alltag daran stört, sondern weil sie erzählte, dass ein gewisser dicker fetter Geschichtsatlas ihre Lieblingslektüre ist und sie wahnsinnig gern die alten Landkarten anschaut. Ich auch, übrigens. Dass überhaupt Geschichte ihr grösstes Hobby ist und sie immer wieder staunt, wie flexibel und ständig im Wandel zum Beispiel Grenzen waren. Und dass es immer Bewegungen und Völkerwanderungen wie jetzt gegeben hat. Dass sich immer die Menschen irgendwo die Köpfe eingeschlagen haben und andere deshalb auf der Flucht waren. Und das Traurige daran: dass wir nie daraus zu lernen scheinen. Aber so ist es, und wir leben zufällig jetzt und beobachten alles hautnah. Müssen aber auch anerkennen, dass wir in kurzer Zeit ohnehin nichts dran ändern können. Sollten eher versuchen, damit zu leben.

Wow. Ich dachte immer, sie ist eine tolle Klavierspielerin – aber da sitzt offensichtlich die geborene Diplomatin! Sie hat in wenigen Sätzen die Lage und ihre verschiedenen Aspekte so klar skizziert, auch, was wir tun könnten und wo die Grenzen sind, dass ich dachte: die Kleine hätten wir an unserer Tafel gebraucht. Ich glaub, vor ihrer Unschuld und Klarheit hätten selbst die völlig erhitzten Streithähne Respekt gehabt. Und was das Tollste war: ich habe keine Ahnung, wo sie persönlich steht. Sie ist sachlich und neutral geblieben, hat eine Fähigkeit zur Abstraktion bewiesen, die den anderen, die im Gegensatz zu ihr längst ihr Abitur und noch mehr an Ausbildung  haben, völlig abgegangen ist.

Und das würde ich mir für (hoffentlich nicht auftretende!) zukünftige Auseinandersetzungen wünschen: eine differenzierte Sicht der Dinge und einen Abschied von Pauschalurteilen. Nicht alle Moslems sind radikal, so wie nicht alle Christen Katholiken sind oder überhaupt in die Kirche gehen. Nicht alle Flüchtlinge kommen nur, um sich „in die soziale Hängematte zu legen“. Ich bestreite nicht, dass es beide Seiten gibt, aber man sollte nicht alle über einen Kamm scheren. Das würden wir doch auch nicht wollen, dass so über unsere Kultur geurteilt wird?

Es ist nicht so, dass ich Diskussionen scheue. Im Gegenteil: wenn meine Schüler mir widersprechen, bin ich direkt glücklich. Einmal, weil ich sehe, dass sie nicht nur körperlich anwesend sind, und dann, weil dadurch immer etwas in Gang und Leben in die Bude kommt. Manchmal kitzele und provoziere ich sie schon auch mit Absicht – aber wirklich mit pädagogischer Absicht, nicht um sie noch rasender zu machen, wie es kürzlich privat der Fall war. Und alles in gesittetem Rahmen. Es geht um die Sache und wir attackieren uns nicht persönlich. Und akzeptieren die Meinung des anderen. Wenn es überzeugend ist, habe ich kein Problem damit, wenn jemand ein Stück völlig anders spielt, als ich es würde. Das macht das Leben ja erst schön. Was bei unserer Auseinandersetzung am Kaffeetisch so zermürbend und frustrierend war, war, dass jeder der beiden unbedingt wollte, dass der andere seine Sicht übernimmt. Weil sie die einzig Wahre ist. Warum ist das so?!

Wir sollten aufhören, uns die Köpfe darüber einzuschlagen, warum sich andere Leute die Köpfe einschlagen. Oder vielleicht nur noch zu gegebener Zeit, im passenden Rahmen, oder zusammen mit Menschen, deren Job es ist, an der Situation eventuell etwas zu ändern. Privat kommen wir da nicht weiter und setzen höchstens Freundschaften und Sympathien aufs Spiel.

Toleranz

DSCF8963Es heisst immer, die Flüchtlinge werden unsere Gesellschaft verändern. Ich stelle das jetzt schon fest – aber anders, als der Spruch immer gemeint ist: meine unmittelbare Gesellschaft, der Umgangston in meinem Freundes- und Bekanntenkreis hat sich sehr verändert. Ich stehe mit meinen Beobachtungen sicher nicht allein da. Trotzdem muss ich darüber reden, weil ich immer wieder fassungslos bin, wie sich vermeintlich zivilisierte Menschen verhalten, wenn sie sich über die Flüchtlingsfrage in die Haare geraten sind. Was auch erstaunlich ist: dass wir überhaupt über Politik reden, also mehr als ein paar Minuten lang. Früher ging es da harmlos zu, ein bisschen über Tagespolitik oder regionale Ereignisse, aber so, dass man nicht unbedingt ahnen konnte, wo der andere steht – und es war auch egal und in Ordnung so, ich mochte die anderen einfach als Menschen und hätte sie jetzt nicht mehr gemocht oder abgelehnt wegen ihrer politischen Überzeugung.

Doch jetzt vertreten langjährige Bekannte, die ich zu kennen glaubte, derart haarsträubende, menschenverachtende Ansichten, dass ich nicht mehr mitkomme. Wie konnte ich sie so anders einschätzen? Wie konnte ich von Menschen, die so über andere Menschen denken, Geschenke und Blumen annehmen und mit ihnen an einem Tisch sitzen? Da wird mir im Nachhinein direkt anders.

Und, die allergrösste Frage, wie kann ich auch in Zukunft mit ihnen an einem Tisch sitzen? Das ist für mich grade die grösste Herausforderung. Auslöser für diese Frage war eine Einladung am letzten Wochenende, die derartig eskalierte und aus dem Ruder geriet, dass ich immer noch schockiert bin. Selten hab ich so eine hässliche, laute Auseinandersetzung miterlebt. Und sie dauerte geschlagene 90 Minuten – wurde nach der Hälfte der Zeit immerhin aus Rücksicht auf die Damen auf die Terrasse verlegt, aber auch da ging es lautstark weiter. Manchmal sah es aus, als ob wir nur knapp vor Handgreiflichkeiten stehen (absurderweise ging es grade darum, warum testosterongesteuerte Flüchtlinge in ihren Unterkünften Messerstechereien anfangen. Das ist kein Witz. Aber den Streitenden hier fehlte der Abstand, um zu sehen, wie testosteronstrotzend sie grade selber waren.)

Ist das, was wir Zivilisation nennen und wonach ich mich grade sehr sehne, nur ein unter-den-Teppich-Kehren von unschönen Wahrheiten? Ein unechtes Konstrukt, ein tägliches anstrengendes Zurückdrängen des Neandertalers in uns? Unangemessen für Menschen, die authentisch sie selber sein wollen? Oder sind es nötige Zugeständnisse an unsere Mitmenschen, um das Zusammenleben erträglicher und leichter zu machen? Natürlich ist es das, aber ich will deshalb nicht darauf verzichten. Ich brauche auch nicht ausschliesslich höchste kultivierte Tafelrunden à la „Downton Abbey“ – aber, Mensch, das waren noch Zeiten, als man trotz diametral entgegengesetzter Ansichten für ein paar Stunden höflich miteinander umgehen konnte! Und wusste, wann es Zeit ist, den Mund zu halten!

Ich hätte gern was von dieser Selbstdisziplin, Höflichkeit und inneren Stärke zurück. Ich hab monatelang über das Thema nachgedacht und was ich für Möglichkeiten hätte. Diplomatie? Kann man komplett vergessen. Nur noch Gleichgesinnte einladen? Da wäre unser Bekanntenkreis wirklich und tatsächlich um die Hälfte dezimiert (geht das anderen Leuten auch so? Ist die Gesellschaft wirklich 50 zu 50 gespalten, oder bewegen wir uns in seltsamen Kreisen?!)

Also bleibt: Toleranz. Oder der Versuch davon. Und damit meine ich nicht Toleranz den Flüchtlingen gegenüber, sondern den Menschen, die ich zum Teil schon jahrzehntelang kenne. Das wird verdammt schwer. Wird wohl eher ein Experiment – ich weiss wirklich nicht, ob ich es durchhalte. Ich will mich nicht auch noch selber spalten vor lauter Harmoniesucht und nett sein zu Menschen, deren Einstellung ich überhaupt nicht teile. Und ich weiss auch nicht, wie viel es bringt, wenn ich mich bewusst für etwas entscheide, was mir schwerfällt, die anderen aber munter intolerant gegen alles Mögliche weitermachen und gar nicht bemerken, dass in einer zivilisierten Gesellschaft Anstrengungen von allen Seiten nötig sind.

Drei Hochzeiten und vierzehn Todesfälle

Kürzlich habe ich Jane Austen’s „Emma“ wieder gelesen. Die Heldin wird gefragt, wie sie sich das Alter als unverheiratete Frau vorstellt und sie antwortet so ungefähr, dass sie, wenn sie das betagte Alter von über 40 erreichen sollte, wahrscheinlich mit Handarbeiten auf dem Sofa sitzen würde. Allen Aussagen wie „50 ist das neue 30“ etc. zum Trotz fühle ich mich alt. Man schmiert sich Granatapfelcreme ins Gesicht, haut sich Chiasamen ins Müsli, bewegt sich viel an der frischen Luft und ist biologisch möglicherweise jünger als die Menschen zu Austens Zeiten. Aber das gefühlte Alter – damit sieht es ganz anders aus. Denke ich mir, als ich eine Bekannte nach langer Zeit mal wieder in einem Café treffe und mich so diskret wie möglich auf dem schmalen, harten Bistrostuhl winde, um meine vom Joggen schmerzende Hüfte möglichst bequem unterzubringen (kein Sofa in Sicht, leider). Es gäbe für mich kein spannenderes Thema als meine Wehwehchen durch zu viel Sport – aber das kann ich meinem Gegenüber wirklich nicht antun. Zumal sie schon mitten in einem fesselnden Monolog ist über eigene diverse Schmerzen, die einfach nicht mehr so schnell weggehen wie früher noch. Und dann hat sie sich noch falsch bandagiert und hat einen riesigen blauen Fleck – das war früher auch anders.

Dank des bayerischen Lehrplans, der einen so wunderbar aufs wirkliche Leben vorbereitet, bin ich schon seit jungen Jahren gestählt in der Philosophie der Stoiker. Ich bilde mir ein, mein Leben mit Gleichmut zu ertragen und mir bewusst zu sein, dass alles eher nichtig und irgendwann ohnehin vorbei ist – aber selbst ich komme an meine Grenzen. Seit ein Freund im Herbst gestorben ist, gehe ich fast jede Woche zum Friedhof. Früher haben wir uns auch mindestens einmal pro Woche unterhalten und irgendwie brauch ich das noch eine gewisse Zeit. Als ich von einem dieser Gänge zurückkehre, bekomme ich einen Anruf: eine Bekannte in meinem Alter ist gestorben, plötzlich und unerwartet, wie es immer heisst. Aber kann man in meinem Alter noch von „unerwartet“ sprechen? Mit so vielen Jahren auf dem Buckel, so vielen schönen Erlebnissen, Erfahrungen, Reisen – was will man denn noch mehr? Man muss im Gegenteil dankbar sein, dass man das bisherige reiche Leben in Frieden und Wohlstand verbringen durfte. Ich bilde mir ein, dass ich ohne viel Hadern abtreten könnte. Ich war noch nie in Paris und habe aus Vernunftgründen weniger Schokolade gegessen, als möglich gewesen wäre – aber das sind harmlose Versäumnisse, die man sicher nicht in den letzten Sekunden bereuen würde. Um mein eigenes Ableben mache ich mir keine Gedanken. Es sind eher die vielen anderen Abschiede, die mir langsam an die Nieren gehen. Und die Erkenntnis kürzlich, dass wir in unserem Bekanntenkreis nahtlos von Examensfeiern in bunten Kleidern zu diesen ewigen Beerdigungen übergegangen sind. Vielleicht haben wir seltsame Bekannte, aber Hochzeiten oder gar Taufen waren äusserst rar in den letzten Jahrzehnten. Feiern mit pastellfarbener Deko oder sinnlos grossen, schön verzierten Torten kenne ich eher aus Filmen. Und dass ich das hübsche Kleidchen in einem frühlingshaften Schwarz kaufe, weil – wozu Rot? Ist das normal? Sind es grade seltsame fünfzehn Jahre, und irgendwann wird alles stabiler? Oder – ist es einfach das Leben? Ich hab schon kapiert, dass das Leben ganz anders läuft, als wir es planen. Und dass Veränderung die einzig wirkliche Konstante ist, so gern wir es manchmal anders hätten. Trotzdem ist es immer wieder schwer, das zu akzeptieren.

Da hilft nur Klavierspielen.

Investitionen

DSCF7926Nachdem ich mit einem hauptsächlich cellospielenden Klavierschüler ein Saint-Saens – Konzertstück länger als geplant geprobt hatte, meinte seine Mutter beim Abholen: „Warum tun Sie das? Sie verschenken ihr Talent an die Kinder.“ Mit uns beiden, ihm, der nächsten Schülerin und dem Cellokasten ist unser Flur gestopft voll. Ich bin noch völlig eingehüllt in die herrliche Musik, die wir grade zusammen produziert haben, und fühle mich auch physisch so umgeben von Wohlwollen und Sympathie, dass meine spontane Antwort direkt aus dem Bauch kommt: „Ich verschenke nicht, ich investiere. Und es ist die beste Investition, die es überhaupt gibt.“

Es klingt mehr als kitschig, ich weiss. Aber es stimmt. Wo sonst bekommt man im Moment so viel zurück, wenn man etwas anlegt? Die Freude und Begeisterung meiner Schüler, ihre Fortschritte, ihr immer grösseres Können belohnen mich hundertfach für das bisschen an zusätzlicher Zeit, dass ich ihnen manchmal zukommen lasse. Manchmal sind es einfach die zehn Minuten extra, die einen weiterbringen, wenn man kurz vor dem Durchbruch steht. Oder die zehn Minuten, die man in ein Gespräch investiert.

Und das mit dem „Talent verschenken“: was soll ich denn sonst damit machen? Die Konzertbühnen der Welt kommen bestens ohne mich aus. Trotzdem will und muss ich Klavier spielen. Und wenn ich schon nicht ohne leben kann, ist es für mich logisch und sinnvoll, dieses Talent in der Provinz und für Kinder zu nutzen. Eben weil ich sehe, dass die Flamme am Leben gehalten wird und das, wovon ich überzeugt bin, in der nächsten Generation weitergeht. Ich finde, es gibt keine bessere Dividende. Und es trägt zur Seelenruhe bei, so im Einklang mit sich und seinen Werten leben zu können. In der Hinsicht führe ich ein wirklich reiches Leben.

Und was ist überhaupt die Währung, um die es geht? Auf jeden Fall etwas, das mehr wird, indem man es ausgibt. Etwas, bei dem es klüger ist, es nicht auf einem Konto zu horten und nur für sich zu behalten. Auch auf die Gefahr hin, dass es noch kitschiger wird, aber: eigentlich ist es Liebe. Oder Freundlichkeit. Oder Grosszügigkeit. Eine von den Eigenschaften, die den grossartigsten Ertrag abwerfen – weil sie auf jeden Fall mehr werden, je mehr man sie in sein Leben lässt. Ich habe so oft die Erfahrung gemacht, dass meine Umgebung das spiegelt, was ich aussende. Wenn ich will, dass meine Schüler höflich sind, behandle ich sie so. Wenn ich mir mehr Geduld von anderen wünsche, bin ich selber geduldig. Es ist eigentlich so leicht, die Welt ein bisschen angenehmer und menschlicher zu machen. Und ich bin froh, wenn ich in einer so entspannten Geistesverfassung bin, dass ich auch bewusst solche positiven Eigenschaften pflegen und einsetzen kann. Stress und Ärger übertragen sich genau so schnell.

Staunen

DSCF8709Nachdem mich meine kleinen Schüler gnadenlos über die Nicht-Existenz von Nikolaus, Engeln und anderen himmlschen Gestalten aufgeklärt hatten, war ich ein paar Tage doch ernüchtert. Und dachte, die Märchenzeit, die ganz verzauberte Kinderzeit, endet inzwischen wahrscheinlich auch früher als noch in meiner Kindheit. Und dass ich es vielleicht einfach hinnehmen muss.

Aber dann – war ich im Literaturfest München auf zwei Lesungen für „Leser ab neun“. Genau die frühreife, illusionslose Klientel,  mit der ich so gern zu tun habe. Und was war? Die Bande (und etliche Leser unter neun) hing besonders Franz Hohler mit seiner wunderschönen Weihnachtsgeschichte „Die Nacht der Kometen“ an den Lippen. Es gab Passagen, da hätte man die berühmte Stecknadel fallen hören können. Wenn ganz besonders Unglaubliches und eigentlich nicht Mögliches passierte. Es lag sicher auch an der grandiosen Erzählerpersönlichkeit des Autors, dass sie ihm atemlos alles abnahmen. Ich hatte den Eindruck, da hätte keiner naseweis gesagt: „Aber das geht nicht. Und den und den gibt’s eh nicht.“ Ganz im Gegenteil. Und mir ging es ganz genau so: die Geschichte hatte einen wunderbaren Sog und ich hatte die vergnüglichste Stunde seit langem. Und durfte feststellen: man ist nie zu alt, um vorgelesen zu kriegen…

Ich war verzaubert. Und schaffte es irgendwie, etwas von dieser Verzauberung in die nächste Unterrichtswoche mitzutragen. Meine kleinen Häretiker wurden auf einmal still und kriegten doch grosse Augen, wenn wir „Maria durch ein Dornwald“ sangen. Und sie wissen wollten, was das in der dritten Strophe soll, das mit den Rosen. Ob das geht, dass aus Dornen noch mal Rosen wachsen. „Ja, wenn jemand ganz Besonderes vorbeigeht, dann kann das passieren.“ Ob das wahr ist. Ob ich das schon mal gesehen habe. Ich erzähle von der totgeglaubten Rose im Garten, die auf einmal doch noch mal grün wurde und eine wunderschöne Blüte hervorgebracht hat. Direkt hier vor dem Fenster. Und das, ohne dass jemand Besonderes vorbeigegangen ist. „Vielleicht ist ja jemand Besonderes durch deinen Garten gegangen und du hast es nicht gesehen. Vielleicht in der Nacht.“ Das klingt jetzt doch ganz anders als „Der Nikolaus ist der Biobauer“…

Vielleicht sind wir zu beschäftigt, um noch zu staunen? Zu unruhig, abgelenkt, im Kopf bei zwei Sachen gleichzeitig? Man braucht Ruhe im Herzen, um Geheimnisse zu erkennen.

Vielleicht müssen die Kleinen auch jetzt durch ihre Glaubenskrise durch, ein paar Jahre ganz cool sein, um dann auf ihre mittelalten Tage zu erkennen: ohne Wunder, ohne Staunen und Glauben an Unglaubliches wäre unser Leben ärmer. Eigentlich Unfassbares hinter manchen Ereignissen zu vermuten hilft, Träume zu leben und all zu prosaische Durststrecken zu überstehen. Und es kann einem Kraft geben, etwas anzupacken, was einem für einen selbst zu gross und schwer zu schultern erscheint. Einfach etwas, was über uns hinausgeht… Ob es Engel sind oder Heilige, die in ihrem Leben auf damals wunderbar erscheinende Art anderen zur Seite gestanden sind: warum können wir nicht versuchen, dann und wann auch so zu handeln und heimlich anderen Gutes tun? Daran glaube ich nämlich auf jeden Fall, und deshalb werde ich auch weiterhin meinen Kinderchen gegenüber felsenfest behaupten, dass es den Nikolaus gibt.