Wir haben das Glück, einen sehr erfahrenen Gärtner zu haben. Er taucht höchstens ein, zwei Mal im Jahr auf, und es ist eigentlich übertrieben, ihn „unseren“ Gärtner zu nennen. Er ist eher ein Freund, der die Obstbäume schneidet. Für mich ist er die reinste Lichtgestalt. Dieses Unterfangen, allein den Garten in Zaum zu halten, überfordert mich manchmal. Aber wenn Alois da ist, ist alles gut. Selbst wenn seine Aktivität nur im Zuhören über Griessnockerlsuppe besteht und er mir beipflichtet, dass der Wald immer über den Gartenzaun wird kommen wollen. Mein Kampf mit der Wildnis scheint seltsamerweise nicht mehr so aussichtslos, wenn mir jemand wie er bescheinigt, dass er tatsächlich aussichtslos ist und ich voll Respekt meine Grenzen anerkennen muss.
Und Alois hat eine philosphische Ader, die mir sehr gefällt. Deshalb hab ich immer Suppe auf dem Herd für ihn, weil ich so gern was aus seinem Leben höre. Dieses Mal hat er mir zum Beispiel den Unterschied zwischen einem echten Grafen und einem eingeheirateten erklärt: der echte erwartet ihn in Gummistiefeln und Hemdsärmeln vor der Tür und beginnt schon bei der Begrüssung, die Arbeit zu besprechen. An der er teilnimmt. Der eingeheiratete schaut mal kurz draussen vorbei, im Anzug und meistens mit Handy. Ich hab keine Erfahrung mit echten Grafen, aber ich fand das sehr treffend.
Alois ist im Alter meines Vaters, aber noch voll im Geschäft. Er legt Gärten in der Schweiz an und in Zweitwohnsitzen in Südfrankreich, und als er im Frühling zum Apfelbaumschneiden kam, war er vorher ein paar Wochen in Baden-Württemberg bei einem der Hohenzollern tätig. Hat 500 Apfelbäume gepflanzt, eine Fontäne gebaut, die mit der steigenden Tageszeit immer höher wird (so was macht er nämlich auch), ein Buchsrondell um den Brunnen und Buchsrabatten als Sichtachsen. Noch ganz beflügelt von seinen barocken Gartenphantasien, sagt er beim Rundgang in unserem Gärtchen: „Der Lavendel da, der hat keinen guten Platz. Der braucht mehr Sonne. Ich bring dir einen Buchs für hier.“ Vor der Terrasse? Ich kenne einen Buchs, der fast so hoch ist wie ich, und wende ein: „Aber wir wollen eigentlich von hier auf den Rasen sehen und keine Hecke vor der Terrasse haben.“ „Musst du ja nicht. Ich bring dir den Buchs, und dann schneidest du Kugelchen.“ (Alois spricht eigentlich das schönste Bayrisch, und „Kugelchen“ aus seinem Mund klingt irgendwie lustig.) Ich seufze innerlich: klar, ich hab ja sonst nichts zu tun, ich schneide Kugelchen. Und hoffe, dass er die ganze Sache vergisst.
Es wird Ende Mai, als der Alois -typische Anruf kommt: er wär in einer halben Stunde da, ob das passt? Und da tuckert sein Laster schon um die Ecke, und er steigt aus mit einer Kinderbadewanne voll Buchsbäumchen (und einem über-kniehohen Gewächs, von dem nicht die Rede war.) Alois möchte mir acht Buchsbäumchen vertickern, und ich bekomme es ehrlich mit der Angst zu tun. Wir feilschen und handeln, und ich kann ihn tatsächlich dazu bringen, nur drei zu pflanzen. Mit schön viel Abstand, damit die Katzen noch durchkönnen. (Solche Überlegungen versteht er.) Dann hievt er den anderen Busch aus der Wanne: „da, du magst doch weisse Blumen.“ Eine wunderbare, grosse und gesunde Hortensie! Dann berechnet er mir je sechs Euro für den Buchs – sein Einkaufspreis, schätze ich -, und die Hortensie, die sicher viel teurer ist, ist ein Geschenk.
In den folgenden Wochen schiele ich immer wieder auf die Buchsbäumchen vor dem Wohnzimmerfenster und denke, ich lass ihnen mal Zeit, anzuwachsen, bevor ich sie schneide. Und ehrlich gesagt, hab ich keine Lust, auf dem Boden zu knien und die Dinger in Form zu bringen. Und dann wird es ganz typisch: je mehr Wochen vergehen, desto grösser und unüberwindlicher wird die Aufgabe. Wahrscheinlich dauert es eine Viertelstunde, aber ich kann mich nicht aufraffen und denke, ich mach es mal, wenn ich richtig viel Zeit habe. Einen ganzen Tag oder so.
Noch mal ein paar Wochen später: ich habe mein Ferienanfangsloch vom letzten Artikel glücklicherweise schnell überwunden. Die Überforderung, auf einmal zu viel Zeit zu haben, wurde gebremst durch ein Festhalten an ein bisschen Routine: eine gesunde Mischung aus Klavierbank, Staudhamer See und dem gestreiften Liegestuhl auf der Terrasse. Auf dem man es bei den Temperaturen allerdings nur in den Morgenstunden aushält. Aber dann ist es herrlich, und ich lese mit meinem ersten Tee ganz lange dort im grünen Schatten. Erst einen fesselnden Roman, bei dem ich den Blick nur auf den Seiten lasse. Dann ein wunderbares Buch zum Gedankenanregen, das ich vor Jahren schon mal gelesen habe: „Let Your Life Speak“ von Parker Palmer. Es geht um Berufung, darum, aus seinem Leben das zu machen, wofür man gemacht ist. Ein erfülltes Leben zu finden, weil man seiner inneren Stimme folgt (wenn man sie denn mal gehört hat). Ein Buch, das man immer wieder sinken lässt, um nachzudenken. Und dabei fiel mein Blick über den Buchrand auf die leicht strubbeligen Buchsbäumchen vor mir. Eigentlich könnte ich mal – und in Gedanken noch ganz im Buch, gehe ich ins Haus und hole die Küchenschere und fange, ohne recht zu wissen, was ich tue, im Nachthemd an, die Bäumchen ordentlich zu schneiden. Zwischendurch trinke ich Tee, begutachte mein Werk von allen Seiten und schnippele immer noch ein bisschen – aber in Wahrheit denke ich nur an das, was ich gelesen hab. Und wie in Trance hab ich auf einmal drei Kugelchen da vor mir im Beet. Und staune, wie wenig aufwendig es doch war. Dieser Schweinehund immer…
Und warum scheut man sich so vor dem Feinschliff? Aus Angst, was kaputt zu machen, oder tatsächlich aus Bequemlichkeit? Charakterlich und pianistisch bin ich so oft gar kein Kugelchen, aber vielleicht wäre es doch nicht so anstrengend, noch ein bisschen weiter zu gehen. Und meine Schüler sind leider auch im seltensten Fall perfekte Kugelchen. Vielleicht mal kurz vor dem Vorspiel, oder halt diejenigen, die von Natur aus perfektionistisch sind und hohe Ansprüche an sich selbst haben. Aber sonst – wie weit wäre es meine Aufgabe, sie behutsam „rund zu machen“? Vielleicht kann ich da mehr tun? Und sei es nur dadurch, dass ich mehr aufzeige, was möglich wäre. Dass ein Stück immer noch makelloser, ausdrucksvoller, vielleicht flotter geht.
Auf jeden Fall freue ich mich auf die von Alois prophezeiten Schneemützchen, die die Kugelchen zu einem Blickfang im Winter werden lassen!