Archiv der Kategorie: am Grübeln

Kugelchen

DSCF2504Wir haben das Glück, einen sehr erfahrenen Gärtner zu haben. Er taucht höchstens ein, zwei Mal im Jahr auf, und es ist eigentlich übertrieben, ihn „unseren“ Gärtner zu nennen. Er ist eher ein Freund, der die Obstbäume schneidet. Für mich ist er die reinste Lichtgestalt. Dieses Unterfangen, allein den Garten in Zaum zu halten, überfordert mich manchmal. Aber wenn Alois da ist, ist alles gut. Selbst wenn seine Aktivität nur im Zuhören über Griessnockerlsuppe besteht und er mir beipflichtet, dass der Wald immer über den Gartenzaun wird kommen wollen. Mein Kampf mit der Wildnis scheint seltsamerweise nicht mehr so aussichtslos, wenn mir jemand wie er bescheinigt, dass er tatsächlich aussichtslos ist und ich voll Respekt meine Grenzen anerkennen muss.

Und Alois hat eine philosphische Ader, die mir sehr gefällt. Deshalb hab ich immer Suppe auf dem Herd für ihn, weil ich so gern was aus seinem Leben höre. Dieses Mal hat er mir zum Beispiel den Unterschied zwischen einem echten Grafen und einem eingeheirateten erklärt: der echte erwartet ihn in Gummistiefeln und  Hemdsärmeln vor der Tür und beginnt schon bei der Begrüssung, die Arbeit zu besprechen. An der er teilnimmt. Der eingeheiratete schaut mal kurz draussen vorbei, im Anzug und meistens mit Handy. Ich hab keine Erfahrung mit echten Grafen, aber ich fand das sehr treffend.

Alois ist im Alter meines Vaters, aber noch voll im Geschäft. Er legt Gärten in der Schweiz an und in Zweitwohnsitzen in Südfrankreich, und als er im Frühling zum Apfelbaumschneiden kam, war er vorher ein paar Wochen in Baden-Württemberg bei einem der Hohenzollern tätig. Hat 500 Apfelbäume gepflanzt, eine Fontäne gebaut, die mit der steigenden Tageszeit immer höher wird (so was macht er nämlich auch), ein Buchsrondell um den Brunnen und Buchsrabatten als Sichtachsen. Noch ganz beflügelt von seinen barocken Gartenphantasien, sagt er beim Rundgang in unserem Gärtchen: „Der Lavendel da, der hat keinen guten Platz. Der braucht mehr Sonne. Ich bring dir einen Buchs für hier.“ Vor der Terrasse? Ich kenne einen Buchs, der fast so hoch ist wie ich, und wende ein: „Aber wir wollen eigentlich von hier auf den Rasen sehen und keine Hecke vor der Terrasse haben.“ „Musst du ja nicht. Ich bring dir den Buchs, und dann schneidest du Kugelchen.“ (Alois spricht eigentlich das schönste Bayrisch, und „Kugelchen“ aus seinem Mund klingt irgendwie lustig.) Ich seufze innerlich: klar, ich hab ja sonst nichts zu tun, ich schneide Kugelchen. Und hoffe, dass er die ganze Sache vergisst.

DSCF6295Es wird Ende Mai, als der Alois -typische Anruf kommt: er wär in einer halben Stunde da, ob das passt? Und da tuckert sein Laster schon um die Ecke, und er steigt aus mit einer Kinderbadewanne voll Buchsbäumchen (und einem über-kniehohen Gewächs, von dem nicht die Rede war.) Alois möchte mir acht Buchsbäumchen vertickern, und ich bekomme es ehrlich mit der Angst zu tun. Wir feilschen und handeln, und ich kann ihn tatsächlich dazu bringen, nur drei zu pflanzen. Mit schön viel Abstand, damit die Katzen noch durchkönnen. (Solche Überlegungen versteht er.) Dann hievt er den anderen Busch aus der Wanne: „da, du magst doch weisse Blumen.“ Eine wunderbare, grosse und gesunde Hortensie! Dann berechnet er mir je sechs Euro für den Buchs – sein Einkaufspreis, schätze ich -, und die Hortensie, die sicher viel teurer ist, ist ein Geschenk.

In den folgenden Wochen schiele ich immer wieder auf die Buchsbäumchen vor dem Wohnzimmerfenster und denke, ich lass ihnen mal Zeit, anzuwachsen, bevor ich sie schneide. Und ehrlich gesagt, hab ich keine Lust, auf dem Boden zu knien und die Dinger in Form zu bringen.  Und dann wird es ganz typisch: je mehr Wochen vergehen, desto grösser und unüberwindlicher wird die Aufgabe. Wahrscheinlich dauert es eine Viertelstunde, aber ich kann mich nicht aufraffen und denke, ich mach es mal, wenn ich richtig viel Zeit habe. Einen ganzen Tag oder so.

Noch mal ein paar Wochen später: ich habe mein Ferienanfangsloch vom letzten Artikel glücklicherweise schnell überwunden. Die Überforderung, auf einmal zu viel Zeit zu haben, wurde gebremst durch ein Festhalten an ein bisschen Routine: eine gesunde Mischung aus Klavierbank, Staudhamer See und dem gestreiften Liegestuhl auf der Terrasse. Auf dem man es bei den Temperaturen allerdings nur in den Morgenstunden aushält. Aber dann ist es herrlich, und ich lese mit meinem ersten Tee ganz lange dort im grünen Schatten. Erst einen fesselnden Roman, bei dem ich den Blick nur auf den Seiten lasse. Dann ein wunderbares Buch zum Gedankenanregen, das ich vor Jahren schon mal gelesen habe: „Let Your Life Speak“ von Parker Palmer. Es geht um Berufung, darum, aus seinem Leben das zu machen, wofür man gemacht ist. Ein erfülltes Leben zu finden, weil man seiner inneren Stimme folgt (wenn man sie denn mal gehört hat). Ein Buch, das man immer wieder sinken lässt, um nachzudenken. Und dabei fiel mein Blick über den Buchrand auf die leicht strubbeligen Buchsbäumchen vor mir. Eigentlich könnte ich mal – und in Gedanken noch ganz im Buch, gehe ich ins Haus und hole die Küchenschere und fange, ohne recht zu wissen, was ich tue, im Nachthemd an, die Bäumchen ordentlich zu schneiden. Zwischendurch trinke ich Tee, begutachte mein Werk von allen Seiten und schnippele immer noch ein bisschen – aber in Wahrheit denke ich nur an das, was ich gelesen hab. Und wie in Trance hab ich auf einmal drei Kugelchen da vor mir im Beet. Und staune, wie wenig aufwendig es doch war. Dieser Schweinehund immer…

Und warum scheut man sich so vor dem Feinschliff? Aus Angst, was kaputt zu machen, oder tatsächlich aus Bequemlichkeit? Charakterlich und pianistisch bin ich so oft gar kein Kugelchen, aber vielleicht wäre es doch nicht so anstrengend, noch ein bisschen weiter zu gehen. Und meine Schüler sind leider auch im seltensten Fall perfekte Kugelchen. Vielleicht mal kurz vor dem Vorspiel, oder halt diejenigen, die von Natur aus perfektionistisch sind und hohe Ansprüche an sich selbst haben. Aber sonst – wie weit wäre es meine Aufgabe, sie behutsam „rund zu machen“? Vielleicht kann ich da mehr tun? Und sei es nur dadurch, dass ich mehr aufzeige, was möglich wäre. Dass ein Stück immer noch makelloser, ausdrucksvoller, vielleicht flotter geht.

Auf jeden Fall freue ich mich auf die von Alois prophezeiten Schneemützchen, die die Kugelchen zu einem Blickfang im Winter werden lassen!

Hitzefrei – und jetzt?

DSCF6470Vor drei, vier Wochen habe ich direkt danach gelechzt, Zeit für mich zu haben, die ich mit schönen Dingen verbringen könnte. Wie draussen zu schwimmen oder einfach auf einem Steg zu sitzen und die Beine baumeln zu lassen. Jede Minute, die ich bei der Hitzewelle in geschlossenen Räumen verbringen musste, kam mir wie vergeudete Lebenszeit vor. Ich hab direkt gelitten, wenn ich, selber schwitzend, meinen hart arbeitenden Schülern im überhitzten Gymnasium mit Noten Luft zufächelte und dachte: mei, dem Mädchen ringeln sich auf der Stirn schon die feinen Härchen vor Feuchtigkeit – am Clementi kann’s nicht liegen, aber bald kollabiert sie. Ich habe nicht unter unserem disziplinierten Spielen gelitten, sondern darunter, dass schon wieder Minuten, die man sinnvoller am See verbringen könnte, unwiderruflich verflossen.

Wenn ich endlich dort war, habe ich es mit jeder Faser meines Körpers und in vollen Zügen genossen. Wohl wissend, dass meine Zeit für solche Vergnügungen limitiert ist und irgendwann der nächste Termin lauert. Ich bin so lange geschwommen, bis meine Fingerspitzen ganz verschrumpelt waren. Und die zwei Tage Sommerfrische im Salzburger Land: ich war glücklich über jede einzelne Sekunde und war mir auch bewusst, wie privilegiert ich bin, dass ich mir inmitten der Sommerkonzerte, der letzten Noten, die eingetragen werden mussten, und der letzten Fachschaftssitzung so eine erfrischende und malerische Auszeit gönnen konnte.

Und jetzt? Liegen sechs völlig freie Ferienwochen vor mir. Und mein Antrieb, irgendwas auf die Beine zu stellen, ist so winzig, dass man ihn vergessen kann. Schwimmen gehen? Hm, heute ist es ein bisschen kalt. (Wobei 20 Grad und Regen der typische Ferienanfang bei uns sind – deshalb war ich ja während des schönen Wetters so wepsig, nichts zu versäumen.) Und ich kann ja morgen noch gehen. Und irgendwo hin fahren und wo ganz anders schwimmen, im Salzkammergut oder so? Wär schon gut, aber das geht ja nächste Woche auch noch, und vielleicht ist heute viel Verkehr. Intensiv und hochkonzentriert eine halbe Stunde üben, weil man dann bis zum nächsten Tag nicht dazu kommt – auch uninteressant, man kann ja später am Nachmittag dafür drei Stunden spielen.
Kurz gesagt: bodenlos, wie hier mit der Zeit umgegangen wird! Und wie entspannt ich dabei bin! Es ist ein sonderbares Phänomen, aber so alt wie die Menschheit selber. Und ich habe so das Gefühl, Seneca und Montaigne haben sich schon kompetenter dazu geäussert – wenn ich es finde, liefere ich ein Zitat nach. Es ist einfach so: ist etwas im Übermass vorhanden, ist es nichts mehr wert. Egal, ob es sich um Essen, Zuneigung, Musik, freie Zeit handelt. Gibt es zu viel davon, weiss man nicht mehr, wie man damit umgehen soll und ist möglicherweise irgendwann übersättigt. Weil man es nicht schafft, selber „stop!“ zu sagen, so wie ich bei den Zimtschnecken gestern… Weil man nicht klug mit seinen Ressourcen umgeht.

Das umgekehrte Phänomen sind limitierte Ereignisse, die die grössten Begehrlichkeiten wecken: eine Kult-Handtasche mit Warteliste, Karten für die Bayreuther Festspiele, ein Preview von irgendwas, bevor es normale Sterbliche zu sehen bekommen – es gibt Menschen, die unglaublich viel Energie und Geld auf so was verwenden. Und an ihrer Vorfreude wahrscheinlich mehr haben als am erreichten Gut. Gäbe es diese Dinge im Übermass, wären sie so uninteressant wie meine langen Ferien.

Warum ist man so? So menschlich? Und kann man was dagegen tun? Ist es nötig, was dagegen zu tun?!

Beruf und Berufung

Beim Klicken von Link zu Link kam ich auf einen Artikel in irgendeinem Blog – ich weiss leider wirklich nicht mehr, wo – der mich nachdenken liess über das, was ich den ganzen Tag so mache. Es ging darum, ob man seine Arbeit für sein Ego macht oder weil es einfach sein muss. Beruf oder Berufung quasi. Tut man was für sein Ego, erhofft man sich von der Betätigung eine grosse, repräsentative Yacht, mit der man stilvoll für alle sichtbar anlegen kann. Macht man es, weil man einfach muss und nicht anders kann, ist es, als ob man barfuss auf einem wackeligen Surfbrett steht und nicht genug vom Wasser um sich herum kriegen kann.

Das fand ich spannend. Bin ich doch in einer privilegierten Lage mit dem Unterrichten und ständig von Musik umgeben-Sein. Viele denken, ich folge jeden Tag wieder glücklich meiner Berufung. Und so ist es ja auch, zu einem ganz grossen Teil – aber was ist mit diesem Schreiben hier? Die Musik und das Reden darüber ist so sehr Teil von mir, dass ich gar nicht darüber nachdenke. Es ist einfach meine Art, mich auszudrücken und zu kommunizieren. Ich kann nicht anders, gewissermassen. Und weil ich es so lange schon mache und immer mehr Erfahrung darin bekomme, habe ich das Gefühl, ich muss es an andere weitergeben. Aber weil ich selber Zeit und meine Eltern Geld investiert haben, nehme ich auch Geld dafür – lebe davon. Würde ich die hypothetische Million gewinnen, würde ich aber hunderprozentig auch noch unterrichten ( mit Einschränkungen: manchen Schülern würde ich für immer freigeben und ihnen empfehlen, jetzt mal ernsthaft Fussball zu spielen. Andere würde ich drei Mal die Woche unterrichten, und ohne auf die Uhr zu schauen. Aber ich könnte sicher nicht ohne das Unterrichten leben.) Diese Tätigkeit ist also in einem Graubereich zwischen Beruf und Berufung – bis zur Yacht dauert’s auch noch ein bisschen, und wenn, wird es eine ganz, ganz kleine sein, so im Badewannenformat…

Manchen Berufen sagt man traditionell nach, dass sie auch Berufung seien. Besonders häufig im seelsorgerischen, pädagogischen, pflegerischen und medizinischen Bereich. Aber grade hier ist die Gefahr des Burnout, des sich zu sehr – Verströmens besonders hoch. Vielleicht darf man dankbar sein, wenn man das, wozu man sich berufen fühlt, nicht zum Broterwerb und täglich tun muss. Und ich denke, es kommt häufiger als man glaubt vor, dass Menschen, die man zu kennen meint, ganz heimlich und im stillen Kämmerchen einer kreativen Art von Berufung nachgehen – oft jahrelang und so unbemerkt in freien Minuten, dass man es buchstäblich nicht mitbekommt. Wie war das doch mit Jane Austen und Charles Dickens? Und ist „Harry Potter“ nicht auf ähnliche Weise entstanden? Diese ganz private Berufung ist vielleicht die höchste und reinste Form, die es gibt – Kreativität zum reinen Selbstzweck, ohne Gedanken an Profit oder Selbstdarstellung. Aber mit der unermesslich schönen Belohnung, völlig in einer Tätigkeit aufzugehen, die Zeit und alles um sich herum zu vergessen und, obwohl es Energie gekostet hat, neue Tatkraft und Optimismus aus diesem Tun zu schöpfen. Und befeuert von dem Bewusstsein: ich kann es nicht nicht tun.

Meine Seele braucht das schwankende Surfboard, das wilde Dahinschiessen, die Gischt auf der Haut, das glitzernde Wasser um mich herum – und das ist seltsamerweise nicht die Musik, sondern das Schreiben. Von dem ich immer noch nicht weiss, woher es kommt. Und das ich so lange ganz heimlich gemacht habe, und wenn ich nicht allein zuhause war, unauffällig was von „ich muss noch was am Schreibtisch machen“ gemurmelt habe. Oft habe ich das Gefühl, es passiert mit mir. Wie diese ganzen Artikel für „Pianonews“: monatelang schreibe ich nichts, unterrichte, beobachte, denke nach und ordne meine Beobachtungen. Und dann schreibe ich vier Artikel in einer Woche und staune beim Durchlesen selber, woher das kommt. Oder auch hier, dieses seltsame Medium. Seit 2009 schreibe ich hier mehr oder weniger ohne Plan und finde solche Erfüllung darin, mein Leben auf diese Weise festzuhalten. Am Anfang hatte ich ja wirkliche Probleme mit dem Selbstbewusstsein und überhaupt mit der Tatsache, dass ich auf einmal schreibe (da hätte ich es auch noch nie schreiben genannt!), aber: es ist eine wunderbare Art, den Alltag festzuhalten, aktiv etwas gegen die fliehende Zeit zu tun, einfach seinem Leben eine Richtung zu geben. Und ab jetzt werde ich es auch Schreiben nennen. Ich habe nämlich zum ersten Mal, seit ich das tue, meine Blogartikel von diesem Serverdingsbums oder wie das heisst auf meinen Computer gespeichert (ja, Bruder, ich höre Dich!) – und bin fast vom Stuhl gefallen, als der Computer mir automatisch die Wörteranzahl angezeigt hat. Ich weiss, wie sich 1500 Wörter anfühlen wegen der Klavierzeitschrift. Aber…………..? Sooo viele? (und ich habe ungefähr zwei Drittel von dem, was ich in diesen Jahren geschrieben habe, unwiderruflich gelöscht. Wegen Banalität und Ähnlichem…) Das seltsame ist, dass ich es selber als letzte glauben kann, dass ich das alles fabriziert haben soll. Vielleicht ist es meine Berufung? Ich würde und werde es weiterhin machen, ohne je einen Cent dafür zu bekommen. Aber der wirkliche Lohn, die Freude und Befriedigung, die es mir gibt, ist mehr wert. Und so werde ich mich weiterhin mitten in die türkisen Wellen stürzen, will richtig nass werden dabei und ruhig auch mal untertauchen und mich ganz lebendig fühlen.

Also, liebe Leserinnen und Leser – pflegt Eure heimlichen Leidenschaften und Sehnsüchte. Es gibt nichts Belebenderes. Möglicherweise schaut man am Ende des Lebens zufriedener auf das zurück, was man in heimlichen und gestohlenen Momenten fabriziert hat als auf das, was die ganze Welt sehen durfte.

Fotos

…was ohne Noten

DSCF6027Es gibt Tage in meinem Leben, die vom Aufstehen bis zum Zuklappen des Klavierdeckels irgendwann am Abend derartig angefüllt sind mit Musik, dass ich in diesem letzten erschöpften Moment oft denke: „ich kann keine Noten mehr sehen“. Und nur noch froh bin über ein, zwei Stunden Stille, bevor mich im Traum das ganze Zeug wieder beschäftigt. Am nächsten Morgen ist alles wieder gut und ich will als erstes ans Klavier, bevor ich irgendwas anderes mache. Aber wie in jeder engen Beziehung gibt es zwischendurch Durchhänger oder das Gefühl, man braucht mal eine richtige Pause.

Jetzt ist ein kleiner Exkurs nötig: seit ich die Philosophin und Journalistin Carolin Emcke für mich entdeckt habe, verschlinge ich jedes Wort von ihr. Wegen ihr, die früher bei der „ZEIT“ geschrieben hat und jetzt eine Kolumne in der Süddeutschen hat, bin ich sogar meiner Lieblingszeitung untreu geworden und wenigstens am Wochenende zur Süddeutschen übergelaufen (inzwischen gab es schon kaum mehr handlebare Wochenenden mit zwei so gehaltvollen Zeitungen – das überfordert mich aber). Ich bin sogar so ein grosser Fan, dass ich ab und zu gucke, was sie auf Twitter schreibt. Kürzlich stand da, ohne Satzzeichen und anscheinend am Rand eines ähnlichen Gefühls, wie ich es an dem Tag mit den Noten hatte: „im nächsten Leben mach ich was ohne Buchstaben“

Ich musste so grinsen. Dass eine so wortgewaltige Frau grade noch zu dieser Aussage fähig ist… (Bei der man gleich protestieren will: aber bitte in diesem Leben noch weiterschreiben!) Ich kenne das. Sie hat mein volles Mitgefühl.

Und morgen geht’s dann auch wieder.

Schritt für Schritt

DSCF6868Schon ein paar Tage nach der Rückkehr erinnerte sich mein Mann nicht mehr genau an eine bestimmte Kirchenkuppel in Rom. „Hast du nicht aufgepasst?“, entfährt es mir ehrlich entrüstet. Elf Stunden im Liegewagen und bei Hitze tagelang durch eine Stadt trotten – diese ganzen Opfer bringt man doch nicht zum Vergnügen. An seinem amüsierten Gesichtausdruck sehe ich, dass ich etwas zu weit gegangen bin und die Lehrerin in mir mal eins auf den Deckel braucht. Es ist auch erlaubt, im Urlaub nicht aufzupassen und einfach Italien zu geniessen – trotzdem drohe ich ihm scherzhaft an, dass er nächstes Mal jeden Abend abgefragt wird, damit so was nicht mehr vorkommt.

Ich muss grinsen darüber, dass ich meine Weltverbesserungsabsichten selbst im Urlaub nicht ablegen kann. Es ist auch wirklich noch nicht so weit fortgeschritten, wie es jetzt klingt. Ich kann schon meine Umwelt in Ruhe lassen. Aber an meiner echten Empörung sehe ich, dass Wissen und Wissenserwerb für mich was Heiliges sind. Auch wenn es um völlig zweckfreies und vielleicht sogar zum Leben überflüssiges kunstgeschichtliches Wissen geht: die Kuppel von S.Ivo ist ein Mosaiksteinchen auf dem Weg zum gesamten Bild und darf nicht fehlen. Und auch alles, was wir sonst in dieser unglaublichen Überfülle gesehen haben, muss eingeordnet werden und hilft uns, alles weitere besser zu verstehen. Und egal, ob man sich einem Gemälde, einem Musikstück oder einem Roman aussetzt – jedes bewusste Erleben und Betrachten bringt uns weiter, vervollständigt unser Wissen, lässt uns mehr sehen und verstehen.

DSCF6857Es heisst doch, dass Jugend an die Jugend verschwendet ist. Das Gleiche gilt für Erziehung, finde ich. Wenn ich jetzt noch mal in der (glücklichen!) Lage wäre, meine zum Teil hervorrragenden Gymnasiallehrer von damals zu erleben oder mein Studium noch mal von vorn beginnen dürfte, vor dem Hintergrund dessen, was ich jetzt weiss – wie viel mehr könnte ich da mitnehmen! Aber die Zeit für diese ganz gründliche, umfassende Ausbildung ist vorbei. Jetzt bleibt das Vergnügen, sich zu spezialisieren und in dem weiterzubilden, für das man brennt. Und das sehe ich immer mehr als ein grosses Privileg. Nicht nur, weil ich die Flamme in mir spüre und dem einfach nachgeben kann, sondern auch, weil mir mein Beruf die nötige Freizeit dafür ermöglicht und ich mühelos an Literatur über alles mögliche komme. (Und ich überhaupt in Europa lebe, höchstens ein paar hundert Kilometer weg von den Kunstschätzen, die mich interessieren – aber ich glaube, das darf man nicht sagen, das klingt zu elitär…) Und ich spüre, wie ich immer noch mehr wissen und sehen will, je mehr ich weiss. Weil eben alles so verflochten ist und sich gegenseitig befruchtet und man so spät und langsam erst anfängt, Zusammenhänge zu erkennen.

Letzten Sommer gab es einen wunderschönen Ferienausflug in die Klosterbibliothek Admont. Ich kannte Bilder davon, war aber völlig überrollt von der strahlenden hellen Schönheit dieses Juwels. Die Bibliothek wurde um 1780 gebaut und verpflichtet sich im Bildprogramm und in der ganzen Anlage dem Geist der Aufklärung. Alles ist bewusst licht und hell gehalten, die vorherrschenden Farben in der Ausstattung sind weiss und gold, und selbst die uralten ehrwürdigen Handschriften wurden in DSCF6856weisses Leder gebunden, um sich von den ehemals düsteren und schlecht beleuchteten Höhlen des Wissens abzuheben. Um einen herum ist so viel Pracht, dass die Augen ständig die Regale entlang nach oben und zu den Deckenfresken wandern. Aber die Führerin lenkte unseren Blick auf den Boden aus drei verschiedenen Marmorsorten. Das Muster wirkte aus verschiedenen Blickwinkeln wie Stufen, und wenn man es von weiter weg betrachtete, führten diese „Treppen“ immer zu einem der Regale oder einem bestimmten Buch. Sie ging langsam von Rechteck zu Rechteck, in kleinen Schritten, und erklärte, dass der Erbauer uns daran erinnern will, dass wir Wissen, wie umfangreich auch immer, nur in kleinen Schritten erreichen, und dass es immer mit dem ersten Schritt losgeht, auf den dann alles aufbaut. Ich denke weiter: Wissen muss eingeordnet und geschichtet sein wie hier in den Regalen. Einzelne, voneinander losgelöste Fakten, die willkürlich an der Oberfläche erscheinen, bringen einem nicht viel. Man braucht eine gewisse Systematik und Vernetzung im Kopf, muss einen Kontext herstellen, um einzelne Punkte wiederzufinden und von dort auch weiter sammeln zu können.

Dieser kleine Wink hat mir gefallen. Am liebsten würde ich meine Schüler da hinschleifen, damit sie selber auf dem prachtvollen Boden gehen können und verstehen: es muss eins nach dem anderen kommen. Und der Unterbau darf auch später nicht vergessen werden, sonst fällt vielleicht alles in sich zusammen. In Zeiten von Apps und schnell verfügbaren Wissen tut es gut, mal wieder eine echte Sammlung von Wissen zu betreten. Zu sehen, wie hoch und angefüllt die Regale sind und dass sogar Leitern nötig sind, um die obersten zu erreichen. Und vom Bodenmuster daran erinnert zu werden, dass manche Dinge ihre Zeit brauchen.

Rückblick auf ein Jahr voller Sehnsucht

Quelle
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Worte besitzen eine magische Macht – das fällt mir nicht nur beim Lesen auf, sondern auch, wenn es nur um ein einzige Wort geht wie mein Jahresmotto. Nachdem die Jahre in Zufriedenheit und relativem Angekommensein im Leben, wie ich es mir gewünscht habe, ineinander flossen und im Rückblick alle so weit in Ordnung, aber ohne grossartige Eigenheiten waren, beschloss ich, nicht mehr so verschwenderisch mit meinen Möglichkeiten umzugehen, sondern dem Leben doch eine Richtung zu geben. Und sei es nur, damit ich mich später besser dran erinnere. Das Jahr mit einem bestimmten Geburtstag – das klingt doch viel zu prosaisch. Das Jahr mit der Beerdigung von noch einem geliebten Wesen taucht alles in ein trauriges Licht, das auch das „davor“ und „danach“ überschattet. Deshalb bin ich dazu übergegangen, mir in leicht esoterischer Weise ganz persönliche Ziele zu setzen, zusammengefasst in einem zugegeben äusserst dehnbaren Begriff, an den ich mich im Verlauf der nächsten zwölf Monate immer wieder erinnern wollte. Manches biegt man sich dann schon so zurecht, dass es passt. Doch das ist auch in Ordnung. Der Plan ist ja, nicht nur vor sich hinzuleben und das Leben geschehen zu lassen, sondern es bewusst zu gestalten.

Aber manches ereignet sich auf geradezu unbegreifliche Weise und passt dann so exakt zum Motto, dass man sich fragt, ob das Zufall sein kann. Oder ob Worten nicht doch eine geheimnisvolle Kraft innewohnt. Das Jahr zum Beispiel, in dem ich mehr Abenteuer in meinem Leben zulassen wollte – war das anstrengend! Aufregend und spannend aber auch! Oder jetzt, das vergangene: Anfang des Jahres nahm ich mir vor, mich besser um meine eigenen Sehnsüchte zu kümmern. Besser in mich hineinhören, vielleicht staunen, auch zulassen, dass es ganz unerwartete Sehnsüchte geben könnte – alles das. Und sie so weit erfüllen, wie es in meinen Möglichkeiten steht. Und so weit es sinnvoll ist: ich bin überzeugt, dass es Sehnsüchte gibt, die unerfüllt bleiben sollten, damit ihr Zauber und ihre Kraft, uns anzutreiben, erhalten bleibt. Aber ich ging davon aus, dass grade dieses unzeitgemässe Wort mehr für ganz persönliche Erfahrungen stehen würde. „Risiko“ wäre sicher allgemein anerkannter und salonfähiger. Und es klingt nach wirklichem Tun, nach Grenzen – Überschreiten, für einen Marathon-Trainieren und vorzeigbare Ergebnisse-Produzieren. „Sehnsucht“ klingt so nach 19. Jahrhundert, oder? Man assoziiert damit Poesie und Romantik und äusserst heimliche Wünsche, die man vielleicht in silbernen Mondnächten dem Tagebuch anvertraut. Es klingt nicht passend für unsere Zeit, in der alles machbar, messbar, erfüllbar ist. Wozu sich mit der zarten, unsichtbaren Triebfeder abgeben, die (letztlich auch bei Marathonläufern) ganz verborgen in uns schlummert?

gleiche Quelle
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Das Erstaunliche an diesem delikaten, aber kraftvollen Wesen war die Erkenntnis, dass es im letzten Jahr viel weniger um meine Sehnsüchte ging als um die meiner Mitmenschen. Dass ich, als ich mal auf den Trichter gekommen war, immer öfter das Gefühl hatte, ich sei die Geburtshelferin für die Sehnsüchte anderer. Manchmal waren es ziemlich persönliche, manchmal bisher unbekannte, aber „normale“, über die man reden kann, wie ein Chopin-Prélude für einen erwachsenen Schüler, das er nie für sich für möglich gehalten hätte. Allen war eines gemeinsam: die Menschen, die ich ans Ziel ihrer Träume begleiten durfte, hatten leuchtende Augen. Und das hat mich enorm bewegt, dieses Strahlen, dieses ganz im Augenblick – Sein. Ich durfte so oft in glückliche Augen schauen, dass es mich selber mehr als glücklich macht. Sei es wegen einer bestandenen Aufnahmeprüfung in München (!!!), oder weil wir endlich wieder in Rom durch eine bestimmte Gasse liefen, oder das ganz besonders überglückliche Strahlen in Hundeaugen, wenn es unerwartet doch eine Brotzeit gibt, die auf der Wanderung geteilt wird. All das gehört für mich zum  Begriff „Sehnsucht“. In der Hinsicht war es ein Jahr mit wenig persönlichem Wachstum vielleicht, aber enorm beglückend. Und irgendwie besser, als wenn man nur ständig um sich und seine Bedürfnisse kreist. Auch in der Hinsicht hatte das Wort seine ganz eigene Dynamik…

„Der Stern, der am Firmament deines Herzens steht, ist das Bild für die Sehnsucht, die dich treibt. Trau deiner Sehnsucht, folge ihr bis an den äussersten Rand.“

Anselm Grün

Echtes Weihnachtsgeschenk

978-3-312-00632-8_2145716115-73Selten hat mich ein Buch so aufgerüttelt und schockiert wie Samar Yazbek’s „Die Fremde im Spiegel“. Es ist alles andere als schön – und trotzdem würde ich es sofort und fast jedem empfehlen. Weil es einen in unaufdringlicher Weise veranlasst, sein Heile-Welt-Dasein zu hinterfragen. Und es ist einfach immer wieder nötig, wenigstens auf diese Art zu verstehen, in was für einem Paradies wir leben. Das schmale Bändchen hat mich mehr beeindruckt als die schlimmsten Bilder in den Nachrichten, weil es eben Einzelschicksale sind von Menschen, denen man durch die Erzählung schon näher gekommen war. So was berührt mehr als Fotos von Anonymen.

Filtert man die Bilder von Gewalt, Abhängigkeiten, sexuellen Verstrickungen und daraus resultierend noch mal anderen Abhängigkeiten, finde ich als Kernbotschaft: in einer Gesellschaft, in einem Land, in dem es keine Freiheit gibt, kann es auch keine echte Liebe geben. Es gibt vielleicht Lust oder eine Illusion von Liebe, aber keine wirklich gesunde Beziehung. Das ist furchtbar deprimierend. Heisst es doch, dass es in so einem hoffnungslos düsteren Alltag nicht mal die Perspektive auf privates Glück geben kann.

Was das Buch noch in einem anrichtet: mit jeder weiteren Seite stieg meine Dankbarkeit, dass ich – völlig zufällig und unverdient – nicht so leben muss wie die Frauen in Syrien. Mit jedem neuen Detail ist man nur noch dankbar, dass man sich frei bewegen darf, anziehen darf, was man will, keinen grösseren äusseren Zwängen unterliegt, lieben oder heiraten darf, wen man will, oder eben nicht. Kurz: dass wir die Wahl haben. Und oft vergessen, was das für ein Privileg ist.

Ich fühle mich grade durchgeschüttelt und nur dankbar – aber auch aktionistisch. Ich muss meinen Mädchen mehr mitgeben als nur Wissen über richtige Fingersätze und schönes Pedalisieren. Grade habe ich das Gefühl, dass im luxuriösen Einzelunterricht bei gegebenem Anlass mein Erziehungsauftrag weitergehen sollte. Sollte sich mal wieder jemand über Eltern beklagen, die vermeintlich nichts erlauben, habe ich jetzt ein Wort zum Sonntag parat, das meine Mädchen dankbar sein lassen wird, „nur“ bei ihren Eltern zu leben. (Das hört sich jetzt besonders nervig an und noch unbeliebter als Eltern, aber ich habe tatsächlich Schülerinnen, die das Gespräch und die Diskussion mit mir suchen. Und auch, wenn es nicht so klingt: es bringt uns auch klaviermässig weiter. Und nach dem Buch kann ich es nicht zulassen, dass jemand fahrlässig mit seinen Möglichkeiten und Freiheiten umgeht.)

Und natürlich sitze ich da und denke: kann ich irgendwas für die Millionen Flüchtlinge aus Syrien tun? Und war froh, als ich über diese Webseite stolperte:

http://www.wir-helfen-fluechtlingen.de/

Es ist ein Tropfen auf den heissen Stein, aber besser als nichts.

Macht mit.

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Dinosaurier

Vom Alter her könnten die meisten meiner Schüler/innen meine Kinder sein. Es gibt Momente, da ist die Kluft gering – wenn sie mich nach meinem Parfüm fragen, oder was ich da für einen Tee trinke, weil der ganze Raum nach Zitrone riecht, oder ich eine Meinung zu auf dem Handy gezeigten Kleidern abgeben soll. Meine Schüler erklären mir mitleidig – geduldig technische Details zu allen möglichen elektronischen Wiedergabegeräten oder überhaupt zu ihrer Welt. Was wir voneinander lernen, ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Da kann schon mal die Illusion entstehen, dass man sich doch nicht zu fern ist.

Gestern wurde ich knallhart auf den Boden der Tatsachen geholt. In der „Süddeutschen“ vom Wochenende wurde Hugh Grant gefragt, was er im Leben am meisten bereut. Und? Dass er mit elf aufgehört habe, Klavierstunden zu nehmen. Ha! War ja klar, dass ich das an jeder erdenklichen Gelegenheit anbringen würde diese Woche. Gestern waren zwei fünfzehnjährige Mädchen bei mir, die nach dem Wechsel vom musischen zum sprachlichen Zweig trotzdem noch Klavier spielen, was mich enorm freut. Als sie zwischen den Stunden mit ihren Jacken beschäftigt waren, dachte ich, es ist Zeit für die Hugh-Grant-Geschichte, auch zur Aufmunterung, weil sie eben seinen Fehler nicht machen, und frage vergnügt: „Kennt Ihr Hugh Grant?“ Zwei fragende, völlig blanke Gesichter schauen mich an (den Gesichtsausdruck kenne ich – sie erwarten, dass ich wieder mit obskuren Komponisten ankomme, von denen sie eh noch nie gehört haben). Und mir dämmert es: die Fünfzehnjährigen von heute  – kennen Hugh Grant überhaupt nicht.

Ich komme mir furchtbar alt vor. Und bin ziemlich ernüchtert. Es ist doch so: wenn ich bei der Vorstellung, Hugh Grant könnte beschliessen, wieder mit dem Klavierspielen anzufangen, und dazu realistischerweise nach Wasserburg kommen will, Herzklopfen und berechtigte schlaflose Nächte kriege – dann stellt mich das auf eine Stufe mit meiner Oma, die vielleicht vom jungen Johannes Heesters erzählt. Das bringt mich mehr in die Realität, als wenn meine Friseuse sagt: „im Moment können Sie das noch mit Henna überdecken, aber irgendwann müssen wir uns was überlegen…“ Diese Fünfzehnjährigen könnten meine Enkelinnen sein. So ist das Leben.

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Ein zeitloser Klassiker

Kürzlich las ich zum ersten Mal Anne Morrow Lindberghs „Muscheln in meiner Hand“ – und bin jetzt schon sicher, dass es nicht das letzte Mal war. Und wie bei so manchen Büchern oder Klavierstücken, von denen man theoretisch weiss, dass sie existieren, mit denen man sich aber noch nie näher beschäftigt hat, frage ich mich: warum erst jetzt? Wieso habe ich so lange auf dieses Vergnügen verzichtet?

Es ist aber ein Vergnügen der besonderen Art. Kein Buch, das zur schnellen Lektüre einlädt, ganz im Gegenteil. Das schmale Bändchen hat mich über viele Nachmittage und Abende begleitet und ich habe viele Abschnitte mehr als einmal gelesen, auf mich wirken lassen, mich gefragt, was das für mein eigenes Leben bedeutet (oder inbrünstig gedacht: ja, ganz genau, und wie schön und treffend ausgedrückt – wenn ich diese Beobachtung schon selber gemacht haben sollte.). Was mich am meisten erstaunt, ist die Zeitlosigkeit ihrer Beobachtungen. Geschrieben 1955, spricht es mich jetzt genau so an wie Generationen von Frauen vor mir. Und auch wenn man manchmal schmunzeln möchte, wenn die Rede auf die „moderne Frau“ kommt – ich glaube fast, sie konnte hellsehen (und modern war sie, oder? Als Pilotin?). Oder hat einfach sehr klarsichtig begriffen, dass es Bereiche gibt, die immer anstrengend und kräftezehrend sein werden im Leben einer Frau. Die Mehrfachbelastung durch Familie und Beruf war damals genau so ein Thema wie heute; das Bedürfnis, irgendwo eine Stunde oder einige Minuten am Tag und Raum für sich ganz allein herauszuschinden, war ihr genau so wichtig wie es uns heute ist. Und mir gefällt auch, wie sie als nicht mehr ganz junge Mutter (von sechs Kindern!) über die verschiedenen Abschnitte eines Frauen- und Familienlebens spricht – viel zu schnell ist die Zeit des ständig gefordert-Seins und Eingebettetseins in eine grosse Familie vorbei und man überlegt, wie man mit dem leeren Haus und plötzlich ganz viel freier Zeit für sich allein zurecht kommt. Das ist es auch, was mich sicher sein lässt, dass mich dieses Buch immer ansprechen wird, zu allen Lebensaltern. Und was es so wunderbar universell verschenkbar macht: für die überlastete Freundin mit kleinen Kindern, für die mit Eheproblemen, für die zu plötzlich allein gelassene, oder für die, die sich nach Alleinsein sehnt… Und ihre Vorschläge, wie man wieder sein Zentrum findet, sich nicht zerrissen fühlt, klingen auch absolut aktuell:

„In der letzten Generation haben wir materiell viel gewonnen, aber seelisch sind wir, glaube ich, ärmer geworden, ohne es zu wissen. Früher besassen die Frauen in ihrem Dasein mehr zentrierende Kräfte, Quellen, aus denen sie bewusst oder unbewusst gespeist wurden. Allein die Tatsache ihrer weitgehenden häuslichen Abgeschlossenheit gab ihnen das notwendige Alleinsein. Viele ihrer Aufgaben trugen dazu bei, dass sie sich innerlich sammeln musste. Sie hatten mehr schöpferische Aufgaben zu verrichten. Nichts speist die Mitte so sehr wie schöpferische Arbeit, auch wenn es bescheidene Tätigkeiten sind wie Nähen oder Kochen. Brotbacken, Weben, Einmachen, Kinder unterrichten und ihnen vorsingen, muss viel kraftspendender gewesen sein als den Familienchauffeur zu machen.“

Das könnte doch direkt so auch heute in einer Frauenzeitschrift stehen. Oder in einem der vielen Blogs, die sich mit einem sinnvolleren Leben beschäftigen – und führt uns mal wieder die Überflüssigkeit von vielem, was gesagt oder geschrieben wird, vor Augen (dieses Geschreibsel hier nicht ausgenommen!!). Und genau das ist doch das Wesen eines Klassikers, oder? Dass etwas auf geniale und treffende Weise so ausgedrückt wird, dass es auf Jahrzehnte oder Jahrhunderte Gültigkeit hat. Diese kleine, schmale Bändchen ersetzt regaleweise Selbsthilferatgeber – Minimalisten, aufgemerkt, hier wäre ein Ansatz zum Bücherreduzieren…

Ich freue mich, endlich, so spät im Leben, auf diese kleine Meisterwerk gestossen zu sein. Die hübsche  gebundene Piper-Ausgabe lag wochenlang auf meinem Nachtkästchen, und immer steht eine kleine Vase mit den unermüdlich blühenden und zart duftenden weissen Kletterrosen daneben. Allein der Anblick des schön gestalteten Bändchens mit den Muscheln Long Barnund dem Meerespanorama drauf lässt mich zur Ruhe kommen. Und – jetzt schliesst sich ein Kreis – die Rosen haben seltsamerweise eine Verbindung zu ihr… Diese Sorte, „Madame Alfred Carrière“, habe ich gepflanzt, nachdem ich in einem Gartenbuch gesehen habe, dass Vita Sackville-West sie schon in ihrem ersten Haus in Long Barn hatte. Sie wucherte märchenschlossartig um ihr Schlafzimmer- und Arbeitszimmerfenster, und ich dachte, zur Anrufung und Besänftigung der Musen kann es nicht schaden, auch so eine Rose hier zu haben. Kurz bevor Vita Sissinghurst kaufte, wurde das erste Baby der Lindberghs entführt und ermordet. Um dem Presserummel zu entgehen, beschlossen sie, nach England umzusiedeln – und mieteten Long Barn von Vita, die ohnehin in ihre Schlossruine ziehen wollte. Und so sass Anne Morrow-Lindbergh möglicherweise in dem selben rosenumrankten Arbeitszimmer und wurde vom gleichen zarten Duft umweht wie ich, wenn ich abends noch in ihrem Büchlein schmökere. Das alles hab ich grade beim Googeln erfahren, auf der Suche nach einem Foto für diesen Artikel. Gibt es solche Zufälle?!

(Die ersten beiden Bilder: Yale University Library)

Modernitätsmüde

Wahrscheinlich nimmt mir niemand ab, dass das Leben als Klavierlehrerin in der Provinz, ohne Kinder und mit einer braven Katze, zuweilen richtig anstrengend ist. Aber so ist es – gäbe es nur das Klavier und die Katze, wäre es sicher nicht so schlimm, aber wie jeder andere Mensch stecke  ich in einem Geflecht aus Beziehungen und menschlichen Verbindungen, die unterschiedlich viel Aufmerksamkeit und Pflege bedürfen. Und trotz bester Vorsätze und der enorm vielen Ferien kommt es immer wieder vor, dass ich mich in den Wochen davor unversehens in einen Zustand steigere, der dann nicht mehr schön ist. In dem ich nur noch funktioniere und manchmal atemlos organisiere, telephoniere, voller Schreck bemerke, dass ich doch die Vorbereitung eines Termin übersehen habe und einem Schüler ein Stück aus der falschen Epoche für sein Vorspiel aufgegeben habe (und er es dann ausbaden muss durch Turbo-Mehrüben… was sich zu einer unbeabsichtigten Lektion für uns beide in effektivem und produktivem Üben auswächst. Manchmal ist so ein bisschen Zeitdruck auch hilfreich!)

Was auch zu dieser Hirnwirbeligkeit beiträgt, ist für mich auf jeden Fall die Informationsflut, die ständig auf mich einprasselt, und das Verlangen nach sofortiger Verfügbarkeit per Telephon, Mail, am besten noch Handy, die inzwischen jeder von einem erwartet (Dabei bin ich als handyloser Mensch noch gut dran. Ich fürchte, es würde mich auch komplett verrückt machen, wenn noch ein Gerät zum Beantworten in meinem Leben wäre.). Allein wenn ich morgens mein Mailfach öffne und später ins Infoportal der Schule schaue, fühle ich mich schon niedergebügelt von allem, auf was ich möglichst sofort reagieren soll.

Und so kristallisierte sich zum Osterferienbeginn ein Wunsch heraus: mich auf ganz altmodische Art wieder freier zu fühlen und aus allem etwas zurückzuziehen. An der Menge der Daten und Erwartungen an mich kann ich nichts ändern, aber an meiner Art, damit umzugehen. Einmal dadurch, dass ich einfach weniger oft schaue, was wieder angekommen ist, und dann damit, sich ruhig ein paar Tage Zeit zum Antworten zu nehmen. Briefe hab ich früher ja auch nicht beantwortet, sofort nachdem ich sie aus dem Kasten genommen und den Brieföffner grade weggelegt habe, oder?

An Werktagen schaue ich morgens in meine Mails, während der Kater plus Gäste frühstücken und ich den ersten Tee trinke. Für den Rest des Tages ist der Computer aus – ein Zustand, von dem die meisten Menschen ohnehin träumen. Aber normalerweise bleibt es nicht dabei, nur die Mails anzuschauen, wie jeder weiss, und während man Noten für Schüler sucht oder Hotels nachguckt, fluten unwillkürlich jede Menge an Eindrücken und Bildern auf einen ein. Und während ich dann übe oder Wäsche aufhänge, merke ich, wie sich diese Gedankenstränge weiterentwickeln und mich von dem ablenken, mit dem ich mich eigentlich beschäftigen wollte. Auslöser für den heilsamen und entspannenden Entschluss, zwei Mal fünf Tage komplett auf den Computer zu verzichten, war ein Hotelllink (!), den mir mein Bruder schickte, für ein aufwendig gestaltetes Hotelprojekt in Italien, das sich der Entspannung durch Entschleunigung verschrieben hat. Die Gäste zahlen eine Menge dafür, keine Internetverbindung zu haben. Und da dachte ich mir: das kann ich auch haben! Und da war er, der Entschluss, einfach mal nicht verfügbar zu sein. Die Art der Informationen, die ich an mich ranlasse, noch besser zu filtern. Mehr Kontrolle zu übernehmen, wie und ob ich mit verschiedenen Medien umgehe. Und einfach mal wieder auf die ganz altmodische Art zu leben – so wie vor zwanzig Jahren ungefähr…

Damals war die anfassbare Donnerstags- oder Wochenendzeitung meine Art, mich zu informieren, und dieses Ritual wurde mit viel Gewinn wieder eingeführt. Geht es nur mir so, oder liest man einzelne Artikel konzentrierter und ausdauernder, weil man schliesslich dafür bezahlt hat? Am Computer klicke ich schnell weiter, wenn es uninteressant wird, habe dann aber hunderttausend Gedankensplitter im Kopf und weiss eigentlich gar nichts. Und gleich bei der ersten Lektüre fand ich eine Beschreibung für meinen Zustand: ich bin offensichtlich „modernitätsmüde“. Ja. Das ist es. Und das wurde mein Motto für die Osterferien – der Modernitätsmüdigkeit durch gezielt altmodische Aktionen vorzubeugen und möglichst nichts zu benutzen, was ein Stromkabel braucht (das E-Piano fürs abendliche Rekapitulieren war die erlaubte Ausnahme – wegen der Nerven der Nachbarn…) oder was man nicht anfassen kann. Also weg aus der virtuellen Welt in die echte.

Und deshalb habe ich mich an den vielen strahlenden und blütenduftenden Morgen, die es in den Ferien gab, oft als erstes mit dem Kater an den Teich gesetzt und einfach nur den Fischen zugeschaut, mit der Morgensonne auf dem Rücken und dem glücklich fischezählenden Katzentier vor mir. Und passend zum Ferienanfang kam ein Päckchen aus Japan von einer alten Freundin mit grünem Tee, einem Behälter dafür und dem Hinweis: „Please drink tea under your cherry tree and feel like in Japan.“ Wurde erledigt, mehr als einmal, während wirklich die zartrosa Kirschblüten auf mich rieselten. Und das Tongefäss, das vom Stil her weder in unsere Küche noch aufs alte Büffett passt, harmoniert wunderbar mit dem E-Piano aus dem gleichen Land und der Wandfarbe oben, und deshalb steht es jetzt dort, wo normalerweise Notenstapel lagen. Und es erstaunt mich immer wieder, wie befriedigend es ist, so eine harmonische und ausgewogene Form beim Üben vor Augen zu haben. Und wie gut es tut, sich im wirklichen, greifbaren Leben verwurzelt zu fühlen.

Passend dazu habe ich zum ersten Mal Anne Morrow Lindberghs „Muscheln in meiner Hand“ gelesen – die perfekte Lektüre für so eine Auszeit! Mit folgendem Zitat will ich schliessen – es ist gleichzeitig mein Vorsatz für die letzten Schulwochen:

„Das Leben der modernen Frau tendiert immer mehr zu jenem Zustand, den William James so treffend mit dem deutschen  Wort „Zerrissenheit“ bezeichnet. Sie kann nicht in ewiger Zerrissenheit leben. Sie wird in tausend Stücke zerspringen. Sie muss im Gegenteil bewusst jene Bemühungen unterstützen, die den zentrifugalen Kräften der heutigen Zeit Widerpart bieten: die Bemühungen um ruhige, besinnliche Stunden allein, Gebet, Musik, systematisches Denken, Lesen oder Studieren. Jedes schöpferische Leben, ob physischer, intellektueller oder künstlerischer Natur, das den eigenen Bedürfnissen entspringt, ist dazu angetan. Es muss weder eine anspruchsvolle Aufgabe noch ein bedeutendes Werk sein. Aber es sollte von einem selbst sein.“