Jetzt

In der Krypta des Salzburger Doms gibt es eine Installation von Christian Boltanski: ein Todesengel kreist als Schatten über die Wände, und gleichzeitig ertönt eine automatische Zeitansage in einer Dauerschleife. Man braucht etwas, um sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen, wird dann aber regelrecht eingelullt von der Schattenfigur, die sich langsam bewegt, und der monotonen Zeitansage. Wahrscheinlich wollte uns der Künstler in unmittelbarer Nähe der vielen jahrhundertealten Bischofsgräber eindringlich an unsere eigene Endlichkeit und die unaufhörlich verrinnende Lebenszeit erinnern. Aber seltsamerweise löste die ständige Zeitansage in mir genau das Gegenteil aus: “ beim nächsten Ton ist es – dreizehn Uhr zweiundfünzig und – 20 Sekunden.“ Ja, und das ist wunderbar. Es ist dreizehn Uhr zweiundfünzig, ich bin in Salzburg und habe noch einen ganzen freien Nachmittag vor mir. Diese paar Sekunden der Ansage dehnten sich für mich in einen gigantischen Jetzt-Augenblick. Ich spürte so stark wie selten, dass ich genau jetzt lebe, nur jetzt in diesem Augenblick, und dass das Vorher oder Danach überhaupt nicht interessiert.

Und seltsamerweise zog sich die Erinnerung an diese völlig simple, aber eindringliche Stimme noch durch die folgenden Tage. Ich konnte nicht umhin, mir Uhrzeiten, die ich irgendwo ablas oder durch Schul- oder Kirchenglocken hörte, so langsam und mechanisch vorzusagen und spürte immer, dass ich JETZT lebe. Kurz nach dem Dombesuch sassen wir in einem altmodischen Kaffeehaus, bei traumhafter Torte und Mélange, und als sich zur grossen Uhr im Café hochschaute, dachte ich: “ es ist vierzehn Uhr zwanzig, ich lebe und möchte nirgendwo anders sein.“ Und dieses wunderbare Bewusstsein hält seit Tagen an. Vielleicht war es das, was Boltanski wollte? Nicht, dass wir daran denken, dass unsere Zeit abläuft, sondern dass wir ganz intensiv spüren, dass wir in der Zeit und mit ihr leben? Und eben – überhaupt leben?

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