Je länger ich unterrichte, desto mehr Ideen habe ich, wie man die Hochschulausbildung praxisnäher gestalten könnte. Vielleicht – hoffentlich – hat sich auch viel geändert seit meinen Studientagen. Oder möglicherweise sollen ehrgeizige Liszt-Nachfolger/innen, die nur aus Vernunftgründen das pädagogische Diplom dranhängen, nicht komplett abgeschreckt werden? Fakt ist aber, dass ein Praktikum im Kindergarten nicht schaden würde für das ganze Drumherum mit kleinen Menschen, das unversehens auf einen zukommt. Allein das Reinkommen und Jacken aufhängen und noch mehr: das Gegenteil. Wie viele eingeklemmte Reissverschlüsse habe ich schon befreit? Wie viele verhedderte Schuhbänder aufgedröselt, und wie viel Geduld aufgebracht, wenn der nächste schon auf dem Klavierstuhl sitzt, der Vorherige mir aber zeigen muss, dass er schon Schleifen binden kann (in Zeitlupe…). Wie viele vergessene Fahrradhelme hab ich schon durch Wasserburg getragen?! Wer allein von diesem Anblick auf meinen Job schliessen sollte, würde sicher nicht auf das kommen, was ich eigentlich tue. Eher Fahrradhelmvertreterin oder vierfache Mutter…
Mit den Grundschulkindern passiert es unversehens, dass man eine Art nette Tante wird, die Pflaster, Taschentücher und Hustenbonbons parat hat, bei akuten Hungeranfällen eine Banane oder ein Butterbrot herbeizaubert und sich manchmal auch die wirklich traurigen Geschichten aus einem Kinderleben anhören muss. Gestorbene Haustiere, Ungerechtigkeiten bei der Rollenverteilung im Krippenspiel, Treulosigkeiten von neunjährigen Klasskameraden, die so fest beteuert hatten, dass sie einen heiraten würden – da kann man nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen und Klavier spielen.
Manchmal fürchte ich aber doch, dass ich ein Problem habe, mich abzugrenzen. Mit den Grossen und Nachholstunden und solchen Sperenzchen habe ich es wirklich gut im Griff, seit ich erkannt habe, dass ich sonst kein bisschen Freizeit mehr haben würde. Aber wenn eine Drittklässlerin ihre Mutter beim Abholen fragt, wann sie hier einziehen kann – nicht etwa, ob – , muss ich schon schlucken. Überhaupt wundere ich mich, wie oft Eltern ihre Kinder bei mir „vergessen“. Vielleicht wäre das nicht der Fall, wenn ich ein bisschen miesepetriger wäre. Nicht abgeholte Kinder werden gnadenlos zum Arbeiten eingesetzt, aber selbst das hat keinen abschreckenden Charakter. Im Gegenteil. Sie fragen, wann sie wieder mit mir Kartoffeln schälen, Erdbeeren pflücken, Algen aus dem Teich holen dürfen. (Das einzige Mittel, das hilft: solche Fälle nicht vor die Pause oder ans Unterrichtsende legen, wenn es möglich ist. Aber man muss erst mal rausfinden, wer so viele Kinder hat, dass er erst neunzig Minuten später merkt, wenn eins davon abgeht…)
Es gibt Zeiten, da denke ich, ich hab in der Hinsicht schon alles erlebt. Aber an den Punkt kommt man wohl nie… Als ich mit einer Mutter über den bevorstehenden Geburtstag ihres Sohnes redete und mehr konversationshalber fragte, was sie backen wird, stutzte sie und fragte tatsächlich: „Richten Sie eigentlich auch Kindergeburtstage aus? Ihre Parties sind immer so gelungen.“ Mit „Party“ meinte sie meine durchdacht und aufwendig gestalteten Konzerte, bei denen es danach halt auch Muffins gibt. Ist ja super, wenn es so ankommt, ich bin ja auch beruhigt, wenn es für meine Schüler eher Spass als Prüfungssituation ist, aber – ein bisschen mehr Respekt vor meiner Ausbildung, bitte!
Oder kürzlich, da fragte die Mutter eines Mädchens vom Gymnasium, das direkt von der Schule zu mir kommt und keine Möglichkeit zum Mittagessen hat, ob ich gegen Bezahlung auch einen Mittagstisch anbieten würde. Da dachte ich wirklich, ich habe mich verhört. Erstens: wieso denkt sie, dass ich kochen kann/ werktags überhaupt warm esse? Zweitens: nie würde ich auf meine einsamen Mittagessen, die mehr der Lektüre als der Nahrungsaufnahme dienen, verzichten. Dieses bisschen Ruhe vor dem Sturm ist für meine seelische Gesundheit enorm wichtig. Vielleicht hatte sie ja eine idyllische Vorstellung, dass ich selber Kinder habe, für die ich täglich koche, und der Mann womöglich auch noch dazu kommt und dann ein Kind mehr oder weniger nicht ins Gewicht fällt. Wahrscheinlich ist sie einfach von ihrem eigenen Leben ausgegangen, wie man das immer tut. Aber mich hat die Frage nachhaltig verstört. Ich lausche seither unauffällig, ob dem armen Kind in der Klavierstunde der Magen knurrt (dann würde ich wohl umkippen.) Grübele, ob ich zu asozial und einsiedlerisch lebe, wenn ich nicht mal spontan jemand zu einem existierenden Essen einladen könnte. Komme, wenn ich meinen Stundenlohn zugrunde lege, aber zu einem Preis, bei dem sich das Mädchen ein Menü vom besten Restaurant der Stadt direkt in die Schule liefern lassen könnte, inklusive Service.
Aber vielleicht wäre das eine neue Geschäftsidee. Platz genug hätten wir. Ich könnte französische Konversation, Tischmanieren, das stilvolle Beantworten von Briefen anbieten, zusätzlich zu den täglichen Klavierstunden. Und wäre endgültig im 19. Jahrhundert angekommen…