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Mittagstisch

DSCF2435Je länger ich unterrichte, desto mehr Ideen habe ich, wie man die Hochschulausbildung praxisnäher gestalten könnte. Vielleicht – hoffentlich – hat sich auch viel geändert seit meinen Studientagen. Oder möglicherweise sollen ehrgeizige Liszt-Nachfolger/innen, die nur aus Vernunftgründen das pädagogische Diplom dranhängen, nicht komplett abgeschreckt werden? Fakt ist aber, dass ein Praktikum im Kindergarten nicht schaden würde für das ganze Drumherum mit kleinen Menschen, das unversehens auf einen zukommt. Allein das Reinkommen und Jacken aufhängen und noch mehr: das Gegenteil. Wie viele eingeklemmte Reissverschlüsse habe ich schon befreit? Wie viele verhedderte Schuhbänder aufgedröselt, und wie viel Geduld aufgebracht, wenn der nächste schon auf dem Klavierstuhl sitzt, der Vorherige mir aber zeigen muss, dass er schon Schleifen binden kann (in Zeitlupe…). Wie viele vergessene Fahrradhelme hab ich schon durch Wasserburg getragen?! Wer allein von diesem Anblick auf meinen Job schliessen sollte, würde sicher nicht auf das kommen, was ich eigentlich tue. Eher Fahrradhelmvertreterin oder vierfache Mutter…

Mit den Grundschulkindern passiert es unversehens, dass man eine Art nette Tante wird, die Pflaster, Taschentücher und Hustenbonbons parat hat, bei akuten Hungeranfällen eine Banane oder ein Butterbrot herbeizaubert und sich manchmal auch die wirklich traurigen Geschichten aus einem Kinderleben anhören muss. Gestorbene Haustiere, Ungerechtigkeiten bei der Rollenverteilung im Krippenspiel, Treulosigkeiten von neunjährigen Klasskameraden, die so fest beteuert hatten, dass sie einen heiraten würden – da kann man nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen und Klavier spielen.

Manchmal fürchte ich aber doch, dass ich ein Problem habe, mich abzugrenzen. Mit den Grossen und Nachholstunden und solchen Sperenzchen habe ich es wirklich gut im Griff, seit ich erkannt habe, dass ich sonst kein bisschen Freizeit mehr haben würde. Aber wenn eine Drittklässlerin ihre Mutter beim Abholen fragt, wann sie hier einziehen kann – nicht etwa, ob –  , muss ich schon schlucken. Überhaupt wundere ich mich, wie oft Eltern ihre Kinder bei mir „vergessen“. Vielleicht wäre das nicht der Fall, wenn ich ein bisschen miesepetriger wäre. Nicht abgeholte Kinder werden gnadenlos zum Arbeiten eingesetzt, aber selbst das hat keinen abschreckenden Charakter. Im Gegenteil. Sie fragen, wann sie wieder mit mir Kartoffeln schälen, Erdbeeren pflücken, Algen aus dem Teich holen dürfen. (Das einzige Mittel, das hilft: solche Fälle nicht vor die Pause oder ans Unterrichtsende legen, wenn es möglich ist. Aber man muss erst mal rausfinden, wer so viele Kinder hat, dass er erst neunzig Minuten später merkt, wenn eins davon abgeht…)

DSCF2408Es gibt Zeiten, da denke ich, ich hab in der Hinsicht schon alles erlebt. Aber an den Punkt kommt man wohl nie… Als ich mit einer Mutter über den bevorstehenden Geburtstag ihres Sohnes redete und mehr konversationshalber fragte, was sie backen wird, stutzte sie und fragte tatsächlich: „Richten Sie eigentlich auch Kindergeburtstage aus? Ihre Parties sind immer so gelungen.“ Mit „Party“ meinte sie meine durchdacht und aufwendig gestalteten Konzerte, bei denen es danach halt auch Muffins gibt. Ist ja super, wenn es so ankommt, ich bin ja auch beruhigt, wenn es für meine Schüler eher Spass als Prüfungssituation ist, aber – ein bisschen mehr Respekt vor meiner Ausbildung, bitte!

Oder kürzlich, da fragte die Mutter eines Mädchens vom Gymnasium, das direkt von der Schule zu mir kommt und keine Möglichkeit zum Mittagessen hat, ob ich gegen Bezahlung auch einen Mittagstisch anbieten würde. Da dachte ich wirklich, ich habe mich verhört. Erstens: wieso denkt sie, dass ich kochen kann/ werktags überhaupt warm esse? Zweitens: nie würde ich auf meine einsamen Mittagessen, die mehr der Lektüre als der Nahrungsaufnahme dienen, verzichten. Dieses bisschen Ruhe vor dem Sturm ist für meine seelische Gesundheit enorm wichtig. Vielleicht hatte sie ja eine idyllische Vorstellung, dass ich selber Kinder habe, für die ich täglich koche, und der Mann womöglich auch noch dazu kommt und dann ein Kind mehr oder weniger nicht ins Gewicht fällt. Wahrscheinlich ist sie einfach von ihrem eigenen Leben ausgegangen, wie man das immer tut. Aber mich hat die Frage nachhaltig verstört. Ich lausche seither unauffällig, ob dem armen Kind in der Klavierstunde der Magen knurrt (dann würde ich wohl umkippen.) Grübele, ob ich zu asozial und einsiedlerisch lebe, wenn ich nicht mal spontan jemand zu einem existierenden Essen einladen könnte. Komme, wenn ich meinen Stundenlohn zugrunde lege, aber zu einem Preis, bei dem sich das Mädchen ein Menü vom besten Restaurant der Stadt direkt in die Schule liefern lassen könnte, inklusive Service.

Aber vielleicht wäre das eine neue Geschäftsidee. Platz genug hätten wir. Ich könnte französische Konversation, Tischmanieren, das stilvolle Beantworten von Briefen anbieten, zusätzlich zu den täglichen Klavierstunden. Und wäre endgültig im 19. Jahrhundert angekommen…

Wie man neue Schüler findet

Passend zum Schuljahresbeginn zwei (wahrscheinlich nur in der Kleinstadt geltende) Tipps, wie man an neue Schüler kommt:

DSCF83841. Rausgehen In der grössten Julihitze schwamm ich arglos mitten in einem See, extra ein paar Kilometer vor der Haustür, damit ich keine Schüler oder Bekannten treffe. Dass das Vorhaben missglückt was, merkte ich daran, dass eine Frau auf mich zu schwamm, wirklich mitten im See, und mir zurief: „Hallo Frau Sommerer, XY mein Name, kann ich meine Tochter noch bei Ihnen zum Unterricht anmelden?“ Ich war so perplex, dass ich nur antworten konnte, sie solle mich anrufen, wenn wir wieder angezogen sind. Und woher sie überhaupt wisse, wer ich bin…

2. Zermürben Als ich mir vor sieben Jahren meinen Namen erheiratete, hatte ich keine Ahnung, dass es in unserer kleinen Stadt noch eine Familie mit dem gleichen Namen gibt, die aber nicht mit uns verwandt ist. Ich hatte auch die ganze Zeit keine Ahnung, dass die armen Leute seither ständig wegen Klavierunterricht angerufen werden. Bis die eigene Tochter eines Tages den Wunsch äusserte, jetzt auch Klavier zu lernen – und die Mutter sich sagte: da weiss ich, wen ich anrufen kann. Und mir erzählte, dass sie jahrelang ohne mein Wissen meine Sekretärin gespielt hat. Entschuldigung!

Im Olymp

tumblr_mofev8gDYC1s6ikpgo3_r1_1280Dieses Schuljahr habe ich mir fest vorgenommen, mich bewusst um meine Seele und meine wirklichen Leidenschaften zu kümmern. Nicht nur ständig zu funktionieren und für andere da zu sein, sondern zwischendurch auch zu schauen, was mich eigentlich am Leben erhält. Was gibt es Besseres als einen Opernbesuch, um diesen Vorsatz umzusetzen? Da blühe ich wirklich auf und bin ganz und gar glücklich. Aber wie selten war ich die letzten Jahre in dieser grandios guten Oper quasi vor der Haustür? Das kann ich an zwei Händen aufzählen, inklusive der Opernbesuche mit der Schule. Da war ich als Begleitperson dabei und mehr damit beschäftigt, das Rudel Zehntklässler in Schach zu halten, als mich echtem Kunstgenuss hinzugeben.

Bevor allgemeine Erschöpfung oder widriges Wetter meine Pläne durchkreuzen können, hab ich mir gleich zu Beginn der Saison Karten für  „Madame Butterfly“ gesichert. Wie immer Stehplätze – erstens wegen der Münchner Preise, und hauptsächlich, weil ich immer so aufgeregt und beseligt bin, dass ich eh nicht still sitzen könnte. Ich merke wirklich nicht, dass ich drei Stunden stehe – ich schwebe die ganze Zeit. Und ich fühle mich wohl und einfach am richtigen Platz da ganz oben unter der Decke. Ausserdem sehen wir viel besser als die Leute im Parkett, wie der gigantische Kronleuchter kurz vor Beginn hochfährt, und das ist doch so ein köstliches Stückchen Vorfreude… Überhaupt, die Mitmenschen in der Oper: nach ein paar Tagen in einer Schickimicki-Umgebung in den Sommerferien, in der ich mich denkbar unwohl gefühlt habe, habe ich da oben einfach das Gefühl, richtig zu sein. Wir haben wahrscheinlich alle kein vorzeigbares Bankkonto, aber es ist uns ein Herzensanliegen, hier zu sein. Meine Mit-Stehplätzler schaffen es, sich nett anzuziehen, sie riechen gut, und vor allem: die Begeisterung schwappt über. Das sind glaube ich auch alles Typen, die vor Freude nicht stillsitzen könnten. Und wenn ich vor einer besonders schönen Phrase tief Luft hole, genau wie die Sängerin auf der Bühne, und merke, dass die beiden rechts und links von mir das Gleiche tun – dann ist das ein besonderes Kollektiverlebnis. Dann wird man auf samtigen Puccini-Wogen wirklich in andere Gefilde getragen. Und ich merke: das sind meine Leute. Genau hier will ich sein. Neben der Frau, die als erstes ihre hohen Schuhe auszieht und sagt, ich soll mich melden, wenn die mich am Boden stören. Oder dem Typ, der vor Butterflys Arie affenartig auf das Geländer vor uns klettert, auf dem man eigentlich eher die Ellenbogen abstützt. Weil er etwas wackelig da balanciert, stelle ich mich leicht hinter ihn und mache mich drauf gefasst, ihn eventuell etwas aufzufangen – in dem Bewusstsein, dass ich mich auch auf einen anderen Verrückten verlassen könnte, falls mir vor Entzücken mal anders wird. Ich bilde mir ein, dass hier eine andere Art der Solidarität herrscht als auf den teuren Plätzen.

Nach der Oper durfte ich allerdings schnell feststellen, dass ich wieder auf dem Boden der (Münchner) Tatsachen bin und hier ganz andere Klassenunterschiede herrschen: ich wollte mich schon am Nachmittag mit einer Freundin zum Essen treffen. Wir hatten zu spät realisiert, dass Wieseneröffnung war, und ich hatte mir im Kopf einige nette Parkmöglichkeiten zurechtgelegt, von denen ich mit Öffentlichen in die Innenstadt fahren wollte. Dann war gleich bei uns eine Mega-Umleitung wegen einer Baustelle bei Ebersberg, von der ich nichts wusste. Und noch ein Unfall und eine weitere Umleitung. Also ziemliches Chaos und ein drängend weiterrückender Uhrzeiger. Ich sah meine Felle davon schwimmen und dachte: jetzt hilft nur noch, die Sache mit Geld zu lösen. Ein Mal ist das schon drin. Also fuhr ich, was ich noch nie gemacht habe, in die Parkgarage der Oper – ein Bekannter hatte erzählt, dass es zehn Euro am Abend kostet, und zu Oktoberfestbeginn erschien mir das eine vernünftige Lösung. Mein Auto hatte wirklich Spass daran, langsam die Maximilianstrasse entlang zu fahren, und auch der Platz vor der Oper hat ihm sehr gefallen. Dass direkt vor mir ein schwarzer Rolls Royce in die Tiefgarage glitt, hätte mich etwas stutzig machen sollen… Aber ich dachte noch: was für ein Spass, so mitten in die Stadt reinzufahren. Und ich war spät dran.

Geneigte Leser, merkt Euch: die Tiefgarage kostet nur zehn Euro, wenn man nach 18 Uhr kommt. Als ich um halb elf mein Ticket bezahlen wollte, leuchtete da eine solche Unsumme auf, dass ich fast laut gelacht hätte. Ich hielt es für den besten Scherz seit langem. War aber keiner. Während ich hektisch in meiner Trasche kramte, ob ich solche Mengen an Geld überhaupt dabei hätte, schaute ich, ob der Automat auch Kreditkarten nehmen würde – aber nicht im Sinne von „Hab grad kein Bargeld“, sondern „Bitte geben Sie mir einen Monat Zeit, mein Konto mit den entsprechenden Summen aufzufüllen.“ Wie schnell man doch vom Olymp wieder unten sein kann…

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Bei der Klavierbauerin

DSCF8367Kürzlich habe ich eine Schülerin zum Klavieraussuchen begleitet. Wir fuhren, wie man das so macht, in ein grosses, alteingesessenes Klaviergeschäft in der Stadt. Schon von aussen strahlte es Gediegenheit aus. Die Fassade gepflegt und sauber, die Fenster, hinter denen die wertvollen Instrumente glänzten, gross und makellos durchsichtig. Auch innen hatte man das Gefühl, einen besonderen Bereich zu betreten, in dem man nicht alltägliche und wahrscheinlich fürs Leben einmalige Geschäfte macht. Ein Teppichboden dämpfte unsere Schritte, die Instrumente waren staub- und dapserfrei und standen in grosszügigen Abständen in den verschiedenen Räumen. Der Inhaber kümmerte sich wirklich vorbildlich um uns, aber ich bemerkte, wie ich innerlich immer mehr schrumpfte. Im Gespräch fielen so viele Typenbezeichnungen und Abkürzungen, die mir überhaupt nichts sagten, dass ich mich kurz fragte, ob ich in einem Autohaus sei – und Angst hatte, als Klavierlehrerein nicht für voll genommen zu werden, weil ich keine dieser Kürzel für asiatische Instrumente oder die einzelnen Modelle und ihre Vorgänger kannte. Tatsächlich hatte ich irgendwie das Gefühl, „aufzufliegen“, auch vor meiner Schülerin. Es half auch nichts, dass ich beim Anspielen der Klaviere möglicherweise zeigen konnte, dass ich doch weiss, wo oben und unten ist. Und in der erhofften Preiskategorie war einfach nichts Passendes dabei. Es war eher ernüchternd, zu sehen, wie wenig Klavier man für viel Geld bekommt.

DSCF8365Trotzdem war meine Schülerin fest entschlossen, jetzt, genau jetzt Nägel mit Köpfen zu machen und eins der gesehenen Instrumente zu mieten. Natürlich freue ich mich, wenn jemand so entschlossen aufs Ganze gehen will. Aber für sie, für ihre Hände und ihre Persönlichkeit, konnte ich mir guten Gewissens keins der Klaviere vorstellen. Bevor sie zurückrufen und sich für ein Mietinstrument festlegen konnte, hatte ich die plötzliche Eingebung, kurz auf der Seite meiner geschätzten Klavierbauerin zu schauen, die immer wieder Instrumente in Kommission verkauft. Und da war es: ein deutsches Klavier von 1910, zu einem erstaunlichen Preis. Ich rief sie an und fragte, ob aus ihrer Sicht alles in Ordnung wäre mit dem Klavier. Sie, ganz Hamburgerin: klar, sonst würde sie es ja nicht verkaufen. Ich vertraue ihr blind – sie ist der erste Mensch, den ich wirklich freiwillig und ohne ungute Gefühle ans Innere meines Flügels lasse. Sie hat mit ihrem Stimmen wahre Wunder bewirkt und eine Reibungsoptimierung durchgeführt, die meinen Flügel um Jahre verjüngt hat (und mir das trügerische Gefühl gibt, eine ganz tolle Pianistin zu sein…). Für mich war die Sache in dem Augenblick erledigt, und zwar zur vollsten Zufriedenheit.

Aber ganz unbesehen sollte der Kauf doch nicht über die Bühne gehen. Also pilgerte ich mit meiner Schülerin in Frau Sohnemanns Werkstatt, etwa eine halbe Stunde östlich von Wasserburg. Es war ein wunderbarer Hochsommertag. Der strahlende Himmel wölbte sich über gelben Getreidefeldern, wir hatten Sommerkleider an und zumindest ich hatte ein unerwartetes Ferienaufbruchsgefühl, als wir da in den menschenleeren wilden Osten fuhren. Ich dachte immer, ich wohne ländlich, aber es gibt noch eine Steigerung… Und sie ist unglaublich idyllisch und landschaftlich reizvoll.

DSCF8366Die Werkstatt ist in einem Bauernhof, der in Alleinlage mitten in den Feldern thront. Neben dem Eingang schmiegt sich ein hoher, mit Früchten übervoller Aprikosenbaum an die Hausecke. Die grosse, oben abgerundete Terrassentür stand offen, als wir ankamen, und ganze Teppiche von Sonnenlicht fielen auf den Boden der Werkstatt. Obwohl alle Fenster offenstanden, umfing uns der ungewohnt süsse Geruch der Lacke. Das wird auch der Duft bleiben, der meine Erinnerung an diesen Tag begleitet – und den denkwürdigen Moment, als wir DAS Klavier zum ersten Mal sahen und ich nach den ersten Tönen wusste: das ist es. Von meiner Seite war es Liebe auf den ersten Blick. Wenn ich Platz hätte, würde ich es sofort nehmen. So was Schönes und Kostbares! Elfenbeintasten und Schellack – Politur, eine Jugendstilschrift zum Niederknien, und vor allem der optimale Anschlag für meine Schülerin. Ein ganz wunderbares Tastengefühl und ein herrlicher weicher Klang, den alle Asiaten der Welt nicht hinkriegen würden. Und: es hat zu uns gesprochen. Eindeutig. Ich glaube gar, es hat auf uns gewartet. (Als wir wenig später die unglaubliche und für hier zu persönliche Geschichte hörten, die sich in diesen Tagen noch um dieses Klavier ereignete, waren wir beide davon überzeugt, dass wir es genau in dem DSCF8364Moment finden mussten.) Es ist das grösste Vergnügen, auf diesem Klavier Schubert zu spielen, und das tat ich, ermuntert von Frau Sohnemann, die nebenbei fortfuhr, auf ihrer Werkbank Hämmer abzuziehen. Und ich fühlte mich so frei, obwohl die Türen offenstanden und ich vielleicht jemand stören könnte – so ganz anders als in dem gediegenen Geschäft, das mich direkt eingeschüchtert hat. Hier stand ein grosser Strauss Gartenblumen, die Sommerwärme wehte um uns, es war noch keine einzige Typenbezeichung gefallen und ich fühlte mich geborgen in dem Bewusstsein, dass es der Klavierbauerin ein Anliegen ist, Menschen mit dem genau passenden Instrument zusammenzubringen und zu beglücken. Was für ein schöner Vormittag!

Kugelchen

DSCF2504Wir haben das Glück, einen sehr erfahrenen Gärtner zu haben. Er taucht höchstens ein, zwei Mal im Jahr auf, und es ist eigentlich übertrieben, ihn „unseren“ Gärtner zu nennen. Er ist eher ein Freund, der die Obstbäume schneidet. Für mich ist er die reinste Lichtgestalt. Dieses Unterfangen, allein den Garten in Zaum zu halten, überfordert mich manchmal. Aber wenn Alois da ist, ist alles gut. Selbst wenn seine Aktivität nur im Zuhören über Griessnockerlsuppe besteht und er mir beipflichtet, dass der Wald immer über den Gartenzaun wird kommen wollen. Mein Kampf mit der Wildnis scheint seltsamerweise nicht mehr so aussichtslos, wenn mir jemand wie er bescheinigt, dass er tatsächlich aussichtslos ist und ich voll Respekt meine Grenzen anerkennen muss.

Und Alois hat eine philosphische Ader, die mir sehr gefällt. Deshalb hab ich immer Suppe auf dem Herd für ihn, weil ich so gern was aus seinem Leben höre. Dieses Mal hat er mir zum Beispiel den Unterschied zwischen einem echten Grafen und einem eingeheirateten erklärt: der echte erwartet ihn in Gummistiefeln und  Hemdsärmeln vor der Tür und beginnt schon bei der Begrüssung, die Arbeit zu besprechen. An der er teilnimmt. Der eingeheiratete schaut mal kurz draussen vorbei, im Anzug und meistens mit Handy. Ich hab keine Erfahrung mit echten Grafen, aber ich fand das sehr treffend.

Alois ist im Alter meines Vaters, aber noch voll im Geschäft. Er legt Gärten in der Schweiz an und in Zweitwohnsitzen in Südfrankreich, und als er im Frühling zum Apfelbaumschneiden kam, war er vorher ein paar Wochen in Baden-Württemberg bei einem der Hohenzollern tätig. Hat 500 Apfelbäume gepflanzt, eine Fontäne gebaut, die mit der steigenden Tageszeit immer höher wird (so was macht er nämlich auch), ein Buchsrondell um den Brunnen und Buchsrabatten als Sichtachsen. Noch ganz beflügelt von seinen barocken Gartenphantasien, sagt er beim Rundgang in unserem Gärtchen: „Der Lavendel da, der hat keinen guten Platz. Der braucht mehr Sonne. Ich bring dir einen Buchs für hier.“ Vor der Terrasse? Ich kenne einen Buchs, der fast so hoch ist wie ich, und wende ein: „Aber wir wollen eigentlich von hier auf den Rasen sehen und keine Hecke vor der Terrasse haben.“ „Musst du ja nicht. Ich bring dir den Buchs, und dann schneidest du Kugelchen.“ (Alois spricht eigentlich das schönste Bayrisch, und „Kugelchen“ aus seinem Mund klingt irgendwie lustig.) Ich seufze innerlich: klar, ich hab ja sonst nichts zu tun, ich schneide Kugelchen. Und hoffe, dass er die ganze Sache vergisst.

DSCF6295Es wird Ende Mai, als der Alois -typische Anruf kommt: er wär in einer halben Stunde da, ob das passt? Und da tuckert sein Laster schon um die Ecke, und er steigt aus mit einer Kinderbadewanne voll Buchsbäumchen (und einem über-kniehohen Gewächs, von dem nicht die Rede war.) Alois möchte mir acht Buchsbäumchen vertickern, und ich bekomme es ehrlich mit der Angst zu tun. Wir feilschen und handeln, und ich kann ihn tatsächlich dazu bringen, nur drei zu pflanzen. Mit schön viel Abstand, damit die Katzen noch durchkönnen. (Solche Überlegungen versteht er.) Dann hievt er den anderen Busch aus der Wanne: „da, du magst doch weisse Blumen.“ Eine wunderbare, grosse und gesunde Hortensie! Dann berechnet er mir je sechs Euro für den Buchs – sein Einkaufspreis, schätze ich -, und die Hortensie, die sicher viel teurer ist, ist ein Geschenk.

In den folgenden Wochen schiele ich immer wieder auf die Buchsbäumchen vor dem Wohnzimmerfenster und denke, ich lass ihnen mal Zeit, anzuwachsen, bevor ich sie schneide. Und ehrlich gesagt, hab ich keine Lust, auf dem Boden zu knien und die Dinger in Form zu bringen.  Und dann wird es ganz typisch: je mehr Wochen vergehen, desto grösser und unüberwindlicher wird die Aufgabe. Wahrscheinlich dauert es eine Viertelstunde, aber ich kann mich nicht aufraffen und denke, ich mach es mal, wenn ich richtig viel Zeit habe. Einen ganzen Tag oder so.

Noch mal ein paar Wochen später: ich habe mein Ferienanfangsloch vom letzten Artikel glücklicherweise schnell überwunden. Die Überforderung, auf einmal zu viel Zeit zu haben, wurde gebremst durch ein Festhalten an ein bisschen Routine: eine gesunde Mischung aus Klavierbank, Staudhamer See und dem gestreiften Liegestuhl auf der Terrasse. Auf dem man es bei den Temperaturen allerdings nur in den Morgenstunden aushält. Aber dann ist es herrlich, und ich lese mit meinem ersten Tee ganz lange dort im grünen Schatten. Erst einen fesselnden Roman, bei dem ich den Blick nur auf den Seiten lasse. Dann ein wunderbares Buch zum Gedankenanregen, das ich vor Jahren schon mal gelesen habe: „Let Your Life Speak“ von Parker Palmer. Es geht um Berufung, darum, aus seinem Leben das zu machen, wofür man gemacht ist. Ein erfülltes Leben zu finden, weil man seiner inneren Stimme folgt (wenn man sie denn mal gehört hat). Ein Buch, das man immer wieder sinken lässt, um nachzudenken. Und dabei fiel mein Blick über den Buchrand auf die leicht strubbeligen Buchsbäumchen vor mir. Eigentlich könnte ich mal – und in Gedanken noch ganz im Buch, gehe ich ins Haus und hole die Küchenschere und fange, ohne recht zu wissen, was ich tue, im Nachthemd an, die Bäumchen ordentlich zu schneiden. Zwischendurch trinke ich Tee, begutachte mein Werk von allen Seiten und schnippele immer noch ein bisschen – aber in Wahrheit denke ich nur an das, was ich gelesen hab. Und wie in Trance hab ich auf einmal drei Kugelchen da vor mir im Beet. Und staune, wie wenig aufwendig es doch war. Dieser Schweinehund immer…

Und warum scheut man sich so vor dem Feinschliff? Aus Angst, was kaputt zu machen, oder tatsächlich aus Bequemlichkeit? Charakterlich und pianistisch bin ich so oft gar kein Kugelchen, aber vielleicht wäre es doch nicht so anstrengend, noch ein bisschen weiter zu gehen. Und meine Schüler sind leider auch im seltensten Fall perfekte Kugelchen. Vielleicht mal kurz vor dem Vorspiel, oder halt diejenigen, die von Natur aus perfektionistisch sind und hohe Ansprüche an sich selbst haben. Aber sonst – wie weit wäre es meine Aufgabe, sie behutsam „rund zu machen“? Vielleicht kann ich da mehr tun? Und sei es nur dadurch, dass ich mehr aufzeige, was möglich wäre. Dass ein Stück immer noch makelloser, ausdrucksvoller, vielleicht flotter geht.

Auf jeden Fall freue ich mich auf die von Alois prophezeiten Schneemützchen, die die Kugelchen zu einem Blickfang im Winter werden lassen!

Hitzefrei – und jetzt?

DSCF6470Vor drei, vier Wochen habe ich direkt danach gelechzt, Zeit für mich zu haben, die ich mit schönen Dingen verbringen könnte. Wie draussen zu schwimmen oder einfach auf einem Steg zu sitzen und die Beine baumeln zu lassen. Jede Minute, die ich bei der Hitzewelle in geschlossenen Räumen verbringen musste, kam mir wie vergeudete Lebenszeit vor. Ich hab direkt gelitten, wenn ich, selber schwitzend, meinen hart arbeitenden Schülern im überhitzten Gymnasium mit Noten Luft zufächelte und dachte: mei, dem Mädchen ringeln sich auf der Stirn schon die feinen Härchen vor Feuchtigkeit – am Clementi kann’s nicht liegen, aber bald kollabiert sie. Ich habe nicht unter unserem disziplinierten Spielen gelitten, sondern darunter, dass schon wieder Minuten, die man sinnvoller am See verbringen könnte, unwiderruflich verflossen.

Wenn ich endlich dort war, habe ich es mit jeder Faser meines Körpers und in vollen Zügen genossen. Wohl wissend, dass meine Zeit für solche Vergnügungen limitiert ist und irgendwann der nächste Termin lauert. Ich bin so lange geschwommen, bis meine Fingerspitzen ganz verschrumpelt waren. Und die zwei Tage Sommerfrische im Salzburger Land: ich war glücklich über jede einzelne Sekunde und war mir auch bewusst, wie privilegiert ich bin, dass ich mir inmitten der Sommerkonzerte, der letzten Noten, die eingetragen werden mussten, und der letzten Fachschaftssitzung so eine erfrischende und malerische Auszeit gönnen konnte.

Und jetzt? Liegen sechs völlig freie Ferienwochen vor mir. Und mein Antrieb, irgendwas auf die Beine zu stellen, ist so winzig, dass man ihn vergessen kann. Schwimmen gehen? Hm, heute ist es ein bisschen kalt. (Wobei 20 Grad und Regen der typische Ferienanfang bei uns sind – deshalb war ich ja während des schönen Wetters so wepsig, nichts zu versäumen.) Und ich kann ja morgen noch gehen. Und irgendwo hin fahren und wo ganz anders schwimmen, im Salzkammergut oder so? Wär schon gut, aber das geht ja nächste Woche auch noch, und vielleicht ist heute viel Verkehr. Intensiv und hochkonzentriert eine halbe Stunde üben, weil man dann bis zum nächsten Tag nicht dazu kommt – auch uninteressant, man kann ja später am Nachmittag dafür drei Stunden spielen.
Kurz gesagt: bodenlos, wie hier mit der Zeit umgegangen wird! Und wie entspannt ich dabei bin! Es ist ein sonderbares Phänomen, aber so alt wie die Menschheit selber. Und ich habe so das Gefühl, Seneca und Montaigne haben sich schon kompetenter dazu geäussert – wenn ich es finde, liefere ich ein Zitat nach. Es ist einfach so: ist etwas im Übermass vorhanden, ist es nichts mehr wert. Egal, ob es sich um Essen, Zuneigung, Musik, freie Zeit handelt. Gibt es zu viel davon, weiss man nicht mehr, wie man damit umgehen soll und ist möglicherweise irgendwann übersättigt. Weil man es nicht schafft, selber „stop!“ zu sagen, so wie ich bei den Zimtschnecken gestern… Weil man nicht klug mit seinen Ressourcen umgeht.

Das umgekehrte Phänomen sind limitierte Ereignisse, die die grössten Begehrlichkeiten wecken: eine Kult-Handtasche mit Warteliste, Karten für die Bayreuther Festspiele, ein Preview von irgendwas, bevor es normale Sterbliche zu sehen bekommen – es gibt Menschen, die unglaublich viel Energie und Geld auf so was verwenden. Und an ihrer Vorfreude wahrscheinlich mehr haben als am erreichten Gut. Gäbe es diese Dinge im Übermass, wären sie so uninteressant wie meine langen Ferien.

Warum ist man so? So menschlich? Und kann man was dagegen tun? Ist es nötig, was dagegen zu tun?!

Glücksplatz

DSCF8384Falls ich mich irgendwann mal komplett vor der Welt verstecken will, ausatmen, ein paar Tage wirklich und wahrhaftig die Seele baumeln lassen will – dann würde ich mich nach Goldegg begeben. Jetzt war ich hingefahren auf ehrgeiziger Entdeckungstour. Goldegg war nur einer von mehreren Orten, die ich mir anschauen wollte, hauptsächlich wegen des Sees und der Moorbadeanstalt von 1912 aus Franziskas Buch. Ich hatte nicht geahnt, dass meine Seele derartig ausschlagen würde. Sie ist ja immer schnell begeistert, wenn Wasser in der Nähe ist, und an diesem heissen Samstag sehnte ich mich nach der Wanderung auf der „Sonnenterrasse“ unglaublich nach einer Abkühlung. Aber dann fühlte sich noch mal alles anders an, als ich in dem dunkelgrünen Wasser von einem Ende des kleinen Sees bis zum anderen und wieder zurück schwamm. Vom Ort hatte ich bisher nur die Kirche und das Schloss aus der Ferne gesehen, die hinter dem Schilf aufragten. Mit jeder Viertelstunde, die vom Kirchturm erklang, wurde ich ruhiger und glücklicher. Ich schwamm und schwamm und spürte einen inneren Frieden wie schon lange nicht mehr. Hatte das beglückende Gefühl, wirklich bei mir anzukommen und völlig eins mit mir zu sein, und noch dazu auf so wunderbare Weise umgeben von meinem Lieblingselement. Und schon dort dachte ich, es müsste eigentlich perfekt sein, bei passendem Wetter ein paar Tage hier zu wohnen und nichts zu tun ausser Schwimmen, Essen und Lesen.

DSCF8405Nachdem ich mich endlich vom leicht glitschigen Moorwasser losgerissen hatte, beschloss ich, noch kurz durch das Örtchen zu schlendern. Wie gut, dass ich nicht gleich weiter gefahren bin – Goldegg ist der bisher zauberhafteste und allerschönste Ort, den ich auf meinen Touren rund um Salzburg kennengelernt habe. Fast ein bisschen zu schön, um wahr zu sein, denkt man im ersten Moment – aber es ist kein Museumsdorf und auch nicht so perfekt, wie es auf den ersten Blick wirkt. Ein bisschen Patina trägt dazu bei, dass das unglaublich geschlossene Ensemble alter, liebevoll verzierter Holzhäuser an der Hofmark trotzdem lebendig und belebt wirkt. Die Bauerngärten zwischen den Häusern, die Vorgärten, Rosenbögen, markanten alten Sträucher an einer Hausecke quollen jetzt im Hochsommer über von leuchtenden Farben: ein kobaltblauer Rittersporn neigte sich über den Holzzaun, dahinter sattrote Rosen an der Wand und dunkelrote Stockrosen im Beet. Weisse Hortensien und weisser Phlox strahlten über einem perfekt gepflegten Rasen. Die ganze Farbpalette war vertreten – es war das reinste Fest für die Augen und würde selbst dem hübschesten englischen Cottagegarten echte Konkurrenz machen. Was für eine Entdeckung.

DSCF8404Und ein paar Schritte weiter noch eine Entdeckung: der Seehof, ein Hotel in einem behäbigen alten Haus. Ein paar Schritte von der wunderbaren Badeanstalt… Mein wahrgewordener Traum! Und, wie ich zuhause im Netz feststellen konnte, tatsächlich ein Traumhotel mit ganz unterschiedlich eingerichteten Zimmern, die alle ein eigenes Thema haben. Und einem blauen Lesesalon, für den regelmässig alle Suhrkamp-Neuerscheinungen angeschafft werden. Das gibt’s doch nicht! Lesen und Schwimmen! Jetzt noch ein Klavier, und ich würde es sicher auch zwei Wochen aushalten in Goldegg. Weiss aber nicht, was das mit mir anstellen würde – ich fühle mich schon nach den drei Stunden derart verzaubert und beglückt, dass es kaum mit rechten Dingen zugehen kann.

Ich finde, in der Neuauflage der „66 Lieblingsplätze“ sollte Goldegg vom Wasserkapitel ins Kapitel mit den Glücksplätzen verschoben werden!

Seelenbaumeln

DSCF8372Es ist Samstagnachmittag, ein strahlender, warmer Tag. Ich sitze in St. Veit auf meiner Picknickdecke unter einer grossen schattigen Buche, Omas Damastserviette auf dem Schoss, esse eine österreichische Semmel, Käse, Cocktailtomaten und die herrlichsten, dicksten Herzkirschen aus der Steiermark. Über mir lugt der dunkelbraune Holzgiebel der Klinik, in der Thomas Bernhard seine Tuberkulose kurierte, über den Hang, darüber leuchtet knallblauer Himmel. Ich bin im Salzburger Land und einfach glücklich, dass ich gefahren bin.

Nachdem mein Schülerkonzert vorbei ist und die heissen Sommertage anhalten, hatte ich extreme Reiselust und wollte einfach was Nettes machen, auch wenn die Ferien noch ein paar Wochen weg sind. Alle meine nahen Menschen zogen es vor, was anderes vorzuhaben/ Dienst zu haben/ am Wochenende in die Chorprobe zu gehen. Fast hätte ich mich wieder für die heimischen Seen entschieden – aber was solls, allein wegfahren hat viele Vorteile, und mein Autole zappelt schon, wenn es hört, dass es wieder nach Österreich fahren darf. Und es ist der perfekte Reisebegleiter: quasselt nicht, ist die Zuverlässigkeit in Person und wartet geduldig an jedem Badesee, in den ich springen muss. Und findet den Weg nach Süden inzwischen fast von selbst. Ein gefühlter Katzensprung von Bad Reichenhall, und man ist in einer traumhaft anderen Landschaft, in der die Seele wirklich baumeln kann.

DSCF8421Mit dem Lieblingsreiseführer habe ich mir eine ziemlich vollgepackte Tour im Pongau zusammengestellt. Warum nicht, wenn ich schon mal da bin. Und ich bin ja immer noch am Sondieren und Kennenlernen und stelle fest: es geht nicht nur um das aktuelle Erleben, sondern auch Herausfiltern, was mir am Besten gefällt. An welche Orte ich vielleicht mal für länger zurückkommen will. Ausgehend von der Liechtensteinklamm, die mit ihrem türkisen Wasser für einen heissen Sommertag sehr verlockend aussah, habe ich mich entschieden, in St. Johann im Pongau zu übernachten und Franziskas Lieblingsplätze rundherum zu besuchen.  Zwei waren schön und interessant, aber ich muss sie nicht noch mal sehen: der Thomas-Bernhard-Wanderweg in St. Veit ist wahrscheinlich für echte Bernhard-Fans ein Muss, für mich war es nur ein mehr oder weniger netter Spaziergang (im Neubaugebiet, das es zu Bernhards Zeiten wahrscheinlich noch nicht gab, hab ich ziemlich Gas gegeben – vielleicht hab ich deshalb nur 60 statt der veranschlagten 90 Minuten für den Weg gebraucht?). St. Veit nennt sich zu Recht „Salzburgs Sonnenterrasse“ und mir war es so ganz ohne Schatten einfach auch zu heiss. Was an der Tageszeit gelegen haben könnte… Verblüffend war, wie schnell man zu Fuss Distanzen überwindet. Vom Klinikgelände aus kommt einem die Pfarrkirche auf dem anderen Hügel wirklich weit weg vor, aber im Nu ist man dort und sieht das breitgezogene Krankenhaus scheinbar in ziemlicher Ferne liegen. Doch nach einer halben Stunde ist man wieder dort.

Das andere nicht sensationelle, aber schöne Erlebnis war der hochgelegene Friedhof in Hüttschlag. Der Ort liegt am Ende des Grossarltals, und die Landschaft ist schon sehr, sehr schön und lieblich. Das besondere an dem Friedhof rund um die Kirche sind seine schmiedeeisernen Grabkreuze – andere Grabsteine gibt es nicht. Und eben der Ausblick auf die Bergwelt hier am Talschluss. (Ich hab übrigens mal wieder den Grossglockner gesehen – glaube ich… Was Spitzes, Hohes mit Schnee drauf…) Aber auch hier war pralle Sonne, und Hüttschlag war seltsam ausgestorben. Wahrscheinlich ist es spannender, wenn man gezielt zum Wandern herkommt. Ich hab mich ein bisschen umgesehen und es gibt zahlreiche kleine gelbe Tourenschilder.

Und noch was aus dem Buch, was ich quasi nur im Vorbeifahren angeschaut habe: am Heimweg dachte ich, ich fahre anders und von Bischofshofen über Dienten nach Saalfelden, um den Hochkönig mal zu sehen. Fast 3000 Meter hoch, sechs Stunden Aufstieg – so was mach ich eh nicht. Aber angucken wollte ich diesen höchsten Berg der Berchtesgadener Alpen doch mal. Ich hatte keine Ahnung, dass die Strasse so steil ist: Grossglocknermässig musste ich das Auto im 2. Gang röhrend hochjagen. Aber es hat sich gelohnt: das Hochkönigmassiv ist grandios. Und ich mag es, wenn die Nadelbäume immer spärlicher und die Felsen mehr werden – komme mir vor wie in Kanada.

DSCF8410In aufsteigender Sensationsreihenfolge kriegt die Liechtensteinklamm den vorletzten Platz: perfekt für einen heissen Tag, und schon enorm imposant. Für mich als Musikerin war die Geräuschkulisse besonders beeindruckend, an das werde ich mich auch immer erinnern, wenn ich an die Klamm denke: ein meistens ohrenbetäubendes Tosen, Gurgeln und Rauschen, bis man am Ende des Wegs den nicht minder lauten grossen Wasserfall erreicht. Was für eine Idee, in dieser Wildnis und Wildheit Stege und Treppen zu bauen, damit auch normale Menschen dieses Naturwunder erleben können! Die Stege sind übrigens nichts für Leute mit Höhenangst – es war halb zehn morgens und wirklich kühl in der engen Schlucht, aber ich war mal wieder schweissgebadet. Ich fürchte, das wird nichts mehr. Hat doch der Desensibilisierungsversuch letztes Jahr am Schafberg so gar nicht hingehaut… Ich wollte ungefähr drei Mal umkehren und musste mir gut zureden mit „nur noch ein Schritt, und noch einer, und nicht runter schauen…“ Gut war, dass ich dank Übernachtung sehr früh dran war und die Schlucht praktisch für mich hatte. Am Rückweg drängten sich wirklich Busladungen voll Tagestouristen rein und mir wurde mehr als einmal anders angesichts der Körperfülle von einigen. An manchen Brücken und Stegen steht das  – wenig vertrauenerweckende -„Bitte Ansammlungen auf den Stegen vermeiden!“, und ich fürchte, zwei von den beleibteren Exemplaren muss man schon als „Ansammlung“ betrachten. Wenn dann noch ich auf den Steg gegangen wäre, hätte es eine Katastrophe gegeben.

Ganz oben aufs Siegertreppchen der Reise kommt Goldegg. Gold für Goldegg… Ein wahrlich zauberhafter Ort, der bald einen eigenen Artikel kriegt.

Hitzefrei?

DSCF8351Hitzefrei? Nicht für mich. Leider. Es ist kaum zu fassen, aber meine Schüler tauchen einfach auf. Alle 44. Bei 36 Grad. Und so konsequent, dass ich einen schon gefragt habe: „Gehst du denn nie schwimmen?“ „Doch, jetzt gleich danach.“ Hm. Anscheinend bin mehr ich es, die hitzefrei bräuchte… Und es ist die Woche nach unserem Sommerkonzert (auch bei 36 Grad – alle tauchten auf, wirklich wörtlich: alle in Sonntagskleidung, aber viele noch mit nassen Haaren, direkt aus dem Wasser. Wie ich. Ich musste mich förmlich zwingen, aus dem Simssee zu krabbeln, um pünktlich da zu sein. Wegen Vorbild und so…). Nach wochenlangem diszipliniertem Üben und Polieren der immer gleichen Stücke hatte ich schon ein bisschen auf die eine oder andere Absage spekuliert. Aber jeder kommt, und mit einem Elan, der mich staunen lässt.

Manche müssen über das Konzerterlebnis oder ihr Leben überhaupt reden. Eine Kleinere, deren erstes Vorspiel es war, schaute mich ehrlich erstaunt an, als sie erzählte, dass ihr Herz beim Klavierspielen ganz fest geschlagen hatte. Das hat mich richtig berührt, diese Verwunderung über ihren eigenen Körper, und dass sie es mir gegenüber so in Worte fassen konnte. Und dass es nicht gewertet wurde von ihr – es war erstaunliches Herzklopfen, aber ohne negative Konnotationen wie Angst, Lampenfieber, Vergessen, wie das Stück überhaupt geht… Eine unglaubliche Art von Unschuld. Ich sagte ihr, dass das so sein kann beim Klavierspielen und dass es ein Zeichen dafür ist, dass man ganz lebendig ist. Ich wünsche ihr von Herzen, dass ihr diese Unschuld lange erhalten bleibt und sie nicht durch ihr Umfeld mitkriegt, dass solche Reaktionen was Unangenehmes sind, die einen möglicherweise vom Spielen abhalten.

Oder die Zwölfjährige, die ihre Noten vergessen hat, weil sie nachts um vier noch geübt hat. Nach dem Konzert. Warum sie nachts um vier übt? Weil sie nicht schlafen kann. Wegen eines Jungen. Und was ist das für ein Junge, macht er sie unglücklich? Nein, eher im Gegenteil… Ach.

Alle kommen, und alle sind wild auf neue Nahrung, endlich andere Stücke, darauf, wieder was Neues unter den Fingern zu haben. Und so ist es trotz Hitze eine ganz intensive und verantwortungsvolle Woche für mich, in der ich gut überlegen muss, was die einzelnen jetzt brauchen und vor allem: ob sie nach diesen drei letzten Schulwochen gut alleingelassen werden können mit den Stücken. Also sitze ich in den frühen kühlen Morgenstunden vor dem Regal auf dem Boden, umgeben von Notenstapeln, und freue mich total über den Reichtum an Klavierliteratur und die Möglichkeiten, die vor uns liegen. Und geniesse es danach, früh durch die schattigen Gassen der Altstadt zu gehen, einen Strauss leuchtender Kornblumen zu kaufen, einen hervorragenden Weisswein und sahnigen weissen Käse dazu. Feriengefühle im Alltag…

P.S.: Bin ich erleichtert – immerhin eine Schülerin hat ähnliche Regungen wie ich. Buchstäblich während ich diesen Artikel schrieb, kam eine Mail von einer erwachsenen Schülerin: „Liebe Frau Sommerer/ am Sommersten, krieg ich diese Woche hitzefrei? War nur im See, habe kaum geübt…“ Na also!

Fastfood oder Bioladen

DSCF6256Kürzlich fiel mir ein altes Arbeitszeugnis in die Hände, das durch die persönlichen und individuellen Formulierungen schon fast historischen Wert hat und für mich viel aussagekräftiger ist als die inzwischen üblichen „qualifizierten Arbeitszeugnisse“. In seinem väterlich-wohlwollenden und etwas blumigen Stil spüre ich direkt die Persönlichkeit meines ehemaligen Musikschulleiters, der über mich schrieb: „sie förderte auch die bescheidene Begabung, ohne sich geschmacklich anzubiedern.“ Ich musste damals schmunzeln, und ich tue es jetzt auch – aber mit leisem Bedauern. Denn ich fürchte, meine hehren Ideale von vor fünfzehn Jahren haben sich durch den Berufsalltag ziemlich abgeschliffen, und wenn ich als Klavierlehrerin überleben will, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mich viel stärker nach dem Geschmack meiner Schüler zu richten, als das damals noch der Fall war.

Diese erste Stelle an einer grossen Musikschule trat ich frisch vom Studium aus an, im Gepäck die ganze Literatur, die wir im Methodikunterricht mit den einzelnen begabten Gastschülern an der Hochschule verwendet hatten: seriöse und anspruchsvolle Schulwerke und von sehr früh an Originalliteratur von Bach, Leopold Mozart, Türk. Casella, Bartok, Kabalewski und Gubaidulina waren für unsere Schüler vertraute und auch beliebte Namen. Die „15 portraits d’enfants d’Auguste Renoir“ von Jean Francaix waren ein Standard zum Vierhändigspielen (kurzer Exkurs: die Einstudierung von fünf dieser wunderschönen Stücke für mein diesjähriges Sommerkonzert hat mich etliche graue Haare gekostet…).

Was für ein ehrgeiziges Projekt diese Art der Literaturwahl war, ging mir gleich im ersten Jahr  auf, als ich in ständige Berührung mit sozusagen „normal begabten“ Kindern kam. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern soll bedeuten, dass uns im Elfenbeinturm der Hochschule nicht wirklich bewusst war, dass es Kinder gibt, die nicht täglich und freiwillig üben und die eventuell auch aus Elternhäusern kommen, in denen klassische Musik eine Randerscheinung ist. Es war ausgerechnet an dieser Musikschule, von der ich das nette Zeugnis habe, dass ich zum ersten Mal aufmerksam wurde auf Pamela Wedgwood’s „Jazzin‘ about“. Die Lehrerin, von der ich die Schüler übernommen hatte, verwendete es anscheinend gerne, und ich verstand schnell, warum: im Gegensatz zu Casella und Konsorten war das eine Tonsprache, die die Schüler unmittelbar ansprach, und die wirklich gut und instruktiv geschriebenen Stücke liessen sich schnell lernen und machten in den Konzerten wesentlich mehr Eindruck als die klassische Moderne. Ich sah ein bisschen die Gefahr, dass diese leichten Stücke mit Instantbelohnung die Schüler „verderben“ würden für richtiges und konzentriertes Arbeiten. Doch der Alltag lehrte mich, dass es ohne Belohnungen und Kompromisse dieser Art nur äusserst zäh vorangehen würde, und so wurden die Stücke aus „Jazzin‘ about“ fester und beliebter Bestandteil der Unterrichtstage und der Konzerte.

Und jetzt, nach fünfzehn Jahren? Bin ich froh und dankbar, wenn meine Schüler bereit sind, sich mit so anspruchsvollen polyphonen Stücken wie den erwähnten überhaupt abzugeben. Viele kapitulieren wegen der rhythmischen Vertracktheiten oder der Tatsache, dass die linke Hand meistens sehr eigenständig agiert. Und um solche Schüler bei Laune zu halten, habe ich inzwischen noch leichtere, noch gefälligere Jazz- oder Popstücke gefunden. Und verwende sie auch regelmässig… Bartoks „Mikrokosmos“, Prokofieffs „Musique d’enfants“ op. 65, das wunderbare op. 39 von Kabalewski fristen ein Schattendasein und werden höchstens im Rahmen eines Deals herausgezogen: der Einaudi wird im Konzert nur gespielt, wenn du davor den Kabalewski spielst. (Ich muss leider zugeben, dass ich zu solchen erpresserischen Methoden greifen muss.) Und das völlig abgegriffene und sehr geschätzte Bärenreiter Piano-Album „Frühe Moderne“, das, voll von Aufzeichnungen und Anmerkungen, damals unser täglich Brot war, verwende ich heute höchst selten. Wenn, dann für Leute, die Musikabitur oder eine Aufnahmeprüfung anstreben. Die Wahl der Klavierschulen spiegelt auch diese bedauerliche Trendwende: früher habe ich durch die Bank die „Russische Klavierschule“ anschaffen lassen und auch durchgepaukt. Heute ist es für mich die schwerste und anspruchvollste Schule auf dem Markt, und ich habe mir angewöhnt, meine Schüler erst ein paar Wochen kennenzulernen, um einschätzen zu können, ob sie mit diesem Werk überhaupt überleben würden. Und ich kenne und nutze auch die ganzen Alternativen, von leichter bis ganz leicht und in vielen kleinen Schritten…

Und das führt zu der grossen, berühmten Frage, in der oft der gruselige Begriff „Schülermaterial“ auftaucht: ist die Generation, die wir jetzt unterrichten, wirklich so unkonzentriert, uninteressiert, unfähig zu anstrengender und ausdauernder Arbeit? Oder liegt es an uns Lehrern? Die sogenannte „iGeneration“, die nach 2000 geborenen, wächst ohne Zweifel noch mal ganz anders auf als die Generation davor, die einfach „nur“ ins Computerzeitalter geboren war. Die Möglichkeiten der Wissensbeschaffung und – aneignung sind so radikal anders als nie zuvor. So vieles findet virtuell statt, so vieles muss man gar nicht mehr anfassen. Seien es Noten, Bücher, CDs, Konzertkarten – das meiste ist unsichtbar und sofort verfügbar. Und es ist unbestreitbar schwerer, dieser Generation ein Bach-Präludium beizubringen. Trotz der ganzen schnell verfügbaren Hilfsmittel, auf die sie zurückgreifen könnten.

Trotzdem bin ich überzeugt, dass diese Schülergeneration nicht „schlechter“ ist als die davor. Liest man pädagogische Literatur, bekommt man oft den Eindruck, dass die Schüler, die aktuell unterrichtet werden, viel weniger wissbegierig und fleissig sind als noch die eigene Generation – oder die um 1900 oder um 1750. Und bekanntlich klagten schon die alten Römer über die Jugend von heute… Es ist eher unsere Aufgabe als Lehrer, nicht in nostalgischen Betrachtungen und Bedauern zu versinken, sondern zu überlegen, wie wir unter veränderten Bedingungen das Interesse der Kinder wecken können. Eventuell ihre Lust auf das wirkliche, anfassbare und nicht virtuelle Leben neu entfachen können, falls sie wirklich schon so weit abgedriftet sein sollten. Oder die Lust am Lernen, Begreifen, Selbermachen – und die Tatsache, dass es die schönste Belohnung für die Mühen ist, wenn man sich in einem Stück ganz verlieren kann und stolz darauf sein kann, es gemeistert zu haben. Und sollte es nötig sein, gehört ein gewisses Entgegenkommen in der Literaturauswahl für mich inzwischen dazu. Und mir ist es lieber, die Vorschläge kommen von mir und haben noch einigermassen einen Lerneffekt, als dass es irgendwelche zweifelhaften, aus dem Netz runtergeladenen und auf zerknitterten Seiten angebrachten aktuellen Popstücke in dilettantischen Arrangements sind – auf diese Art kann ich doch noch etwas steuern, in welche Richtung sich der Unterricht bewegt. Und sicherstellen, dass trotz gelegentlichen Fastfoods die vollwertige und hochwertige Ernährung gewährleistet bleibt. Eventuell finden sich Querverbindungen zu ganz alten Stücken, und es gibt reizvolle Kombinationen. Oder ein „uraltes“ Stück, das sich jahrzehntelang im Unterricht bewährt hat, wird ein neues Lieblingsstück… Man muss immer bedenken, dass für die Kinder vieles ja „das erste Mal“ ist. Sie sind unvoreingenommener, als wir denken. Wie sollen sie die Welt kennenlernen, wenn wir ihnen nicht helfen? Oft kommt es nur auf die richtige Art der Präsentation an. Dann ist eine Sonatine von Khatchaturian so enorm spannend wie der neueste Einaudi…

Hier eine kleine Liste von bewährter und guter Literatur für Durststrecken (oder jede Woche…), geordnet nach Schwierigkeit:

Daniel Hellbach, die verschiedenen Bände von „Easy Pop“ etc., Acanthus Verlag

Pamela Wedgwood, „Jazzin‘ about“ (verschiedene Bände), Faber Music

Ludovico Einaudi, The Piano Collection

Philip Glass, The Piano Collection, beide Wise Publications

(veröffentlicht in Pianonews 5/2014 )