Drückende, schwer lastende Sommerhitze, wie es sie nur an einem Julinachmittag kurz vor einem Gewitter gibt. Eine wildwachsende Moorwiese, gesprenkelt mit lilanen, gelben und weissen Blütentupfern und träge umschwirrt von dicken Insekten. Schwalben, die tief über die Wiese und den See flattern. Und vor uns ein seltsam schiefes Ensemble von offensichtlich immer neu dazugebauten hohen Anbauten – es könnte ein Schloss sein, wenn es etwas einheitlicher wäre und die einzelnen Gebäudeabschnitte nicht in verschiedenen Farben gestrichen wären. Links ist ein einzelnes Torhaus in einer breiten, behäbigen Architektur, das man über eine Brücke erreicht. Dann kommt die Kirche mit Turm, und gleich daran anschliessend die scheinbar nicht zusammenpassenden Gebäudeteile, die sich im Viertelkreis auf die kleine Insel im See schmiegen. An den steilen Hängen weiden Kühe, über die Hügel versprenkelt liegen ein paar malerische alte Bauernhäuser. Aber das ist schon alles, was von einem zusammenhängenden Ortskern zu sehen wäre.
Die Hitze wabert in Schwaden um uns. Eigentlich ist es zu warm, um hier in der Sonne auf einer Bank zu sitzen. Aber auch zu schön, um wegzugehen. Je länger ich leicht dösend auf das wunderhübsche Gebäudeensemble schaue, desto mehr verschwimmen Wirklichkeit und Phantasie. Dieses Torhaus kenne ich doch irgendwie – war es vielleicht in einem meiner Kinder- Märchenbücher? Und kommt da nicht Gänseliesel mit ihrem Stab aus dem schattigen Tor und führt die schnatternden Gänse über die Brücke zum See? Und da oben, in dem ersten Turm, sitzt da nicht Rapunzel? Und da drüben könnte Dornröschen schlafen… Will ich lieber eine Nixe zwischen den dunkelgrünen Blättern der Seerosen sein oder ein Prinz auf einem weissen Pferd? Es ist so unglaublich ruhig und beschaulich und eingeschlafen hier, dass man denken könnte, man sei durch eine Lücke in Zeit und Raum plötzlich vierhundert Jahre früher wieder aufgewacht. (Vielleicht eine Wirkung des Untersbergs in der Nähe, auf dem so was häufiger vorkommen soll?).
Dabei tost eine der meistbefahrenen Autobahnen Deutschlands nur ein paar Kilometer entfernt vorbei. Dank der Hügel um uns herum und der Senke, in der der See liegt, hören wir überhaupt nichts davon. Und eigentlich verdanken wir die Entdeckung dieses verzauberten Märchenorts nur meiner Verfressenheit: wir wollten spontan nach Salzburg, hatten nicht gefrühstückt und keine Lust, gleich als ersten Programmpunkt in ein Restaurant einzufallen. Also kaufte ich beim Bäcker belegte Semmeln mit Tomate und Mozzarella – die sich bei näherer Inspektion als nicht im Auto-essbar herausstellten, weder für Fahrer noch für Beifahrer. Also sagte ich, genau so spontan wie der ganze Ausflug entstanden war, auf der Landstrasse zwischen Traunstein und Salzburg: „fahr mal da oben auf dem Berg rechts raus, wo wir eine Aussicht haben, und dann essen wir die Dinger da.“ Es gab eine Abzweigung oben rechts, aber dummerweise führte die Strasse nur bergab und es gab keine Parkmöglichkeit. Wir waren so auf den Bergblick fixiert, dass wir das Kloster am See unten völlig übersahen. Hatten sogar so dicke Scheuklappen, dass wir sagten: wie gut, ein grosser Parkplatz, da können wir wenden. Und dabei erst sahen wir das hübsche alte Torhaus… und den Kirchturm… und überhaupt. Ein Hoch auf spontane Planänderungen! Wir hätten diesen magisch schönen Märchenort sonst nie entdeckt und wären am Ende noch jahrelang auf dieser wenig befahrenen, angenehmen Strasse gefahren, ohne zu wissen, was sich da für ein Kleinod versteckt.
Im Lauf des Besuchs kriegen wir raus, dass wir uns in Höglwörth befinden, einem ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift, das ab 1125 von Salzburg aus besiedelt wurde. Aus der Zeit stammt auch die erste Klosteranlage, die dann im Barock umgebaut wurde – alles auf „unregelmässigem Grundriss“. (Ich freue mich immer, wenn der Dehio auf diese Phrase zurückgreifen muss, wo er doch sonst die spinnenartig – geometrisch – perfekten Grundrisszeichnungen so liebt. „Unregelmässig“ heisst: hier wird’s richtig interessant!) Der schiefe und krumme Innenhof ist so was von charmant – ungefähr zwei trapezförmige Innenhöfe, die L-förmig aneinanderstossen, aber alles überhaupt nicht ausgezirkelt und ganz offensichtlich so gut wie möglich angepasst an die Halbinsellage. Und das Pflaster! Ich konnte nicht genug davon kriegen. Noch individueller und unregelmässiger als die ganze Anlage zusammen, denn es besteht ausschliesslich aus riesengrossen runden Katzenkopfsteinen. Ich kann mir kaum vorstellen, was das für eine Arbeit war. Nicht nur das Verlegen, sondern erst mal das Sammeln von Hunderten ungefähr gleichgrosser Steine. Obwohl der Hof wie verzaubert im Sommermittagsschlaf liegt und der kleine Nepomuk-Brunnen in der Ecke einschläfernd plätschert, lasse ich mich nicht einlullen, sondern sprinte zum Auto zurück, um die Kamera zu holen. Ich möchte und muss es festhalten, wie man mit dem, was man hat, und mit Rücksicht auf die örtlichen Gegebenheiten so viel Schönheit erschaffen kann. Es gibt berühmtere, geradere, abgezirkeltere Bauwerke, die uns durch ihre symmetrische Schönheit und Ausgewogenheit in ihren Bann ziehen. Höglwörth wird da wohl nie dazugehören. Aber der besondere Bann von hier ist mindestens ebenso stark und nachhaltig.
(Weil es erst 1816 zu Bayern kam und Salzburg nur 20 km entfernt ist, wird dieser Ort in die „Salzburger Land“- Kategorie geschmuggelt…)