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Gi-Ga-Gack

Unser wunderschönes Kinderkonzert im Rahmen des Wasserburger Klaviersommers hat mich so glücklich gemacht wie lange nichts mehr. Es war mindestens wie Weihnachten und Geburtstag gleichzeitig, die Kinder so in Aktion zu sehen. Und schon in den Monaten vorher hatte ich das grösste Vergnügen, das perfekte Programm zusammenzustellen. Ich hatte völlig freie Hand und hab einfach ein super-ehrgeiziges Konzept vorgelegt, auch um zu zeigen, in welche Richtung es in Zukunft gehen darf: kein Kinderkram, sondern ein schönes Nachmittagskonzert, das sich ins hohe Niveau des Klaviersommers einfügt. Der einzige Nachteil: mit dem Motto „Frankreich um 1900“ haben wir die ganzen Highlights der vierhändigen Literatur schon verpulvert… Aber vielleicht kann ich das ein oder andere irgendwann wieder reinmogeln.

Ich finde es nicht selbstverständlich, dass jüngere Kinder ganze Suiten einwandfrei spielen. Ich war begeistert vom hohen Niveau der Beiträge und bin beeindruckt, was meine Kolleginnen in Haag und Rosenheim auf die Beine gestellt haben. Ohne das kleinste „das ist zu schwer, können wir nicht was anderes nehmen?“ Und erst dachte ich, das ist der eigentliche Nutzen des Klaviersommers – dass Kinder hochwertige Literatur kennenlernen, sich ganz sicher anstrengen müssen und schon daran wachsen, und dass sie sie, dank der Unterstützung durch die Studenten, auf professionellem Niveau aufführen können.

Aber – wie so oft – es gab noch eine Kirsche auf dem Sahnehäubchen: der vielzitierte soziale Aspekt des Musizierens kam eindrucksvoll zum Tragen. Es war wunderschön zu sehen, wie selbstbewusst die Kinder auf die sooo viel älteren Studenten aus aller Herren Länder zugingen, weil – sie waren ein Team, das zusammen am Klavier sitzt und sich die kostbaren Tasten auf zivilisierte Weise teilen muss. Eventuelle Sprachbarrieren wurden schnell nebensächlich, denn es fand die wunderbarste Art der nonverbalen Kommunikation statt, die man sich nur wünschen kann: Blicke, Gesten, zusammen Luftholen. Es war die beste Lektion fürs Leben, die man sich nur vorstellen kann. Schranken von Alter, Hautfarbe oder Sprache existieren nur im Kopf. Wenn es um eine Sache geht, für die alle brennen, ist man sich unglaublich nahe und tut alles, um den anderen mitzunehmen. Und: Kommunikation ist alles, egal auf welche Art.

Und wie lieb die Studenten unsere Kinder an die Hand genommen haben! Beim Applaus im ganz wörtlichen Sinn, und auch sonst mit ihrem geduldigen und gefühlvollen Spiel. Und es gab so viele nette Blickkontakte, die mehr sagten als tausend Worte.

Dank einer Organisationspanne bekamen die Kinder sowohl von mir als auch vom Klaviersommer – Team Schokolade. Ich denke, sie werden es überleben.

Konzerte in Gabersee sind für mich auch immer besonders nett, weil ich einfach durch den Garten rübergehen kann. Wenn es trocken ist, durch kniehohe Wiesen und vorbei an den Bienenhäusern; wenn es regnet, durch den duftenden, hohen Wald. Und dann ist man in dem schönen, gepflegten Gelände mit den hohen Bäumen, hört vielleicht den Kirchturm schlagen… Obwohl es eine Klinik ist, ist die Atmosphäre so friedlich und idyllisch. Und so war es auch, als ich nach dem Konzert heimging, schwer bepackt mit Geschenken, Blumen und einem französischen Picknickkorb inklusive Baguette und Cremant de Loire. Vor der Kirche sprang eine Schülerin mit ihrer kleinen Schwester herum. Die Schwester sauste zu mir, versucht, mich mit ihren dicken Kinderärmchen irgendwo zu umarmen – was schwer war wegen Geschenkkorb und so – und verkündete, dass ihre Schwester ihr „Gi-Ga-Gack“ beibringen würde und dass sie es mir im Herbst vorspielt. Und ich sagte, aus vollem Herzen, dass ich es kaum erwarten kann. Und das ist wahr. Denn: nicht jedes „Gi-Ga-Gack“ führt zu Ravel’s „Jeux d’eau“. Aber es gibt garantiert kein Jeux d’eau ohne ein Gi-Ga-Gack fünfzehn Jahre davor. Und das ist das eigentlich Tolle an unserem Beruf – dass es doch immer weiter geht. Dass es Hoffnung gibt für Totgesagte (wie: Konzerte, Live-Musik, die klassische Musik überhaupt). Und dass wir jeden Tag daran arbeiten können, dass das, was uns wichtig ist, lebendig bleibt.

Französische Verhältnisse

Ich versuche, Stichpunkte für eine Moderation für den Kinderklaviersommer aufzuschreiben. Nach viel zu langen Recherchen finde ich heraus, was ich eh schon geahnt habe: die französische Klaviermusik zwischen 1895 und 1905 bietet Stoff für mehrere Dissertationen. Ganz vieles, was wir aufführen, befindet sich haargenau am berühmten Übergang zwischen Spätromantik und Moderne, genau auf der Brücke, die der Impressionismus so wunderbar bildet. Deshalb sind sie ein Genuss für Spieler und Zuhörer gleichermassen. Aber ich muss bedenken, dass ungefähr die Hälfte der Kinder Grundschüler ist und irgendwie altersgerecht informiert werden sollte.

Sehe ein, dass es zu komplex wäre, alles musikgeschichtlich einzuordnen. Schreibe einen Blogartikel über Harold Acton’s Biographie von Nancy Mitford, der viel zu bissig wird (wer ist der grössere Snob? Er? Sie? Oder vielleicht ich?!).

Jetzt habe ich eine gute Idee: ich schau mal, ob die Komponisten, die da für Kinder komponiert haben, selber Kinder hatten. Das wäre doch ein Bezug, mit dem meine Kinder was anfangen können. Super. Der Bleistift ist gezückt, aber ich schreibe immer langsamer, weil ich schon beim Überfliegen realisiere, dass die zu Tage tretenden Informationen eher unbrauchbar sind: Bizet hatte einen Sohn. Und einen anderen mit der Haushälterin seines Vaters. Fauré, der mit seinem herunterhängenden Schnurrbart für mich immer wie ein harmloses Walross aussieht, hatte zwei Kinder, aber zeitgleich eine Geliebte, für deren Tochter Dolly er die Dolly – Suite schrieb, die wir aufführen. Es gibt Spekulationen, dass diese Dolly auch seine Tochter ist – was nicht erstaunen würde, denn welches Kindchen bekommt zum ersten Geburtstag ein wunderbares vierhändiges Stück, und zu den folgenden auch? (Etwas verstörend ist auch, dass dieser Geliebten eine andere folgte, mit der er 24 Jahre zusammen war. Mein Gatte: „Warum hat er sie nicht geheiratet?“ Ich: „Er war ja schon verheiratet!“) Die Mutter dieser Dolly, Emma Bardac, brannte, kurz nachdem Fauré ihrer Tochter die Suite gewidmet hatte, mit Debussy durch. Mit dem sie eine andere Tochter bekam (der Debussy „Children’s Corner“ widmete). (Und nur am Rande: Emma Bardac war ihrerseits auch verheiratet. Also mit ihrem eigentlichen Mann.) Der einzige, der moralisch einwandfrei zu sein scheint, ist Ravel. Allerdings ist so extrem wenig über sein Privatleben bekannt, das er streng unter Verschluss hielt, dass es immer schon Gerüchte gab, dass er eben gar nicht an Frauen interessiert war. Er hatte also keine Kinder, aber dafür haufenweise Katzen, die die wahren Herrscher in seiner Villa waren. Das ist so ziemlich die einzig für Kinder brauchbare Information, die ich herausgefunden habe.

Ich bin fassungslos und starre auf meinen dürftig bekritzelten Notizblock. Ach du grüne Neune, was sind das für Verhältnisse.

Prokrastinationsmässig schreibe ich einen Blogartikel über Juli Zeh’s „Unterleuten“. Ein gescheiterter Versuch, mich mit deutscher Gegenwartsliteratur zu beschäftigen. Ich merke, dass ich schon wieder zu bissig werde (könnte mich aufregen, dass so was Literatur genannt wird. Veröffentlicht wird. Von einem angesehenen Verlag.) und lege ihn zu den übrigen Blogleichen.

(Noch mal neue Klammer: ich werde manchmal drauf angesprochen, dass mein Blog zu sehr eine heile Welt abbildet. Das stimmt. Aber ich habe ganz viele hässliche Leichen im Keller. Mit denen könnte ich langsam einen – natürlich anonymen – Grantlerblog beleben. Ich habe überhaupt viele Ideen für anonyme Blogs, in denen ich nach Herzenslust und unzensiert schreiben könnte. Dabei wäre der „Ich bin so verknallt in Ravel“ – Blog noch der harmloseste… Aber hier bin ich ja potentielle Klavierlehrerin für Eltern, die auf der Suche sind, und muss mich benehmen. Leider.)

Immer entmutigter, bringt mich das Internet dank der Suche „Debussy für Kinder“ auf Schülerseiten, die Hilfe für Referate bieten sollen. Wusste nicht, dass es so was gibt, bin aber hocherfreut, weil ich mir kindgerechte, leicht verständliche Informationen erhoffe. Beim Recherchieren war immer wieder die Rede davon, dass Debussy und Ravel zeitlebens Konkurrenten um den Platz des „grössten französischen Komponisten“ waren. Ich fürchte, Debussy war einflussreicher und impulsgebender, was die Fortentwicklung der Tonalität und Harmonik und Form betrifft. Aber Ravel berührt mich mehr mit seinen glitzernden, schillernden Klangwogen, und wenn ich die Wahl hätte, würde ich in meiner Freizeit lieber Ravel hören. Entsprechend sauer bin ich, als ich auf einer Lernspass – Kinderseite als ersten Satz lese: „Claude Debussy war der grösste französische Komponist.“ Das ist ja jetzt wohl zu vereinfacht ausgedrückt!

Im Kopf beginne ich, Ravel zu verteidigen und ein imaginäres Gegenüber zu überzeugen, dass er trotz Popularität und eventuell klitzekleiner, etwas simplerer Harmonik trotzdem eigentlich auch der grösste französische Komponist war. Weil er auch so viel besser aussah als Debussy. Und das ist doch ein echtes Argument, oder? Ich betrachte – nur ein paar Stunden lang – Bilder von Ravel, merke, dass ich immer noch ziemlich verschossen in ihn bin, weil er so elegant aussieht in seinen perfekten Dreiteilern (diese gepunktete Krawatte auf dem ersten Bild!!) und überhaupt, erlaube mir ein paar Tagträume einer Zeitreise – aber abgesehen von seinem Einsiedlertum, ich bin sicher viel grösser als er und würde mich blöd fühlen. Aber vielleicht würde er ein bisschen vierhändig spielen mit mir? Während seine Katzen auf dem Flügel herumturnen? Dann finde ich Bilder von ihm und Nijinsky, auch wieder sehr schick und elegant und noch mit einer Zigarette zwischen den langen Fingern, und erinnere mich an das sagenhafte „Daphnis et Chloé“ kürzlich im Philharmonie – Abo. Kurz mal nachgucken, ob man da wirklich zehn Schlagzeuger braucht, oder haben die Philharmoniker zu viel Geld? Und wenn ich schon die Seite offen habe, was gibt es da eigentlich noch für Aufnahmen?

Bin noch frustrierter, weil ich immer noch keine Ahnung habe, was ich im Kinderklaviersommer sagen soll.

Schreibe einen Blogartikel über „The Great Gatsby“, die grandioseste Neuentdeckung der letzten Wochen. Habe im Frühjahr endlich angefangen, Fitzgerald zu lesen und habe mich über richtig geniale Kurzgeschichten und „Tender is the Night“ zu diesem Meisterwerk herangepirscht. Merke aber bald, dass ich zu begeistert und letztlich sprachlos bin, um drüber zu schreiben. Warum kann man das, was einen aufregt, immer viel leichter in Worte fassen?

Zurück zum Thema. Recherchemässig höre ich mir noch mal Ravel’s eigene Aufnahme seiner „Pavane pour une infante défunte“ von 1922 an. Wunderbarerweise hat er das gleiche langsame Tempo wie mein Schüler und ich, wenn wir üben. Das heisst, wir würden uns sicher gleich bestens verstehen, wenn wir mal zusammen spielen könnten, also Monsieur Ravel und ich. Nur wir beide. In seinem Haus. Mit seinen Katzen. Hmmmm…..

(Fotos: Reserach Gate, Fondation Maurice Ravel, Classic FM, BBC)

Vom Inn an die Seine: Seerosen

Gedanken beim Betrachten des eigenen Seerosenteichs: „Wie grässlich das Wasser aussieht, so schlimm war es noch nie. Es sollte wirklich mal wieder regnen. Wahrscheinlich kippt der Teich eh vorher um. Und diese Seerosen breiten sich aus wir Unkraut – ich muss das gleich mal dezimieren. (Mit einem Arm voll tropfender Seerosen, einem nassen T – Shirt  und Schlick auf den Unterarmen) Oh nein, schon wieder ein toter Fisch, bei lebendigem Leib halb abgefressen und liegengelassen – die Ringelnatter war wieder hier. Der arme Fisch. (Seerosen wegschleppen, Hose wird auch nass. Zurück, Fisch rausfischen, unten im Garten beerdigen. Wieder hoch, Schweiss von der Stirn wischen mit der Rückseite der Hand.) Mensch, dieser blöde Teich. Wir sollten ihn zuschütten.“

Gedanken beim Betrachten von Monet’s Seerosen in der Orangerie: „Dieses Blau. Diese Ruhe und kühle Stille. Dieses endlose Blau, egal wo hin ich mich drehe. Ich habe das Gefühl, ich befinde mich mitten im Teich, und um mich herum ist alles wunderbar und kühl und beruhigend. Ich entspanne mich mit jeder Sekunde, die ich die endlos breiten Bilder anschaue. Diese ovale Endlosigkeit, die gewölbten Oberflächen – es ist wie Schwimmen in hunderten von wunderschönen Blautönen. Ich fühle mich erfrischt und geläutert und so viel besser als zuvor.“

Selten waren neun Euro so gut investiert wie für die Eintrittskarte dieses Museums, weil es einen wieder erkennen lässt, was theoretisch schön sein kann an Gartenteichen und Seerosen und Wasserwelten. Der grösste Gegensatz zum eigenen Garten ist die Perspektive, aus der man die unendliche blaue Fläche betrachtet: nicht wie zuhause von oben und mit einem gnadenlosen Blick auf alles, was grade schiefläuft im Teichleben, sondern als ob man selber wie eine Seerosenblüte auf der Teichoberfläche schwimmt und praktisch umhüllt ist von Wasser und Reflexen des Himmels. Auch die hängenden Weiden am Ufer sieht man aus der Froschperspektive. Es ist das ultimative Eintauchen ins Blau.

Monet hat in seinen letzten Lebensjahren diesen Ausstellungsraum selbst konzipiert. Für die zwei langgezogenen ovalen Räumen, die von oben betrachtet fast eine liegende Acht ergeben und damit irgendwie das Zeichen für Unendlichkeit, hat er 170 laufende Meter Leinwand mit Wasser und Seerosen bemalt. Alles ist leicht nach innen gewölbt. Wegen des genialen Zusammenklangs von Raum und Bild aus der Hand eines einzelnen Künstlers wird die Orangerie auch die „sixtinische Kapelle des Impressionismus“ genannt. Monet schenkte die gesamte Installation dem französischen Staat kurz nach dem ersten Weltkrieg und wollte bewusst einen Ort der Ruhe und der inneren Einkehr schaffen für Menschen, die nach den Schrecken des Krieges inneren Frieden suchen.

Die Orangerie ist nach wie vor Balsam für die Seele, auch, weil es eines der weniger besuchten Museen von Paris zu sein scheint. Es gab wirklich Momente, in denen man eine komplette lange Seite der Räume ganz für sich hatte und die Gemälde in ihrer ganzen Pracht auf sich wirken lassen konnte – was man vom Louvre nicht unbedingt behaupten kann. Und die paar Leute, die hier waren, kamen offensichtlich wegen der Bilder und waren leise und dezent. Deshalb konnte diese herrliche Symphonie in Blau auch ihren besonderen Zauber auf mich ausüben: von der ersten Sekunde an fingen die Bilder für mich an zu singen und zu klingen. Es klingt esoterisch, aber selten hat es mich so überfallen. Wahrscheinlich auch, weil man so komplett umgeben ist von ihnen und diese zarten, schwebenden und schwimmenden Farben sehr starke Assoziationen an alle möglichen eigenen Wasserbegegnungen auslösen: beim Schwimmen, an kleinen Wasserfällen, beim Sitzen auf einem Steg, beim Eintauchen der Giesskanne ins Wasserbecken, natürlich immer wieder Fetzen von Debussy’s „Reflets dans l’eau“ – ich war ziemlich überrumpelt. Es gibt ja Bilder, die einen ausgeprägten Rhythmus haben und einen in ihre eigenen Bewegung reinziehen. Oder andere, die komplett sinnlich auf einen wirken und den Geruch der abgebildeten Pfirsiche oder Pfingstrosen zu verströmen scheinen. Hier wurde ich überrollt von Geräuschen und Klängen wie selten und fühlte mich wie untergetaucht in meinem Lieblingselement – ohne einen echten, greifbaren Tropfen Wasser in Sicht, erstaunlicherweise (die Tuilerien draussen waren sogar extrem staubig, und unsere Schuhe auch entsprechend. Weil wir die Räder hatten schieben müssen im Park…)

Und ein Stockwerk tiefer: eine Art kleiner, feiner Ableger des Musée d’Orsay mit Werken von Renoir bis Matisse und Picasso. Wirklich eine ganz feine, hochwertige Auswahl, und viel machbarer und erlebbarer als die unendlich vielen Bilder im Orsay. Die Fülle dort ist zwar wunderbar und es gibt kaum einen schöneren Ort auf der Welt – aber es erschlägt einen auch, wenn man nicht aufpasst. Hier waren wir nur eine Stunde, hatten aber viele nette Begegnungen. Ich hatte keine Ahnung, dass so viele Renoirs hier hängen. Er ist nicht grade mein Liebling, aber wegen der Francaix – Stücke für den Kinderklaviersommer sind wir grade umgeben von seinen Kinderporträts und es war besonders nett, ein dralles, kleines Persönchen wiederzutreffen, das grade als Leihgabe über den Sommer aus Tokyo da ist. Und dann natürlich diese Schwestern, die man als klavierspielender Mensch hundertfach auf Noten, Büchern, in Biographien gesehen hat. Sie wohnen hier, praktisch, und können immer dort besucht werden. Ich war nicht drauf vorbereitet, sie zu sehen, aber durch ihre Popularität sind sie einem ganz seltsam vertraut. Und wenn ich so Mädchen am Klavier sehe, muss ich mich zusammenreissen, um nicht ins Bild zu steigen und mich daneben zu setzen: „Und, wie war der neue Fingersatz im Chopin, läuft’s jetzt besser?“ (Und ich bin sicher, die Antwort war auch 1897: „Der Fingersatz ist sicher gut, aber… ich konnte nicht üben, weil wir mit Mama zu so vielen Anproben mussten wegen Christines Debüt, und am Samstag war ich den ganzen Tag im Bois de Boulogne, weil das Wetter so schön war, und Sonntag war Gesellschaft bei Grandmère, und Sie wissen, wie übel sie es nimmt, wenn man gleich wieder geht…“ „Yvonne sollte ihren Mozart spielen und es war voll schlecht.“ „War es gar nicht!“ „Doch, du bist immer langsamer geworden bei den Läufen. Ich fand’s total peinlich.“ „Du blöde…“ Garantiert.)

Vom Inn an die Seine: Tour de France mit Törtchenpause

„Also, ich beschreib dir jetzt ganz genau die Schuhe, nach denen ich suche“, beginnt meine Freundin im ICE nach Paris, während sie den Konditorei – Führer und ein kleines Wörterbuch für kulinarische Gelegenheiten auf das Tischchen legt. Und ich merke, wie ich innerlich und äusserlich zu strahlen beginne und mich völlig entspanne. Denn so eine Freundin ist genau das, was ich brauche, und ich bin glücklich, wie nahtlos wir an unsere früheren Genussreisen anknüpfen, obwohl fünfzehn Jahre vergangen sind. Seither sind wir durch die diversen Höhen und Tiefen des Lebens gegangen, gemeinsam und jede für sich. Heirat, Hauskauf, Kinder bei ihr, kranke Eltern, Beerdigungen der Eltern, mehr eingebunden als jemals im Beruf – und trotzdem gelingt es uns, all das mit Tempo 300 hinter uns zu lassen und mit einer Entschlossenheit, die eines Napoleons würdig wäre, auf dem Stadtplan zu schauen, wo wir wann was geniessen – seien es Monet’s Seerosen, ein Ballettabend in der Opéra Garnier oder sündhafte Macarons.

Denn, bei allen genussvollen Vergnügungen: der Kulturgenuss kam nie zu kurz und ich habe mit ihr schon die allerschönsten Museen und Ruinen gesehen. Aber die Balance hat immer gestimmt. Die Besichtigungen wurden immer kombiniert mit einem Markt- und/ oder Café – Besuch, und vielleicht habe ich unsere Urlaube deshalb in so guter Erinnerung. Wenn man mich allein loslässt, passiert es regelmässig, dass mein Besichtigungsprogramm zu ernsthaft und zu ausufernd wird und ich irgendwann fast Kopfweh kriege. Wenn meine Freundin dabei ist, habe ich das Gefühl, dass sie mich wie einen Luftballon an der Schnur festhält und durch ihren Blick für irdischere Vergnügungen verhindert, dass ich komplett abhebe und davonfliege. Ich habe zum Beispiel bis letzte Woche nicht gewusst, dass es Schuhläden in Paris gibt. Irgendwie habe ich es schon angenommen – man muss ja was an den Füssen haben. Aber damit war mein Interesse erschöpft. Jetzt war ich sogar in einem! Und, damit hier kein falscher Eindruck entsteht: meine Freundin interessiert sich für viel mehr als Schuhe und Törtchen. Sie hatte ihre halbe Paris – Bibliothek dabei, ungefähr zehn Bücher, darunter Hemingway und Julian Green, die ich beide nicht kannte. In unserem Hotelzimmer waren vier gefüllte Bücherregale mit Büchern, die man auch mitnehmen durfte, ebenso wie man eigene für andere Gäste hierlassen konnte. Nachdem sie ihre Bücher auf dem Bett ausgebreitet hatte, musste ich grinsen: ausnahmsweise hatte ich nur ein Buch dabei (ein sehr nettes mit Paris – Spaziergängen, das sie mir zu Weihnachten geschenkt hat), aber ich würde nicht darben müssen.

Unser schnuckeliges, kleines Hotel du Nord bot nicht nur jeden Morgen eine stilvoll präsentierte Auswahl von drei hausgemachten Marmeladen zum Croissant – auf diese Art haben wir neun verschiedene Marmeladen gegessen in Paris! – , sondern auch kostenlose Fahrräder für die Gäste. Erst war ich skeptisch, weil ich noch nie in einer grossen Stadt Rad gefahren bin, aber es erwies sich als der allergrösste Spass überhaupt. Die erste Viertelstunde war aufregend, weil wir keine Sekunde warten wollten und uns sofort nach dem Einchecken mitten in den Feierabendverkehr stürzten. Das war die Feuerprobe, sozusagen. Ab dann wurde es besser. Und wir waren ein gutes Team: sie kennt die Verkehrsregeln, ich hab die Orientierung. Und als wir uns zur Seine durchgeschlängelt hatten, wurde es direkt entspannend, am Fluss zu fahren. Aber auch der Innenstadtverkehr ist weniger schlimm, als es aussieht: die grossen Boulevards, die einen schnurgerade und einfach in ein anderes Viertel bringen, sind sechspurig. Die mittleren vier Spuren sind für Autos, die jeweils äusseren beiden für Bus, Taxi und Radfahrer. Wenn man das Glück hat, sich an ein Taxi Parisien dranzuhängen und grüne Welle hat, läuft alles wunderbar und flott. Manchmal war es natürlich dichter, aber nie wirklich unangenehm. Aber Freitag mittag, als ich dachte, jetzt ist alles wunderbar und ich hab mich echt dran  gewöhnt, sagt die Freundin an einer roten Ampel: „Mensch, ist schon ein bisschen wie auf der Autobahn Radfahren…“ Trotzdem würde ich es jedem empfehlen. Man sieht so viel mehr, als wenn man in dieser riesigen Stadt zu Fuss geht (Und noch was: es gibt Schuhläden in Paris, aber keine Fahrradhelme. Überhaupt gar nicht. Also nicht etwa was extra einpacken!). Und davon abgesehen, ist es unvergleichlich, an einem milden, hellen Juniabend an der Seine entlang zu radeln. Und auf der anderen Seite wieder zurück, und noch kurz einen Abstecher zu „Shakespeare and Company“ zu machen und die Räder ganz cool an einen Zaun anzuschliessen. So als würden wir hier immer wieder mal vorbeikommen… Und noch unvergleichlicher und ultraromantisch ist es, dank der absurden Nachtöffnungszeiten des Ladens um halb elf abends rauszukommen, über die Brücke bei Notre Dame zu fahren und den Himmel im Westen in einem ungewohnt späten Abendrot gold und orange aufleuchten zu sehen. Ich musste drei Mal hinschauen, um alles zu kapieren: dass ich wirklich in Paris war und die Seine im Abendlicht vor mir glitzerte. Die Zugfahrt war wie im Flug vergangen, und irgendwie braucht man Zeit, um wirklich nachzukommen und anzukommen. Ganz kapiert hatte ich es in dem Moment auch noch nicht, denn der Anblick war viel zu zauberhaft, um wahr zu sein – aber so langsam sickerte es in mein Bewusstsein, dass ich tatsächlich in der Stadt meiner Träume angekommen war.

Gebrochene Vorsätze, Kapitel 27

Wer mich kennt, weiss, dass ich theoretisch keine Bücher mehr anschaffen will. Aus Platzgründen.

Wer mich besser kennt, weiss auch, dass ich es trotzdem immer wieder tue. Irgendwann muss ich einfach neue Regale aufstellen, damit diese Gewissenskonflikte mal aufhören.

In letzter Zeit musste ich aber aus Altruismus Bücher kaufen. Es gibt ein wunderbares, höhlenartiges, total vollgestelltes Antiquariat in einem der ältesten Häuser in Wasserburg, in dem ich wahnsinnig gern stöbere. Der einzige Weg, der Versuchung zu entgehen, war, eben nicht mehr hinzugehen. Aber dann traf ich den Buchhändler im Winter in einem Konzert. Wir unterhielten uns danach noch etwas und er klagte mir sein Leid: er bekommt eine Heizung und muss den einen Teil seines Ladens komplett ausräumen. Im Prinzip ist es ja angenehm, im 21. Jahrhundert eine Heizung zu haben (ich habe wirklich gestaunt, dass es in Wasserburg noch Häuser ohne Heizung gibt. Klingt wie tiefstes Osteuropa, oder? Erklärt vielleicht auch den wunderbar muffigen Geruch, den ich so mag.) Aber diese Berge von Büchern auszuräumen – mir graut bei dem Gedanken. Um irgendwie durchzukommen, veranstaltete der Buchhändler einen Sonderverkauf und meinte zum Abschied, so nebenbei: „Sie können ja mal vorbeischauen.“

Und so flammte unsere verhängnisvolle Affäre wieder auf.

Herr Feurer entspricht auch optisch der Vorstellung, die man von einem schöngeistigen promovierten Kunsthistoriker und Germanist, der jetzt Buchhändler ist, hat: gross und hager und fast acht Monate im Jahr in einem langen schwarzen Mantel und Schal. Sieht immer aus, als wäre er auf dem Weg zu einer Beerdigung, aber jetzt weiss ich, dass es wegen der nicht – existenten Heizung ist. Irgendwann sagte er von sich selbst, dass er äusserst graecophil sei (musste schnell nachschauen, wie man’s schreibt…), und ab da gewann unsere Beziehung noch mal an Tiefe. Seit mein Vater nicht mehr da ist, vermisse ich einen Gesprächspartner über die antike Welt sehr schmerzlich. Und jetzt, nachdem ich meine Besuche im Antiquariat wieder aufgenommen habe, merke ich, wie sehr ich unsere Unterhaltungen vermisst habe, sein profundes Wissen über vergangene Zeiten und obskure Quellen, sein Engagement, entlegenere Sekundärliteratur für mich aufzuspüren, seine liebevoll kopierten Literaturlisten mit noch mehr Quellen, die mich interessieren könnten (obwohl das schon fast was von einem Drogendealer hat – einmal verführt, gibt’s den immer noch besseren Kick, den immer noch reineren Stoff. Und ich kann nicht nein sagen.), seine Überzeugung, dass es keine vergriffenen Bücher gibt, sondern dass die sehr wohl noch irgendwo sein müssen… Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich nur zwei der Sonderverkaufsbücher erstanden habe. Und die auch noch als Geburtstagsgeschenke für andere – das klingt jetzt richtig schäbig, aber es sind zwei wirklich besondere und sehr passende Bücher für die jeweiligen Menschen. Der Rest der (undeutlich genuschelte Zahl) Bücher, die ich gekauft habe, waren gebundene, wunderschöne Exemplare, zum Teil Erstausgaben mit bibliophilen Vorsatzblättern – was einem halt so passiert, wenn man schwach wird.

Auf die Graecophilie kamen wir, als wir über Klassiker redeten, die jeder kennt und keiner liest, und ich sagte so nebenbei, dass ich schon immer die Odyssee lesen wollte. Und er: ich kann Ihnen ja ein paar raussuchen, während Sie sich umgucken. Und man glaubt es nicht: er hatte einen ganzen Stapel von verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen (erst wollte er mir das Original andrehen – äh!) und empfahl mir als Musikerin die vom Schiller – Zeitgenossen Voß, weil sie so einen schönen Rhythmus hat. Womit er völlig recht hat. Ich liebe auch diese altmodische Sprache. Keine Ahnung, wie nah sie am Original ist, aber wenn man schon was uraltes liest, ist es egal, ob man es in einer ebenfalls alten Brechung liest. Mir ist es auf jeden Fall nicht zu fern, und ich hatte das grösste Vergnügen seit langem, als ich mich über die letzten Wochen langsam und mit Genuss durch das Epos arbeitete. Wobei gegen Ende das Phänomen auftrat, das sicher jeder kennt: dass man noch langsamer und genussvoller liest, weil man nicht möchte, dass das Buch zu Ende geht. Was dazu führte, dass ich mich relativ lange in den blutrünstigen letzten Kapiteln aufhielt, in denen mit den Freiern aufgeräumt wird und die Mägde an Stricken aufgehängt werden, bis ihre Füsse nicht mehr zappelten… Das ist schon eher scheusslich. Aber die ganze lange Reise vorher, die lebendige Schilderung der fischdurchwimmelten Meere, die Morgendämmerung, die immer wieder mit rosigen Fingern erwacht – das war der allerbeste Crashkurs in antiker Weltanschauung. Ich erinnere mich, wie ich, als ich in dem Jahr in Amerika auch Kunstgeschichte belegt habe, als Pflichtlektüre ein dickes Buch über Mythologie lesen musste und mich damit etwas gequält habe (und vor allem dachte: was denn noch alles…) Wenn man die Odyssee liest, bekommt man die farbigste und lebendigste Vorstellung von der griechischen Götterwelt. Wie sie tatsächlich ständig vom Himmel steigen, in verschiedenen Gestalten, und ins Geschehen eingreifen. Und wie liebevoll und menschlich sie charakterisiert werden:  Athene als blauäugichte, freundliche Tochter. Man freut sich schon immer auf die strahlenden Augen, wenn man spürt, jetzt ist mal wieder ihre Intervention fällig. Und es hat ja auch was ganz Märchenhaftes, wenn sie nachts als Rauch oder Nebel ganz fein durch einen Spalt der Türe kommen. Überhaupt war alles märchenhafter und lieblicher zu lesen, als ich je gedacht hätte. Und wirklich so, dass man denkt: noch eine Seite, nur noch eine, bevor ich das Licht ausmache! Noch ein paar Robben, Nymphen und Sirenen, bitte!

Es lässt sich nicht vermeiden, dass diese wundervolle Ausdrucksweise auch ins Alltagsleben sickert. Man fängt unwillkürlich an, in solchen Bildern zu denken. Unser Besuchskater, der seit neun Jahren täglich ein bis drei Mal bei uns vorbeischaut, scheint uns schon irgendwie zu mögen, zeigt das aber kein bisschen. Bisher hiess er „Pokerface“, weil er unsere Liebkosungen geduldig, aber mit quasi heruntergezogenen Mundwinkeln über sich ergehen liess. Seit ich Homer lese, teilt er mit Odysseus den Beinamen „der herrliche Dulder“. (Und erduldet sogar das mit stoischer Miene.) Und wenn ich gelegentlich kurz vor dem Ausflippen bin, gibt es keine innerlichen prosaischen Flüche mehr, sondern ich denke an Achilles, der „raufend mit eigenen Händen das Haupthaar entstellete“. Die edlere Variante, ohne Zweifel.

Warum liest das keiner? Wieso kommt man durch die Schule, ohne jemals damit in Berührung gekommen zu sein? Das Ding ist nicht umsonst seit 2800 Jahren in aller Munde. Und es ist tatsächlich der ganz besonders pure Stoff, der einem sensationelle Höhenflüge gibt.

Ich hab ja einen Doppelband gekauft, in dem die Ilias auch drin ist. Über die habe ich noch das andere Vorurteil – nicht endlos lang und keine Heimat in Sicht, sondern nur kämpfende Männer und zerstörte Städte. Das wird jetzt auch revidiert, hoffe ich. Der Anfang ist zwar viel zäher als die Odyssee, aber ich merke, dass ich Feuer gefangen habe. Und zwar daran, dass ich „Troia“ gegoogelt habe und erfahren habe: gibt’s zwar nicht mehr, aber die Ortszeit wäre eine Stunde später und es hat 22 Grad, fast wie bei uns. So was packt mich dann. Und auf einmal sind Hektor und Patroklos keine Krieger mehr, sondern Menschen, die mich ganz arg interessieren…

Und der Sommerurlaub ist, dank obskurer Sekundärliteratur, auch schon geplant. Auslöser war Gilbert Highet’s „Poets in a landscape“ aus den 50er Jahren, ein Buch über römische Dichter und ihre Wohnorte, das mich so angesprochen hat, dass ich den Gatten, den anderen herrlichen Dulder (aber jetzt im wirklich homerischen Sinn) im Haushalt, dazu überredete, das Buch ganz einfach als Reiseführer zu nehmen. Es führt uns hauptsächlich in bekannte Gefilde in Latium – das ist ohnehin seine Lieblingslandschaft, dürfte also kein allzu grosses Opfer sein. Die Ferienwohnung ist schon gebucht und ich zappele schon vor Vorfreude, zwei Wochen ganz nah an Rom zu sein und meine alten Bekannten zuhause besuchen zu können.  Ein anderer Italienfreund meint vorsichtig: schau mal nach, was da nach zweitausend Jahren noch steht, nicht dass du enttäuschst bist. Er hat leider ziemlich recht… Aber es geht ja auch um das Flair der Orte. Die Hügel, über die Horaz die Sonne untergehen sah, werden wohl noch ziemlich gleich sein, die Vegetation, der Geruch, die Vogelstimmen… Und für den Rest hab ich meine Phantasie.

Unerwartet

Heute war der zweite Tag seit einem Monat, an dem ich morgens nicht als erstes turbomässig üben musste. Vorgestern hatte ich noch ein Konzert, bei dem ich viel gespielt habe und den Nachmittag bis unmittelbar davor mit Proben verbracht habe. Und zum ersten Mal in meiner Laufbahn hatte ich tatsächlich Schmerzen – mir taten die Fingerkuppen weh, was komplett hysterisch klingt, zumindest habe ich noch nie von solchen Beschwerden gehört, und die Unterarme. Was plausibler ist. Das Komische ist, dass ich bei Sololiteratur noch nie Probleme hatte, egal, wie viel ich geübt habe. Wahrscheinlich war es die Anstrengung, ein ganzes Orchester vorzutäuschen, kombiniert mit dem Frust, dass es doch nie so klingt, wie man es sich vorstellt, und daraus folgend einem unmässigen Kraftaufwand. Auf jeden Fall merkte ich beim Aufwachen: ich bin ausgelaugt und irgendwie entmutigt, mit nur noch schwach flackernden Akkus. Da gibt’s nur eins: es muss gechillt werden, auch wenn Montag morgen ist.

Also schleppte ich einen Stuhl zum Teich, zusammen mit hauchzartem chinesischem Tee (eine Begleiterscheinung, wenn man Zeugs für einen Klavierprofessor organisiert, der beruflich regelmässig in China zu tun hat – gestern hatten wir einen Besprechung wegen des Klaviersommers und er brachte mir drei wunderschöne Dosen mit verschiedenem Tee mit) und versenkte mich, eskapismusmässig, in die „Ilias“. Jetzt überholt ein Blogartikel den anderen, schon fertigen, aber – ich habe den grössten Spass daran, Homer zu lesen. Was ich nie erwartet hätte. Und ich bin bei allem grausamen Abschlachten oft berührt, wie poetisch Homer doch ist. Und deshalb lese ich weiter – manchmal ist es so arg, dass man unwillkürlich schneller liest und nicht so genau wissen will, aus welchem Winkel jener jetzt wieder von der Lanze durchbohrt wird und auch nicht, wo sie wieder austritt… Aber ich hab Feuer gefangen und will schon aus historischen Interesse alles lesen. Wobei ich ganz klar sagen muss: nötig ist das wirklich nicht. Auszüge würden reichen. Aber den legendären Schiffskatalog am Anfang sollte man sich mal geben… Und es ist immer wieder atemberaubend, wenn man bei allem Gemetzel auf eine Stelle trifft in der Art: „wie aufgeblühter Mohn, der vom Frühlingsregen schwer ist, neigte er den Kopf, und Nacht verhüllte seine Augen.“ (So ungefähr, das Buch liegt grad wo anders.)

Und wenn alle in den Staub stürzen und elend ums Leben kommen, erscheint das eigene Schicksal und das bisschen Klavierspielen sehr harmlos. Trotzdem musste ich mich aufraffen und mir gut zureden, den Frühlingsgarten mit den Akeleien, dem Kuckuck und den ersten zarten Libellen am Teich zu verlassen, mir ein Pausenbrot zu machen und eine frisch gebügelte Bluse anzuziehen. Montag ist immer ein furchtbar langer und lauter Tag. Aber ich wäre bereit dafür gewesen – nur mein Auto war es nicht. Wirklich und wahrhaftig, es streikte.

Ich hastete vor zur Werkstatt – kein Leihwagen heute, tut ihnen leid, und so kann ich definitiv nicht fahren, das müssen sie erst mal anschauen. Nach einem leichten Panikanfall – ich hab nur ein Mal in zehn Jahren den Unterricht abgesagt! – trottete ich heim. Anfangs zerbrach ich mir furchtbar den Kopf, wie ich den Tag noch retten kann. Aber langsam sickerte eine Art Erkenntnis durch: was, wenn es einfach nicht sein soll? Was, wenn die Götter vielleicht beschlossen haben, dass ich mehr als genug Musik hatte in den letzten Wochen und mal eine ausserplanmässige Pause machen darf? Wenn man so viel antikes Zeug liest, in dem die Götter ständig eingreifen, oder eben nicht, fängt man an, so zu denken… Vielleicht hatte Apollo ein Einsehen und hat ein bisschen an meinem Auto manipuliert, damit ich morgen wieder Freude am Spielen habe?

Als ich wieder zuhause war, hatte ich mich in mein Schicksal gefügt (war dann gar nicht sooo schwer) und rief in der Schule an. Und dann meinen Kollegen oben im Musiktrakt, damit er eventuelle verwaiste Schüler, die die Durchsage nicht mitbekommen haben, heimschickt. Er konnte sich nicht verkneifen, zu bemerken, dass mir diese Autopanne anscheinend nicht wahnsinnig leid tue…

Und dann sass ich wieder am Teich. Bin in der „Ilias“ ein ganzes Stück weitergekommen und habe im Lauf des Tages drei Schwertlilien beim Aufblühen zugeschaut. Habe aber auch den Rasen gemäht – ein bisschen puritanische Arbeitsmoral darf schon noch sein. Aber – ich danke der höheren Gewalt! Das war eine grandiose Idee!

…und eine Begleiterin für Prüfungen

Mein Neujahrsplan war ja, entspannt durch’s Jahr zu gehen. Bis jetzt hat das ganz gut geklappt – bis zur ersten Schulwoche nach den Osterferien. Eigentlich war ich erholt und hatte die Batterien gut aufgeladen. Aber gleich der erste Tag war ein Horror an Überstunden und Abendproben, und so blieb es die ganze Woche, bis der Spass am Freitag morgen ab zehn im Musikabitur kulminierte: ich hab begleitet, als wär’s mein einziger Job. Und diese Proben davor – stöhn. Die Mädchen wissen seit ungefähr zwölf Jahren, dass sie Abitur machen. Sie sind intelligent, liebenswert, tolle Musikerinnen. Man würde meinen, dass sie sich überhaupt gut organisieren können. Aber – grosse Augen – was, am Freitag ist Abitur? Könnten wir am Mittwoch mal proben?

Vom Organisationsstress abgesehen, war ich mal wieder schockiert, wie viel ich nicht weiss. Ich bilde mir ein, dass ich mich gut in der Kammermusik- und vor allem Violin – Literatur auskenne. Ich begleite seit fast dreissig Jahren, wurde schon vor dem eigenen Abitur an den Augsburger Schulen rumgereicht und hab im Abi neben dem eigenen Jahrgang noch Leute von anderen Schulen begleitet (so was wird heute übrigens überhaupt nicht mehr gemacht. Denn man muss sich ja aufs eigenen Spielen konzentrieren.) Ich habe über die Jahre konstant mit Geigern, einer Bratscherin, Cellisten konzertiert, die gängige Literatur rauf und runter. Dazu kam jahrelang Klaviertrio und Klarinettentrio, und in einer besonders glücklichen Phase die Zusammenarbeit mit einem Streichquartett und das riesige Vergnügen, die einschlägigen Werke von Schumann, Dvorak und Schubert aufzuführen. Seit ich unterrichte, begleite ich fortgeschrittene Schüler und angehende Studenten in Prüfungen und bei Wettbewerben. Deshalb dachte ich, dass ich mich langsam auskenne. Ich würde mir so wünschen, dass ich einfach mal ein bekanntes Stück vor die Nase gesetzt kriege und ganz cool sagen kann: klar, kein Problem, kenne ich, mache ich.

Die traurige Realität ist aber: ich kenne nur einen Bruchteil der Literatur. Auch wenn ich mich seit Jahrzehnten in diesem Feld tummele, ist es, als ob man eine Zehe in den Atlantik tauchen würde. Es ist kaum zu glauben, aber ständig tauchen Stücke auf, die ich nicht kenne.

Ich erinnere mich, wie ich kurz vor dem eigenen Abi eine Krise kriegte, weil ich einen Trompeter bei der Hindemith – Sonate begleiten sollte und mir das zeitmässig über den Kopf wuchs. Mein Lehrer, der Trompetenlehrer und die diversen Lehrer in der Schule bestärkten mich alle, sie doch zu lernen – es wäre vernünftig, weil man sie so oft spielen würde im Leben und immer brauchen kann.

Kein Mensch wollte seither diese Sonate mit mir spielen.

Dafür hab ich die für Flöte, Geige, Klarinette und Bratsche noch üben dürfen.

Und wenn ich mir so anschaue, was die Leute heutzutage in Prüfungen spielen, frage ich mich, wo die gängigen Stücke bleiben. Ist es auf einmal verpönt, Bekanntes zu spielen? Muss man in den entlegensten Winkeln der Musikgeschichte rumstöbern, um sich irgendwie abzusetzen? Mit den Pflichtstücken kommt man nicht drum rum, und der Lehrplan bietet da auch seltsame Besonderheiten und (zu Recht?) vergessene Kleinode. Und schon wieder der Trugschluss, dass man denkt, irgendwann muss man doch alle Pflichtstücke kennen… Irgendwann wird es hoffentlich der Fall sein, aber bei der Fülle kann das dauern. Und es sind Stücke dabei, die man sich nicht freiwillig einfach so mal draufschafft, falls sie eines Tages verlangt werden.

Als ich mir die Haare raufte, was ich da wieder alles üben darf, hab ich eine Liste für dieses Jahr erstellt. Mit dem heimlichen Vorsatz, mich irgendwann auf die geschätzten zweihundert Stücke zu beschränken, die ich schon kenne. Und wer was anderes spielen will, braucht einen anderen Begleiter. Dieses Jahr durfte ich seit Herbst neu üben:

Mozart Violinkonzert G – Dur

Mozart Violinsonate G – Dur

Rieding Violinkonzert G – Dur

Brahms Klarinettensonate Es- Dur op. 120

Niels Gade, Fantasiestücke für Klarinette und Klavier

Truillard, Serenade

Reger, Gavotte aus „Hausmusik“

Beriot, Scènes de Ballet

Mozart, Adagio E – Dur

Beethoven, Frühlingssonate

Smetana, Aus meiner Heimat

Mozart, Konzert für Flöte und Harfe

Briccialdi, Allegro romantico für Flöte

Bruch, Violinkonzert g-moll

Bloch, Nigun

Mozart, Sonate B – Dur KV 378

(Die Frühlingssonate kannte ich als einziges. Als einer der Prüfer im Abi meinte: „Mann, das ist aber ganz schön schwer für Klavier“, hätte ich fast hysterisch gelacht – das war die einfachste Übung des Tages!)

Und das ist noch ohne die Additums – Prüfung im Juni…

Es nimmt einfach kein Ende. An manchen Tagen finde ich es wunderschön und lebensspendend, ständig so tolle Sachen spielen zu dürfen. Extra – Bonus ist, dass ich technisch in guter Form bin, weil ich ständig viel üben muss. Und die Begegnung mit den vielen talentierten jungen Musikern ist eine Belohnung in sich selbst und bringt einem auch viel Energie und Schwung für andere Projekte.

Aber an manchen Tagen bin ich verzagt, dass ich Tantalus – mässig mein Leben lang dicke, fette Klavierauszüge üben muss.

Der Gatte, der selber als Geiger Musikabitur gemacht hat (mit schönen, begleiterfreundlichen Mainstream – Werken) und eine enzyklopädische Kenntnis der Violinliteratur hat, staunt auch allenthalben, was da nicht alles ausgegraben wird und auf welche schmalen, selten betretenen Pfade ich mich begeben muss. Kürzlich versuchte er beim Essen eine Prognose, was von den ganzen abwegigen Werken noch auf mich zukommen könnte in nächster Zeit: er tippt auf Bruch, Schottische Fantasie, und Dvorak, Violinkonzert. Ich liess die Gabel sinken. Mir verging wirklich der Appetit. Mir macht es nichts aus, wenn er beim Essen von seinen Operationen erzählt: Teilresektionen, Entnahme kompletter Organe wegen zu viel Tumorlast, Eiter, nekrotisches Gewebe oder Blutungen, die man kaum unter Kontrolle bekommt, sind Alltag für mich und kein Grund, mit weniger Genuss weiterzuessen.  Aber wirklich, die Schottische Fantasie?! Da werde ich weiss um die Nase…

A morbid longing for the picturesque

Am Wochenende war ich auf einer kleinen, feinen Fortbildung für Klavierlehrer, die bis zur letzten Sekunde interessant war. Oft dümpelt grade die letzte Stunde von solchen Tagen mühsam vor sich hin, begleitet von kaum verhohlenen Blicken auf die Uhr bis zur erlösenden Frage, ob man nicht eine halbe Stunde früher aufhören will. Hier hatten wir sogar überzogen, da es im kollegialen Austausch so viele Fragen zu klären gab. Das Bereichernde war, dass es, anders als bei Fortbildungen von Verlagen oder den sehr wissenschaftlich ausgerichteten an der Hochschule, ausschliesslich um Fragen und Problemstellungen im Unterrichtsalltag ging. Und egal, wie lange man schon unterrichtet: man kann immer eine neue Erkenntnis, eine unbekannte Idee für sich und seine Schüler mitnehmen und startet beschwingter in die neue Unterrichtswoche.

Fast der ganze Vormittag war reserviert für die Vermittlung der Grundlagen im Anfangsunterricht. Als unverzichtbare Elemente wurden bearbeitet: Haltung, Notenlesen, Rhythmus, Technik. Am Rande gestreift wurde die Ausbildung der Klangvorstellung, die Wichtigkeit, auf Klangschönheit hinzuweisen und zu achten. Ich glaube, das war das einzige Mal an diesem Tag, dass der Begriff „Schönheit“ erwähnt wurde.

Dabei ist er für mich so elementar! Im Anfangsunterricht, bei den Fortgeschrittenen, überhaupt beim Klavierspielen, und im ganzen Leben! Wir diskutierten so detailliert, dass vor dem Mittagessen keine Zeit mehr blieb, sich entsprechend einzuklinken, und danach waren wir bei anderen Themen. Und wenn man eher abwegige Ideen hat, fragt man sich ja selber, ob diese Fragen von allgemeinem Interesse sind oder die anderen innerlich stöhnen, wenn man jetzt nachhakt. Und natürlich hat man Zweifel, wie man diesen so schwer zu definierenden Begriff überhaupt unterbringen will. Dabei bin ich überzeugt, dass alle von uns unterschreiben würden, dass Musik mit Schönheit zu tun hat. Und dass es letztlich das Ziel von diesem ganzen Notenlesen, der richtigen Haltung, der rhythmischen Sicherheit ist, Schönheit in die Seelen der Zuhörer zu transportieren. Deshalb sollte eine gewisse ästhetische Erziehung von Anfang an zum Unterricht gehören.

Vielleicht scheut man sich auch davor, das anzusprechen, weil es nicht nur enorm schwer ist, zu sagen, was Schönheit eigentlich ist, sondern weil es auch sehr subjektiv ist. Für mich kann ein barbarischer, grausiger Bartok eine gewisse Art von haarsträubender Schönheit haben (denn die gibt es schon auch, oder?) – in der Runde gab es aber eine Kollegin, die den „Mikrokosmos“ kategorisch und eindeutig ablehnt und ihren Schülern nie so was vorsetzen würde. Es wäre sinnlos, darüber zu diskutieren. Aber mit Schülern kann und muss man diskutieren, es gehört zur Erziehung dazu, sie im Dialog mit gegensätzlichen Meinungen etwas zu provozieren und so einen eigenen Standpunkt finden zu lassen. Und grade weil das, was wir machen, unsichtbar ist, ist es wichtig, Bilder vor seinem inneren Auge zu haben.

Ich hab im Lauf meines Lebens mit Erstaunen festgestellt, dass es Menschen gibt, die weniger schönheitssüchtig sind als ich, oder sogar überhaupt nicht. (Was man nicht aller lernt!) Auf eine gewisse Art beneide ich Menschen, die gar kein Interesse daran haben, hinter die Dinge zu sehen und nach ihrer Geschichte zu fragen, oder sich zu fragen, wie man gewisse Bilder und Farben und Gefühle verknüpfen kann. Ich fürchte, diese Realisten und Pragmatiker haben es leichter im Leben und kommen schneller dahin, wo sie hinwollen. Ich bewundere sie, weil ich mich immer zu viel mit der „morbiden Sehnsucht nach dem Malerischen“, wie Donna Tartt es so wunderschön ausdrückt, aufhalte. Trotzdem ist und bleibt sie mir wertvoll, diese Sehnsucht, und ich versuche, auch den aller – realistischsten Pragmatikern unter meinen Schülern ein bisschen von diesem Zauberpulver mitzugeben. Denn auch das ist nur Erziehungssache. Manche müssen sich vielleicht mehr anstrengen, um Bilder zu sehen – andere erzählen mir spontan und ungebremst, was sie fühlen, oder malen es auf bis zur nächsten Stunde, oder schreiben Gedichte darüber.

Abgesehen von allem anderen, was wir den Schülern mitgeben wollen, ist es einfach schön, ihnen die Augen zu öffnen für Momente – seien es musikalische oder optische in der ganz normalen, sichtbaren Welt. Wie die wertvollen Sekunden, wenn der See hinter unserem Grundstück im Abendlicht aufleuchtet. Man sieht das nur im März, wenn die Bäume noch kahl sind und die Sonne in einem gewissen Winkel steht. Plötzlich fängt das Klavierzimmer an, gelb und golden zu strahlen. Lange, warme Sonnenstrahlen und Reflexe vom Wasser zittern hinter uns über die Wand, und egal, wie oft ich es schon erlebt habe: es ist immer ein magischer Moment. Kürzlich passierte es, quasi als Zugabe von oben, als ich mit einem älteren Schüler Ravels „Pavane pour une infante défunte“ übte, die vierhändige Fassung für den Klaviersommer. Er ist sehr weit und einfach schon ein richtiger Musiker, und wir verloren uns in der zarten Traurigkeit und zeitlosen Schönheit dieser Erinnerung an eine tote Prinzessin. Und als wir wortlos die Zeit dehnten und anhielten und wieder fliessen liessen – kam dieses vom Wasser reflektierte Strahlen und hüllte uns noch mehr ein als die Musik. Wir spielten weiter, schauten uns aber kurz an – ich glaube, er hat das gleiche gedacht wie ich. Zwei Tage später sass ich mit einem Kleineren an der selben Stelle, als die Sonne kurz vor dem Untergehen wieder ins Zimmer schien. Der Kleine wurde still, schaute um sich und in den Garten und sagte: „Der Teich ist in Gold getaucht.“ Und ich denke gleichzeitig, ganz überwältigt: wo schreib ich das auf? Wo ist ein Taschentuch für mich? Super, der Kleine hat sein Abschlusszeugnis in ästhetischer Erziehung praktisch in der Tasche… (Und ich mag den Racker genau so gern, wenn er sich beim Stundenwechsel dramatisch seinem Bruder entgegenschmeisst und ruft: „Endlich bist du da! Rette mich aus dieser Hölle!“)

Ein Begleiter fürs Leben

Im alljährlichen Pandämonium in unseren normalerweise heiligen Hallen – dem Tag der offenen Tür für die Viertklässler – gab es trotz der enormen Geräuschkulisse und dem endlosen Herumwuseln einen richtig schönen Moment: unser Fachbereichsleiter erklärte den Eltern in einer kurzen Ansprache, dass sie ihren Kindern einen Begleiter fürs Leben geben, wenn sie sich für den musischen Zweig entscheiden. Sollte das Kind dann mal in Rostock oder Stralsund studieren (ich musste grinsen über die Auswahl der Städte – offensichtlich kann man damit richtig gut Ängste schüren im Erdinger Landkreis!), kann das Kind in den Unichor oder ins Orchester gehen und wird nie allein sein. Das ist doch mal ein Argument… Hat mir wirklich gefallen, und ich werde mir angewöhnen, auch auf diese Art auf die angenehmen Langzeitfolgen von Musikunterricht hinzuweisen. Denn es ist wahr: man macht seinem Kind damit ein Geschenk fürs ganze Leben. Das ist natürlich mit allem so, was man lernt, sei es eine Sprache oder Naturwissenschaften, und es gibt ganz definitiv das gefürchtete Zeitfenster, in dem dieses Lernen einfach stattfinden sollte. Aber Musik hat noch einen besonderen emotionalen und sozialen Aspekt, der unschätzbar ist.

Und es gäbe wunderbare „Erfolgsgeschichten“, die wir erzählen können, Geschichten, in denen Kinder, deren Eltern sich den Klavierunterricht vielleicht nicht leisten könnten, dank des kostenlosen Instrumentalunterrichts am bayerischen Gymnasium erfolgreich und mit Freude einen von Musik begleiteten Lebensweg einschlagen. Wie meine Schülerin, die jetzt Abitur macht – sie hat freiwillig fürs letzte Halbjahr Messiaen, Poulenc und Bartok gewählt und wir haben den Spass unseres Lebens dabei, uns für die unglaublich unterschiedlichen Stücke Szenarien, Ausstattung und sogar Düfte auszumalen. Wenn man mal so drüber steht, dass die genialen Kinderchen sich im 20. Jahrhundert so gut auskennen, hat man Freiräume, um tiefer zu graben und tiefer einzutauchen. Weil sie auch gern und leicht schreibt, hab ich ihr vorgeschlagen, über jede Szene ein Gedicht zu schreiben – bin sehr gespannt… Und ich bin stolz ohne Ende, wenn sie den Messiaen so zart und transzendent wie einen Hauch spielt, zehnstimmige Griffe hin oder her, und beim Bartok so barbarisch reinlangt, als gäbe es kein Morgen. Das Mädchen hat seinen Begleiter, keine Frage.

Während mein Kollege redete, sah ich in meinem romantischen, museumsbesuchsüberfüllten Geist natürlich alle Arten von Verkörperungen dieses unsichtbaren Begleiters, die schutzengelartig neben den Kindern schwebten: für die Kleine mit dem halb offenstehenden Mündchen eine Marmornymphe mit Schmetterlingsflügeln, die ich in Rom gesehen habe, für den Pimpf im Fussballtrikot ein hehrer Apollo aus dem Musée d’Orsay, und für das Mädchen mit den langen blonden Haaren, die selber wie ein Engelchen aussieht, eine Klimtfrau, die auf einer Leier spielt… Wie schön, zu wissen, dass sie nicht allein durchs Leben gehen müssen.

Und dass dieser Begleiter immer da sein wird, auch nach dem Studium im nicht – bayerischen Exil und noch viel länger danach. Ich bin jetzt in dieser seltsamen Phase von eher passiver Rezeption angekommen, die ich bei anderen älteren Menschen immer unverständlich und befremdlich fand: ich höre mit allergrösstem Genuss Streichquartette. Abends auf dem Sofa liegend, ohne was anderes zu tun. Ich starre an die Decke oder mal in den Garten, aber ich konzentriere mich völlig auf die Musik und versinke komplett darin. Ich würde es nicht überleben, abends auch noch Klaviermusik zu hören, aber dieses ganz andere Genre, diese wunderbare Vielstimmigkeit und die herzzerreissenden letzten Wahrheiten in den späten Beethoven – oder den Schubert – Quartetten sind im Moment genau richtig. Ich möchte einfach nur pure Substanz und Inhalt. Keine Unterhaltung oder Zerstreuung. Und dann mache ich die CD auch bewusst wieder aus. Und selbst wenn wieder Stille ist – ich bin nicht allein. Mein unsichtbarer Begleiter schwebt noch über dem Sofa…

Und wer weiss, vielleicht geht es so bis zum letzten Atemzug? Kürzlich hörte ich auf dem Weg nach Erding Dvorak’s Klavierquintett, zum ungefähr zehnten Mal in zwei Wochen, und war trotzdem so entrückt und der Welt enthoben (ich weiss ja nicht, was diese Diskussionen übers Handy am Steuer immer sollen – ich finde Musikhören wesentlich gefährlicher), dass ich etwas zu knapp auf die B12 einbog und fast von einem Laster erfasst wurde, auf dem – DVORAK stand. Nach dem ersten Schreck fand ich das richtig gelungen. Was gäbe es Beruhigenderes, als auf Wogen von Dvorak und durch Dvorak ins Jenseits zu schweben? Und im Lebenslauf macht es sich auch gut.

Seither fordere ich das Schicksal heraus, zur Zeit besonders gern mit dem langsamen Satz aus dem  F-Dur – Quartett, aber: ich treffe nur auf sehr alltägliche Laster. Lettl, Gartner, Prunster. Da bremse ich dann doch lieber. Bin schon ein Snob, was mein Ableben anlangt.

Elysium

Letzten Herbst habe ich den Klassenabend einer lieben Kollegin begleitet, und beim Verabschieden steckte sie mir einen Umschlag zu. Ich hatte eine nette Dankeskarte erwartet und war ganz erstaunt, als ich Belohnung in einer anderen und viel prosaischeren, aber nichtsdestotrotz nicht unwillkommenen Art fand: Kohle! Und zwar genau so viel, wie zwei der besten Karten fürs Münchner Konzert des Emerson – Quartett kosten würden! Ich hatte tagelang damit geliebäugelt, und jetzt waren die Würfel gefallen. Ich hatte mich um Streicher gekümmert, und dafür würden sich andere Streicher um meine Seele kümmern – und was für welche. Gleich am nächsten Morgen rief ich, noch im Bademantel, bei der Konzertagentur an und bestellte zwei Karten in der zweiten Reihe Mitte, direkt vor dem Quartett. (So was hatte ich noch nie gemacht. Macht ziemlich Spass, das auszusprechen!) Die gute Fee setzte uns wirklich brettlbreit vor die Notenständer – wir hatten zwei Spieler rechts, zwei links von uns und den sagenhaftesten, absolut optimalen Höreindruck. Möglicherweise waren akustische Gründe ausschlaggebend, aber die Musiker sassen auch noch ganz vorn an der Rampe, also höchstens zwei Meter von uns. In einem Klavierabend würde ich nie so einen Platz wählen, weil der Höreindruck zu direkt wäre. Ausserdem wäre es für mich kein Mysterium, was da vor sich geht, ich müsste nicht so genau hingucken. Bei Menschen, die ihren Ton selber produzieren, und noch auf so unglaublich zarte Art, bin ich endlos und nachhaltig fasziniert und muss alles auch genau sehen, nicht nur hören. Und ich will so nah wie möglich dran sein, um das Holz selber schwingen zu spüren.

Es ist ein Luxus, den man sich selten im Leben gönnt, aber ich bin so froh, dass wir es hier gemacht hatten: diese physische Nähe trug viel dazu bei, dass es eines der berührendesten und ergreifendsten Konzerte meines Lebens wurde. Es war schwere Kost – zwei späte Beethoven – Quartette, op. 132 und op. 130 mit der Grossen Fuge als Finale (von Beethovens Sekretär wurde op. 130 nicht zu Unrecht als das „Monstrum der Quartett – Musik“ bezeichnet). Der Gatte meinte bis zum letzten Moment, sie würden das Programm noch ein bisschen umstellen und ändern und eventuell was leichter Hörbares druntermischen, weil man das dem Publikum kaum zumuten könne, aber sie blieben erwarteterweise tough und puristisch. Gott sei Dank.

Es wurde eine Art Gottesdienst in der dämmrig – opulenten Atmosphäre des Jugendstiltheaters. Die Musen tanzten an den Wänden, die grossen Feuerschalen an den Seiten waren sanft von hinten erleuchtet, die ganze griechische Ausstattung lullte uns ein und hob uns aus dem Alltag. Und ich war vom ersten Ton an gebannt. Wahrscheinlich war es nicht so, aber gefühlt hielt ich für zwei Stunden den Atem an. Diese Musik ist so grandios, und es war einfach unglaublich, wie kultiviert und innig die vier Herren zusammenspielten. Wie ein Mensch. Und was für einen intensiven Klang sie manchmal selbst ohne Vibrato hinbrachten – das war herzzerschneidender als jeder zu üppig wabernde Ton.

Bei aller Schönheit, Harmonie und Transzendenz war es partienweise auch ein wirklich schmerzhafter Abend. Warum tut man sich so was an? Kollektiv?! Hab mich mal wieder gefragt, welchen dionysischen Hintergrund solche Kulturveranstaltungen eigentlich haben, und die mythologische Dekoration grade dieses Theaters legt diese Frage nahe. Warum kommt man ordentlich angezogen und mit Omas Perlen um den Hals mit lauter Gleichgesinnten zusammen, in einer stark von Ritualen geprägten Umgebung, und lässt sich von ähnlich ordentlich gekleideten Individuen so komplett demontieren und bis ins Mark erschüttern? Lässt sich reduzieren auf das kümmerliche Häuflein sterblicher Mensch, das wir alle sind, obwohl wir äusserlich so gefasst wirken? Und gleichzeitig auf eine Art das Selbst verlieren, wie man es nur im  Zustand höherer Erkenntnis tun kann? Und kein Mensch spricht ein Wort dabei, stundenlang!! Der Gipfel der – mir fällt jetzt kein anderes Wort ein, obwohl es etwas zu harsch ist – Folter war dann, dass sie nach der Grossen Fuge einen schlichten Bach – Choral als Zugabe spielten, passenderweise „Vor Deinen Thron tret ich hiermit.“ Wen sie bisher noch nicht geknackt hatten, der war spätestens jetzt fällig.

Ich war selten so erschüttert und durcheinandergerüttelt nach einem Konzert. Glücklicherweise, denn all zu oft würde man das nicht aushalten. Es war wirklich so eklatant, dass ich dachte: der Tag, an dem auf Konzertkarten Warnhinweise gedruckt werden, wird in Zeiten von „Die DVD startet möglicherweise von vorn“ oder „In Augsburg Hbf werden zwei Zugteile vereinigt. Es kann zu einer Erschütterung kommen.“ nicht mehr fern sein.

Mein Vorschlag für einen Beethoven – Abend mit den Emersons wäre: „Sie werden mit Ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Dies kann mit Schmerzen verbunden sein. Möglicherweise werden Sie jedoch einen Blick auf die ewige Wahrheit erlangen, in die Sie nach Ihrem Ableben eingehen. Sollten Sie bereit sein für solche Visionen, kann der Abend für Sie auch mit einem positiven Ausblick enden. Bitte vermeiden Sie es in der ersten Viertelstunde nach dem Konzert, ein Fahrzeug zu führen oder Maschinen zu bedienen.“

(Fotos: muenchenmusik, Alan Dornak)