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Langsamer Genuss

Als ich kürzlich „Die geheime Geschichte“ praktisch verschlang und kaum aus den Händen legen wollte, um irgendwas anderes zu tun, bemerkte ich, dass es mir gleichzeitig etwas peinlich war. Es hatte definitiv etwas davon, wenn man eine Tüte Chips, weil sie nun schon mal offen ist, bis zum letzten Krümel vertilgt, obwohl einem klar ist, dass das nicht gut ist. Aber aufhören will man auch nicht. Wie kommt es, dass man sich trotz besseren Wissens manchmal versklaven lässt von leicht Konsumierbaren, seien es ungesunde, leckere Lebensmittel, fesselnde Bücher, bestimmte Musik oder Fernsehserien, bei denen man denkt „eine Folge geht noch“? Es ist ein seltsames Phänomen, und wahrscheinlich müssen ein paar Faktoren zusammenkommen, damit man bereit ist, sich so komplett für ein paar Stunden aus dem Alltagsgeschehen auszuklinken. Es hat was mit Weltflucht zu tun. Entweder ist man mit einer Situation unzufrieden, die man mit ein bisschen Anstrengung selber lösen könnte – aber erst, wenn man vielleicht dieses Buch ausgelesen hat. Oder, sehr beliebt bei mir, wenn es richtig viel zu tun gibt: eine fatale Art von Prokrastination vor Aufgaben, die mich eh fast überfordern, denen ich ohnehin kaum gerecht werden kann in dem bisschen Zeit, das mir dafür bleibt, und die ich auf die lange Bank schiebe mit der Hoffnung, dass der Terminstress dann so einen Adrenalin – und sonstigen Schub von Disziplin auslöst, dass ich es in der Hälfte der Zeit schaffe. Was irgendwie meistens hinhaut – und dann hab ich trotzdem noch das Vergnügen gehabt, jenen Roman zu lesen.

Bei meinen Schülern ist es ähnlich. Wie könnte es anders sein… Gäbe ich ein Präludium und Fuge in As – Dur auf (ich schreibe hier wohlweislich „gäbe“…), würde es Heulen und Zähneknirschen geben. Doch ein Einaudi in As – Dur? Da wird mit keiner Wimper gezuckt, nur genickt und mit begeistert aufgerissenen Augen gefragt, ob ein Übezimmer frei ist. Jetzt gleich und sofort. Und die meisten spielen mir nach einer Woche sechs oder acht Seiten fehlerfrei vor und betonen, wie viel Spass es macht. Ich glaube, es ist das gleiche Phänomen: leichte Kost, aber suchterzeugend schön. Damit will ich weder Donna Tartt, die an jedem ihrer Romane bisher zehn Jahre geschrieben und gefeilt hat, Unrecht tun noch dem geschätzten Ludovico Einaudi, ohne dessen nicht abreissenden Strom an Einfällen ich mindestens die Hälfte meiner über Fünfzehnjährigen längst verloren hätte. Populär muss nicht zwangsläufig schlecht sein, überhaupt nicht. Vielleicht sollte man es auch überhaupt nicht bewerten, sondern sich freuen, dass einem manche Sachen schneller und leichter zufliegen?

Aber ganz wohl ist mir nicht bei der Sache. Ich bin auch ehrlich gesagt skeptisch, was davon für die Ewigkeit Bestand haben wird, falls man mal ganz weit denken will… Oder wenn man nur die berühmte einsame Insel nimmt: ausschliesslich Einaudi, den ich privat eh nicht anhöre, würde mich umbringen. Bach könnte ich jahrzehntelang und immer wieder von vorne hören  – so wie im richtigen Leben. Und mit dem Lesen: vor drei Jahren habe ich den Sommer damit verbracht, den „Zauberberg“ zu lesen. Ich glaub, ich hab sechs Wochen gebraucht. Weil man eben nicht atemlos wie ein Junkie die Seiten umblättert, sondern eine Seite liest, sich eine Tasse Tee eingiesst, die Seite noch mal liest, ein bisschen in den Himmel guckt und mit dem Fuss wippt, dann die Seite noch mal liest und noch mal mehr staunt. Beides, das Verschlingen und das langsame auf der Zunge zergehen – Lassen, hat was mit Genuss  zu tun – aber was ist nachhaltiger? Also für den Kopf?

Oder vielleicht ist es genau das: es gibt Lesen für den Kopf und Lesen für’s Herz. Manchmal will man das eine, manchmal braucht man das andere. Diese populären, leicht konsumierbaren Bücher/ Musikstücke/ Filme verkaufen sich wahrscheinlich auch deshalb millionenfach, weil sie einem nicht zu viel abverlangen und – ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt – einen nicht zu sehr aus seiner Komfortzone locken. Man muss sich nicht zu sehr strecken oder anstrengen, um in komplett andere Welten zu gelangen. Es hat sogar was Beruhigendes, zu wissen, dass man aus den ungewohnten und vielleicht irgendwie aufregenden Szenarien doch ganz leicht und heil wieder rauskommt. Diese Art von „Konsum“, um mal ein scheussliches Wort zu verwenden, verändert einen nicht unbedingt. Manchmal will man das ja auch nicht. Manchmal darf es etwas mehr sein (wie wenn ich am Wochenende zum Emerson String Quartet ins Prinzregententheater gehe, um späte Beethoven – Quartette anzuhören. Schwere Kost vom asketischsten Streichquartett, das es gibt – das wird nicht unbedingt vergnüglich, aber wahrscheinlich werde ich die nächsten Jahrzehnte davon reden, wie sagenhaft es war. Und dass ich das Glück hatte, die noch live zu hören.). Das Schöne ist ja, dass man wählen kann, was einem grade gut tut.

Schneelektüre

Vor Weihnachten habe ich mir zwei Bücher gekauft, die ich jetzt erst lesen konnte. Zufällig spielen beide im Winter, das eine zumindest zeitweise, und verlängern so meine Schneefreuden – die perfekte Januarlektüre! Und beide sind so atmosphärisch und verzaubernd, dass man sie nur lesen sollte, wenn man lange, ruhige Abende vor sich hat, an denen man nichts anderes mehr leisten muss. Einmal, um sie angemessen zu geniessen, und dann, weil grade Donna Tartts „Die geheime Geschichte“ ein Roman von der suchterzeugend – fesselnden Sorte ist, bei dem man ständig überlegt, wo man noch eine Minute hat, um weiterzulesen. So ein Roman, bei dem man in den drei Tagen, in denen man ihn verschlingt, aufhört, zu kochen oder sich sonst wie um anständiges Essen zu bemühen und die Frage, was es gibt, nur noch zwischen „schnell ein Brot in der Hand, während die andere das Buch hält“ und „ich ess morgen, das reicht auch noch“ pendelt. Die Sorte Buch, die einen mit Freuden zum Einzelgänger werden lässt, der nichts von der Welt draussen wissen will.

Es gibt kaum was gemütlicheres, als von verschneiten, bitterkalten Wintern in Vermont zu lesen, während man warm und gemütlich eingekuschelt auf dem Sofa liegt. Die Geschichte um sechs Collegestudenten, die quasi aus Versehen einen Mord begehen und ihn mit einem anderen vertuschen müssen, entwickelt sich gnadenlos und mit einem Sog, der weit über das Krimiartige hinausgeht. Es geht um Fragen der Moral, Schuld und Verantwortung. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr hat man das Gefühl, in einer griechischen Tragödie zu sein, die sich auf ein unausweichliches Ende zubewegt. Wem das zu dostojewskihaft oder philosophisch klingt: das ist es nicht (nur). Das fesselnde daran ist ja grade, dass diese Gruppe von Altgriechischstudenten exzentrisch, dekadent und elitär ist, das Ganze aber so alltäglich und detailreich beschrieben in den normalen amerikanischen Unialltag eingebettet ist, dass man kaum Distanz spürt. Im Gegenteil, man fragt sich: wo wäre ich da gestanden? Wie hätte ich gehandelt?

(Kleiner Exkurs: das Buch spricht mich auch auf besonders persönliche Weise an, weil es exakt in dem Jahr herauskam, in dem ich in Amerika studiert habe. Vieles an den Alltagsgegebenheiten erkenne ich wieder, und es gibt mehr als eine Parallele zu meinem Leben auf dem Campus des ländlichen Kleinstadt – Colleges, in dem ich studiert habe. Und wir waren sogar ein noch kleinerer Zirkel: nur drei Klavierstudenten um einen charismatischen, wohlgesonnenen und grosszügigen Professor, dem unsere allgemeine Erziehung und Bildung mindestens so am Herzen lag wie unsere handwerklich einwandfreie Ausbildung am Klavier. Und wie Camilla im Buch war ich das einzige Mädchen in einer Männergruppe und hab da ganz anders gelernt, mich zu behaupten. Deshalb meine grosse Faszination für den Roman, die andere vielleicht nicht nachvollziehen können – auf eine gewisse Art ist es eine Zeitreise für mich.)

„Die geheime Geschichte“ ist aus den Neunziger Jahren und Donna Tartts erstes Buch. Ich war sicher, dass es verfilmt ist – der Stoff schreit geradezu danach – aber glücklicherweise hat sich noch niemand gefunden, der dazu bereit wäre. Es ist die Art Geschichte, in der man trotz Düsterkeit und Gruselelementen so lange wie möglich verweilen möchte. Und ein Film wäre viel zu schnell vorbei. Die Figuren sind komplex und differenziert beschrieben, und in einer sprachlichen Brillanz und Üppigkeit, die ihresgleichen sucht. Wie in ihrem sensationellen anderen Roman „Der Distelfink“ habe ich nach der Lektüre das Gefühl, dass ich jede der Gestalten selber schon lange kenne. Und mit einer Deutlichkeit und Intensität, wie man sie in Dickens – Romanen findet.

Es ist ein düsteres Buch übers Erwachsenwerden, aber ich würde es keinem Jugendlichen schenken.

„Winter in Wien“ von Petra Hartlieb hingegen ist zarte, unschuldige, märchenhafte Leküre, die man Vierzehnjährigen wie Grossmüttern gleichermassen unbedenklich schenken könnte. (Und ich muss zugeben: ich hab es wegen des ungeheuer dekorativen Jugendstil – Covers gekauft, und schon deshalb würde es sich als Geschenk wunderbar eignen.) Während die Figuren im anderen Roman prall voll Leben und Schrulligkeiten sind, bleiben die beiden Hauptpersonen hier relativ blass. Auch sie sind um die 20, wachsen aber in einem völlig anderen, entbehrungreicheren Umfeld auf. Ausserdem arbeiten sie und hätten weder das Bedürfnis noch die Zeit, sich zuzudröhnen oder bewusstseinserweiternde Bacchanale zu veranstalten: Marie ist Kindermädchen bei Arthur Schnitzler, Oskar Angestellter in einer Buchhandlung, in der sie sich auch kennenlernen.

Der kurze Roman spielt sich innerhalb weniger Tage 1911 in Wien ab. Bald ist Weihnachten, und es beginnt tatsächlich zu schneien. Bilder von schneebedeckten Parkflächen, leise fallenden Flocken und Schlittenausflügen mit den Kindern sind Balsam für die winterliebende Seele und ein passender Hintergrund für die zarte Geschichte. Es gibt kaum eine erwähnenswerte Handlung, aber ich denke, das war auch so geplant. Petra Hartlieb wollte wahrscheinlich einen kurzen Moment aus dem Leben im Umfeld Schnitzlers herausnehmen und wie unter einer Lupe Wiener Alltagsleben kurz vor Weihnachten zeigen, komplett mit dem ganzen Zubehör einer untergegangenen Zeit wie eben Dienstboten, Köchinnen, aufwendigen Abendessen und Kindermädchen, die selber zwar lesen können, aber noch nie in einer Buchhandlung waren. Alles könnte fast zu schlicht sein, wenn sie nicht den Moment herausgepickt hätte, der den Kern zu einer spannenden Entwicklung in sich trägt (die dann im Buch nicht mehr vorkommt…): Marie kommt in Kontakt mit der magischen Welt der Bücher und allem, wofür sie stehen können – Bildung, Weiterentwicklung, Weltflucht – , und man ahnt und hofft, dass sie nicht immer Kindermädchen bleiben wird. Diese Begegnung mit anderen Sphären deutet eine positive Entwicklung der Hauptfigur an. Man möchte gern erfahren, wie es ihr mit 30 geht, weil man schon ahnt, dass es nur angenehm und erfreulich sein wird. Hingegegen die überlebenden Studenten aus dem anderen Roman – ich weiss nicht… Sie sind schon mit Anfang 20 so exzessiv und haltlos, dass bei manchen der Absturz direkt vorprogrammiert ist. Das will man dann lieber gar nicht wissen. Auch in der Hinsicht hat „Winter in Wien“ was Märchenhaftes: sie werden glücklich bis an ihr Ende leben, man kann beruhigt das hübsche Buch zuklappen und die Nachttischlampe ausknipsen.

(Abbildungen: Kindler -Verlag, Goldmann – Verlag)

Sommerphantasien

Der Inn ist zugefroren – das gab es noch nie, seit wir hier wohnen. Der Seitenarm schon, in ganz kalten Jahren, aber dass wirklich der ganze breite Strom wie eine grau – blaue Eismeerlandschaft vor einem liegt, still und unbeweglich, das ist eine Seltenheit. Am Rand türmen sich kleine aufgebrochene Eisschollen, eine Miniatur – Antarktis. Was für ein Geschenk, so ein kalter, langer Winter! Ich lebe auf und fühle mich pudelwohl und möchte ganz im Hier und Jetzt sein und das viele Weiss und Grau geniessen.

Aber statt von Spitzbergen zu träumen, muss ich mich mit dem Sommer beschäftigen. Und ausgerechnet seiner heissesten Zeit. Kurz vor Weihnachten riefen mich die Organisatoren des Wasserburger Klaviersommers an, dass sie nächstes Jahr ein Projekt mit Kindern anbieten wollen, und am letzten Tag der Weihnachtsferien trafen wir uns. Ich lief im leichten Schneetreiben los, doch die Flocken tanzten im Licht der Strassenlampen immer dichter und ich kam völlig weiss am Treffpunkt an. Eingeschneit, aber glücklich – manchmal ist so eine Viertelstunde das reinste Geschenk. Und ich wollte gar nicht an die traditionell furchtbar heissen Tage Anfang August denken, an die versagenden Klimaanlagen, an das Publikum, das versucht, sich mit Programmheften Kühlung zuzufächeln… Das ist für mich dann das echte Überlebenstraining, nicht die Polarlandschaft jetzt grade. Darauf freue ich mich nicht besonders – aber auf die Musik um so mehr. Und um die ging es jetzt. Mein Stapel mit vierhändiger französischer Literatur lag zwischen uns auf dem Tisch, und bei einer Kanne Tee überlegten wir, wie wir alles angehen. Denn alles war sehr spontan und schnell entstanden: die Kaufmanns fragten mich, ob es in der Region Klavierschüler gäbe, die jeweils mit einem Studenten zusammen vierhändige Stücke einstudieren und in einem Konzert aufführen wollten, und ich schlug spontan französische Literatur vor, weil es da haufenweise wunderbare Stücke für jede Altersklasse gibt. Dann stellte sich raus, dass für nächstes Jahr ohnehin der „Karneval der Tiere“ geplant ist in einem Konzert und ausserdem Michel Béroff wieder einen Klavierabend geben und unterrichten wird – kurzum, wir hatten innerhalb von Minuten ein  herrliches französisches Motto gefunden. Und die flirrigen, transparenten Stücke von Debussy und Ravel sind eigentlich das einzige, was man bei der Augusthitze aushalten kann.

Und es sind die reinsten Juwelen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie oft französische Komponisten für Freunde und deren Kinder hochwertige Musik geschrieben haben. Da gibt es keine Kompromisse oder Zugeständnisse, sondern einfach nur gute Musik von Anfang an. Musik, die Kindern zusagt und von den Älteren auch gut gespielt werden kann – die aber gleichzeitig so spannend und gelungen ist, dass sie sich ihren Platz in den Konzertsälen von Anfang an bewahrt hat. Fauré’s „Dolly“ – Suite oder Bizet’s „Jeux d’enfants“ sind fester Bestandteil aller Klavierduos, ebenso wie Debussy’s „Petite Suite“ oder Ravel’s „Ma mère l’oye“ – die beiden letzten sind ursprünglich für Klavierduo geschrieben, aber von den Komponisten selber orchestriert worden. Als besonderen Leckerbissen fand ich noch eine vierhändige Fassung von Ravel’s „Pavane pour une infante défunte“ – für einen allein ist das etwas anspruchsvoll, weil es vor Dezimen nur so strotzt, aber für zwei Leute liegt alles ganz wunderbar.

Ich finde die Idee wunderbar, Kinder mit einem Profi an ihrer Seite solche Musik entdecken zu lassen. Und ich weiss schon jetzt: sie werden es toll finden, mit so hervorragenden Studenten zusammen zu spielen. Und was die sagen oder vorschlagen, wird das Evangelium sein – da verspreche ich mir viel davon für die jeweilige Weiterentwicklung meiner Schüler. Ich kann mir jahrelang den Mund fusselig reden – das geht wohl jedem Lehrer oder Eltern so. Kommt aber ein besonderer Einfluss von aussen, ein Mensch aus einer anderen Welt, den man vielleicht auch noch toll findet, weil er oder sie atemberaubend spielt oder ein glitzerndes Konzertkleid trägt, dann läuft alles wie von selbst. Und das ist für mich das eigentlich Erstrebenswerte an diesem Projekt: dass wir nicht nur immer im eigenen Saft schmoren, sondern wertvolle Impulse von aussen bekommen.

Die Begeisterung bei meinen eigenen Schülern ist gross und ich habe schon eine Reihe von festen Anmeldungen. Die Resonanz bei den Kollegen, mit denen ich Kontakt aufgenommen habe, ist noch verhalten. Vielleicht ist alles noch in zu weiter Ferne? Trotzdem möchte ich auch hier noch mal ausdrücklich Werbung machen – es ist eine tolle Chance für unsere Schüler und man muss keine Berührungsängste haben. Das Angebot richtet sich auch ausdrücklich an völlig normale Kinder, nicht nur die Superschüler. Wir haben eine herrlich lange Vorlaufzeit, und es gibt Stücke für jedes Alter. Der Probentag ist am 4. August, das Konzert am 5. August im Festsaal Gabersee. Es gibt 12 Plätze – also los! Wer mitmachen möchte oder Fragen zur Literatur hat, kann sich gerne bei mir melden.

Entspannt

Nach den anstrengendsten Weihnachtsferien überhaupt stehe ich am ersten Schultag mit meinem Kollegen vor den Klavierzimmern und merke, wie ich ruhiger werde, weil alles vertraut und vorhersehbar ist. Der schwarze Schiefer, der genialerweise als Bodenbelag für unsere Schule gewählt wurde, strotzt, wie immer im Winter, vor weissen Salzflecken und Salzlachen – nicht mein Problem, stelle ich entspannt fest. Gleich werden zwölf Kinder nacheinander zu mir kommen und mich mit Fragen bestürmen – aber ich muss keinen füttern, und wir tun nur Klavierspielen und sonst nichts, und sie kommen nach einem vorhersehbaren Zeitplan und vorhersehbar vorbereitet und vor allem: gehen auch wieder. Keine Überraschungen, keine Änderungen in letzter Minute – Mann, tut das gut, wieder in der Arbeit zu sein!

„Und, was hast du vor für heute, wie willst du anfangen?“

Ich muss nicht lang überlegen und sage spontan. „Entspannt.“

Matthias grinst bis über beide Ohren.

„Doch, echt, ganz entspannt. Ich entspanne jetzt hier ein bisschen bis halb sieben, und dann fahr ich gemütlich heim und entspanne da auf dem Sofa weiter.“

So eine Einstellung ist nicht gerade typisch für mich am ersten Schultag. Aber die ersten Tage des nagelneuen Jahrs waren schon so kräftezehrend – obwohl ich frei hatte und meistens zuhause war! – dass ich einsehen musste, dass es so nicht weitergehen kann. Wirklich nicht. Ich wundere mich selber, woher auf einmal diese neue Einstellung kommt. Wahrscheinlich war ich ein, zwei Mal zu knapp am Durchdrehen und es ist einfach eine Botschaft von ganz innen, dass ich so nicht durchs neue Jahr komme.

Deshalb, spontan und ohne viel Überlegen, mein Wort fürs neue Jahr: entspannt.

Mal sehen, welche Kräfte es freisetzen wird. Ich denke, viel mehr und belastbarere, als wenn ich so sinnlos weiterpowere wie im Herbst.

Der einzige, der an dem Tag durchdreht, ist mein Auto. Der Hausmeister ist offensichtlich nicht dazu gekommen, alle Parkplätze zu räumen und ich hab mich mittags mit einem etwas mulmigen Gefühl auf einen im Tiefschnee stellen müssen. Bin grade noch weggekommen, was gut ist, da ich wahrscheinlich die letzte in der Schule war und nicht gewusst hätte, wo ich wen zum Anschieben finde. Aber auch das hab ich (relativ) entspannt gemeistert. Unglaublich, wie sehr einen ein Tag mit sinnvoller Beschäftigung wieder erdet und beruhigt. Vielleicht läuft was falsch, wenn ich zum Entspannen in die Arbeit gehe – aber so ist es grade, und ich bin aufrichtig dankbar, dass ich jeden Tag wieder meine Mitte und innere Ruhe finden kann, indem ich einfach unterrichte.

Zu viel Weihnachten

Geplant war: ein schönes Festessen für die Familie am zweiten Weihnachtsfeiertag, ein opulentes Essen mit Freunden am Dreikönigstag mit Rezepten von der Titanic – weil danach alles vorbei ist und man lieber noch mal in Glanz und Gloria ein Fest feiert, als melancholisch und allein unter dem Christbaum zu sitzen. Dazwischen: viel Zeit zum Atemholen und Runterkommen nach einem ungewöhnlich arbeitsreichen Dezember. Vielleicht sogar Tage, an denen man lange schläft und danach nur lesend auf dem Sofa liegt.

Davor, am 22., wäre noch mein Schülerkonzert bei uns zuhause. 22 Schüler und danach ihre Eltern zum Tee und Lebkuchenessen – das ist der alljährliche Wahnsinn, nach dem das Erdgeschoss eine Grundreinigung braucht, aber darin hab ich schon Routine. Und danach hätte ich ja vermeintlich zwei Tage zum Ausspannen, bevor es weitergeht.

Das war der Plan.

Dann kam eine Silvester – Einladung, und kurz danach eine von neuen Freunden am 1. Januar um 13 Uhr, um das neue Jahr zu feiern. Dann unvermutet eine Kaffee – Einladung für den 2., und noch ungeplanter eine für den 4. Auch wenn Kaffee in München einen halben Tag Abwesenheit bedeutet – zu so netten Leuten will man nicht nein sagen, oder? Als ich nach meinem Schülerkonzert mit dem Staubsauger durchs Haus fegte, klingelte es: eine mir unbekannte Frau stellte sich als Mutter unseres jungen Nachbarn vor und erklärte, dass er nach einem lebensgefährlichen Unfall auf der Intensivstation in Salzburg liege und wir uns nicht wundern sollten, wenn sie hier aus und ein ging, sie sei jetzt über die Feiertage hier. Allein, fragte ich? Ja, dann solle sie doch den Heiligabend bei uns verbringen. Denn an Heiligabend allein sein mit solchen Sorgen – das muss ja nicht sein. Wieder im Haus betrachtete ich den Kater, der offensichtlich ein  halb aufgegessenes Vanillekipferl unter dem Sofa gefunden hatte und auf dem Teppich damit spielte. Was hatte ich da grade gemacht?! (Aber: es war fast die schönste Einladung, weil sie sehr still und intensiv war und wir uns richtig gut unterhalten konnten mit der Unbekannten).

Am 23. unterrichtete ich bis abends, schaffte es aber davor und danach, gefühlt unsere verschiedenen Läden leerzukaufen. Was für ein Getümmel! War ich froh, dass ich’s hinter mir hatte!

Dachte ich.

Denn am 24., drei Stunden vor Ladenschluss, rief der weihnachtsmuffelige Bruder an, der alle Einladungen strikt abgelehnt hatte, und erzählte eine phantasievolle Geschichte von einer Fliegerbombe ein paar Meter vor der Haustür und der Evakuierung der Augsburger Altstadt und noch so ein paar Märchen. Ich wollte sagen: sag doch einfach, dass euch langweilig ist und ihr nicht zum Einkaufen gekommen seid. Doch die Geschichte war so sorgfältig konstruiert, dass ich ihn  nicht enttäuschen wollte. Also fiel die Augsburger Verwandtschaft am 25. ein, inklusive zwei Vierbeinern. Hätte ich das gewusst, hätte ich garantiert nicht so sorgfältig geputzt – Hunde nach einem Winterspaziergang sind ein Kapitel für sich..

Kurzfassung: wir hatten vom 22. 12. bis 6. 1. sage und schreibe zehn Einladungen. So nett jede einzelne für sich war, so anstrengend war es letztlich. Aber ich war selber schuld: ich wollte grade zu dieser Jahreszeit aufgeschlossen und freundlich sein. Merkte aber danach: jedes „ja!“ zu einem anderen ist ein „nein“ zu mir selbst. Als dann nach Weihnachten der Schnee kam und ich immer wieder den Gehweg freischaufelte, dachte ich: so ist mein Leben jetzt. Ich schippe und schippe und schwitze, und dann schippe ich noch ein bisschen, um für zwei Stunden Durchblick zu haben. So waren der November und Dezember, als ich mich durch Berge von Arbeit und sehr viele Extrastunden schleppte, und so sind diese vermeintlichen Ferien, in denen ich nicht einen Mittagsschlaf halten konnte und mich fast täglich in Schale warf und auf den Weg zu einer Einladung machte.

Wo sind denn die Menschen, die immer bedauert werden, weil sie Weihnachten allein verbringen? Können wir bitte nächstes Jahr tauschen?!

Im Gegensatz zu früheren Weihnachten, die ich bewusst und leise zelebriert habe, habe ich dieses Jahr nur zwei Mal einen Funken von Ruhe und Frieden gespürt: einmal, als ich mit meiner Mutter nach einem Ausflug in der Dämmerung und dann Dunkelheit im Aran – Café in Tegernsee sass, direkt am dunklen See und mit Blick auf die Lichter am anderen Ufer. Und das andere Mal jetzt, als die Schule schon wieder begonnen hatte und eine kleine Schülerin, die auf ihre Stunde wartete, völlig versunken und fast hypnotisiert vor meiner kleinen Weihnachtspyramide kniete und ganz still den Bäumchen beim Drehen zuschaute. Das hat mich selber ruhig gemacht und ein bisschen vom Zauber des Fests zurückgebracht. Wahrscheinlich darf man nicht ständige Glückseligkeit erwarten, sondern sollte dankbar sein für solche geschenkten Momente, die letztlich die Essenz des Ganzen in sich tragen.

Es waren verrückte Weihnachten, aber im Januar werde ich gar nichts machen. Wirklich gar nichts. Ausser Unterrichten, Additumsprüfungen begleiten, Montagskonzert begleiten, für beides üben, was das Zeug hält – aber die Wochenenden sind für mich. Und für ein wunderbares neues Magazin, das Fluchtpläne für die nächsten Weihnachtsferien aufkeimen lässt…

Einmalige Begleitung

dscf5771Am Nikolausabend lief ich abends durch dichten Nebel zu Fuss runter in die Stadt. Meine desillusionierten Schüler versuchen ja immer wieder, mir weiszumachen, dass es keinen Nikolaus gibt, und noch jedes Jahr konnte ich ihnen ohne zu lügen sagen, dass es ihn sehr wohl gibt, weil ich ihn mit eigenen Augen gesehen habe. Bisher hatte ich jedes Jahr am Nikolaustag das Glück gehabt. Heuer dachte ich schon, ich müsste den gelten lassen, den ich drei Tage vorher in der Stadt entdeckt hatte, so am Samstagvormittag vor den Markthallen – was aber nicht das Gleiche ist, als ihn tatsächlich am 6. Dezember auf seiner wirklichen Mission zu erleben. Und wirklich, in dem Moment, in dem ich mir da auf meinem Weg dachte: „es wäre zu schön, wenn ich jetzt noch dem Nikolaus begegne“, kam eine rotgekleidete Gestalt mit Bischofsmütze und Stab aus dem Nebel einer Seitenstrasse. Und wartete sogar auf mich! Ich konnte seine Augen nicht erkennen vor lauter Rauschebart und weisser Haarpracht, aber er fragte, ob ich auch in die Stadt obi gehe, „na, da können wir ja gemeinsam gehen, mein Engerl konnte nämlich nur bis halb acht und jetzt muss ich noch Familien in der Altstadt besuchen.“ (Wie, Engerl mit Dienstschluss? Ich dachte, an solchen Tagen ist man rund um die Uhr im Einsatz?)

dscf5802Und so kam es, dass ich neben dem Nikolaus den ganzen Köbingerberg runtergehen durfte. Stolz und ziemlich sprachlos. Manche Autos hupten, wenn sie uns sahen, und der Nikolaus hob grüssend seinen Bischofsstab, während er mir erzählte, dass er eigentlich Schreiner sei (?), dass so ne Mitra 60 Euro kostet (??), und dass er sich in Rosenheim jetzt noch ein weiss – goldenes Gewand mit goldener Mitra gekauft habe, einfach zur Abwechslung, denn er sei ja gestern auch schon unterwegs gewesen. Ich kam aus dem Staunen nicht raus. Vor allem das mit Rosenheim verwirrte mich – und wieso kaufen? Ich dachte, im Himmel kommt man ohne Geld aus? Das mit dem Schreinern verstehe ich auch nicht ganz, aber vielleicht braucht man in der Ewigkeit irgendein Hobby.

Nach zehn Minuten verabschiedeten wir uns höflich. Ich wollte ihn  ja auf keinen Fall aufhalten, weil die Kinder langsam sicher ins Bett mussten. Aber ich blickte ihm nach, wie er langsam in den Nebelschwaden unserer gotischen Stadt verschwand, und ich war so glücklich: ich hatte den Nikolaus nicht nur gesehen, ich hatte mit ihm ein ganzes Stück zu Fuss gehen dürfen. Das ist wirklich und ehrlich nicht erfunden, so wahr ich hier sitze!

Sprache als Klang

hochwertige-weihnachtsdekoZwei lange Tage auf dem Literaturfest München, und ich fühle mich wie neugeboren, angeregt für Wochen, inspiriert, ganz viel nachzugucken und zu lesen, motiviert, anders und besser Musik zu machen – kurzum, das reinste Rundum – Wellness – Erlebnis für Kopf und Seele. Und ich habe auch das Drumherum genossen, die Tatsache, aus unserem kleinen Städtchen zwei Mal hintereinander in die ganz grosse Stadt zu fahren. Dank zentraler Veranstaltungsorte wie den Kammerspielen oder dem Literaturhaus kam ich als Bonus schon in den Genuss der grandiosen Weihnachtsbeleuchtung auf der Maximilianstrasse – was will man mehr?

Ich schleiche um diese ganzen Schreibenden rum wie die verhinderten Musiker, die sich manchmal auf meinen Konzerten rumdrücken und einen mit eigentlich selbstverständlichen Fragen aufhalten. Man spürt ihre Faszination, staunt über ihr Fachwissen, fragt sich aber auch, warum man jetzt so eine banale Frage nach dem Übeverhalten oder den verwendeten Editionen beantworten soll. Ist gleichzeitig milde gestimmt, weil man spürt, dass sie in harmloser Weise einen Blick durch eine angelehnte Tür in einen ganz anderen, ersehnten Lebensentwurf werfen wollen. Und so geht es mir mit Menschen, die den ganzen Tag mit Wörtern verbringen dürfen. Ich beneide sie ein bisschen, bewundere sie ganz arg und träume auch von so einem Leben…

Auf dem sagenhaften Übersetzertag kam ich mir vor wie so ein Zaungucker. Die Veranstaltung stand ganz offiziell auf dem Programm, war aber eine Art Tagung des Deutschen Übersetzerfonds. Ich war mir kurz unsicher, ob ich da überhaupt reindarf. Aber solange ich zahle? Und überhaupt? Doch als die Stühle knapp wurden und die Dame neben mir ihre Begleiterin fragte: „Sind denn Zivilisten hier?“, fühlt ich mich kurz verunsichert… Studierte aber intensiv die Decke und blieb unauffällig sitzen. Was ein Glück war: der Tag war für mich so ein Gewinn und sollte für Musiker eine verpflichtende Fortbildung sein – sind wir doch auch und ständig Übersetzer von Texten. Man hätte praktisch in jedem der hochkarätigen Vorträge „Übersetzer“ durch „Musiker“ ersetzen können und zu neuen Einsichten gelangen können. Mir hat irgendwann der Kopf geraucht, so erschlagen war ich von den ganzen neuen Erkenntnissen – aber auch beglückt und eben inspiriert und bereit, mich meinen zwei Leidenschaften auf neue oder andere Weise anzunähern. Es ging um den Gedankenstrich bei Emily Dickinson (man glaubt nicht, wie fesselnd das sein kann!), den unterschwelligen Beat bei Shakespeare, der Erkenntnis, dass ein Gedicht mit einem redet, einen plötzlich anspringt, oder die Feststellung, dass Sprache Klang ist und eigentlich alle Texte laut vorgetragen werden müssen. Sprache sei eine Ohrenkultur, und ich ergänze für mich: Musik ist (auch) eine Augenkultur, muss gelesen, analysiert, als Architektur durchdrungen werden. Ich werde anders lesen nach diesem Tag, und ich werde anders Musik machen.

aussen-weihnachtsbeleuchtung-1000x486Dass Sprache erklingen muss, hörbar gemacht werden muss, zeigte in wunderbarer Weise auch der Abend davor: eine moderierte Lesung von Carolin Emcke im Jugendstiljuwel der Kammerspiele. Während sie kurze Abschnitte aus ihrem neuesten Buch las, wurden mir Zusammenhänge oder überhaupt: der Sinn mancher Stellen sofort klar, die mir beim eigenen, zu schnellen und gierigen Lesen entgangen waren. Das war auch wirklich erhellend: wie wichtig das Tempo ist, wie wichtig Pausen sind… Ich bin kein Fan von Hörbüchern, durfte aber eindrucksvoll feststellen, wie viel mehr vom Gehalt transportiert wird, wenn der Text nicht zu schnell an einem vorbeirauscht. Das noch kurz zur Sprache als Klang… Und inhaltlich war es enorm interessant und leider sehr aktuell. Das neue Buch heisst „Gegen den Hass“. Es war faszinierend, dem Soziologen Armin Nassehi und der Autorin sozusagen beim Denken zuzuhören, zu sehen, wie solche unglaublich intelligenten und gebildeten Menschen Fragen und Antworten entwickeln, wie präzise und klar selbst die verschachteltsten Sätze sind, was für einen langen Atem sie haben. Und auf welch zivilisierten Niveau alles ablaufen kann – naja, das ist vielleicht kein Wunder, wenn man sich inhaltlich einig ist. Aber es war wohltuend nach den ganzen überhitzten Debatten über Zuwanderung und reine Rassen, die es in den Medien in den letzten Monaten gab. Dass man sich auch einfach kultiviert über schwierige Sachverhalte unterhalten kann.

Was von hier blieb, ist eine Feststellung, die ich selber auch gemacht habe – dass ich noch nie in meinem Leben derart rohe, verrohte Debatten miterlebt habe, wie wir sie seit letztem Jahr erleben müssen. Dass der Ton, in dem gesprochen wird, zunehmend aggressiver und eben verrohter wird, und dass das noch nicht mal jemand zu stören scheint. Vielleicht sind wir die letzte Generation, der noch auffällt, dass es mit der Gesprächskultur bergab geht? Und später Geborene halten es für normal, ihre negativen Gefühle und Ressentiments in sozialen Netzwerken ungehindert und in verkürzter, darum noch brutalerer Form auf die Welt loszulassen? Und überhaupt, diese öffentliche Äusserung von eigentlich ganz privaten Meinungen (sollte man als Blogschreiberin eigentlich nicht sagen…) ist auch was Neues. Es wurde, auch im Zusammenhang mit dem amerikanischen Wahlkampf, von einem „Exhibitionismus der Schäbigkeit“ gesprochen, für den man sich noch nicht mal schämt. Abgesehen vom Inhalt, von den Themen, die überhaupt diskutiert werden, erleben wir hier eine besorgniserregende Entwicklung mit. Und man fragt sich, wie man noch gegensteuern kann.

professionelle-weihnachtsbeleuchtung-aussen1Deshalb hinterliess der wirklich bereichernde und anregende Abend auch eine Art Katerstimmung. Weil man, wenn man vor der Veranstaltung einen vorzüglichen Kaiserschmarrn im Theaterrestaurant isst und danach an den wunderbar dekorierten Schaufenstern von Chanel und Hermès vorbei durch die vorweihnachtlich glitzernde Maximilianstrasse läuft, feststellen muss: ich lebe in einer absolut privilegierten, schillernden Seifenblase und habe vom wirklichen Leben keine Ahnung. Ich gehöre nicht zu den schlecht Ausgebildeten, die vielleicht auch noch grade ihren Job verloren haben, berechtigte Befürchtungen haben, dass ihnen gleichermassen wenig ausgebildete Zuwanderer auf dem Arbeitsmarkt die Chancen verderben und deswegen Vorbehalte haben oder sogar Hass entwickeln. Ich gehöre zu den satten, gut gekleideten Sorglosen, die sich im Theater moralisch ein bisschen aufrütteln lassen. Aber echte Probleme gibt es in unserem Umfeld nicht. Und da fragt man sich wirklich, was man tun kann. Denn mit den vorzüglichen Argumenten, die der Abend und das Buch liefert, muss man den wirklich Hassenden gar nicht kommen. Meine Lösung im Moment: die guten, vermittelnden und diplomatischen Gedanken zu verbreiten. Und auf eine gehobenere, respektvollere Gesprächskultur zu achten – und das beginnt natürlich an der Basis, im Alltag und mit den vielen Kindern, die mir anvertraut sind. Wahrscheinlich kann ein einziger doch mehr bewegen, als man denkt.

(Fotos: Fine Arts Christmas)

Ableger

P1080710Obwohl ich noch gar nicht lange in Wasserburg wohne, kann ich verschiedenen Arten von Ablegern beim Wachsen zuschauen. Kleine Erdbeerkinder an ihren langen Fäden oder dekorative Minirosetten an der Hauswurz sind willkommen, während vieles andere im Garten nicht unbedingt sein müsste. Aber genau das ist in der Überzahl, wie das halt so ist… Besonders nett ist die besondere Art von „Ablegern“, die inzwischen als ganz kleine Schüler zu mir kommen: Geschwister meiner Schüler. Manche sind schon etwas älter und kommen als Ersatz sozusagen, wenn die grosse Schwester ein Schuljahr im Ausland verbringt. Manchmal muss ich mir da die Augen reiben, weil sie einfach wie eine Miniversion der älteren Schwester aussehen und ich beim Unterrichten manches déja-vu habe.

Ganz speziell ist es, wenn kleine Kindchen zu mir kommen, die ich quasi schon vor der Geburt kannte. In den acht Jahren hier habe ich mehrere Schwangerschaften von Schülermüttern mitbekommen, hab sie, wenn sie schon rund und kugelig während der Klavierstunde warteten, mit Erdbeeren und Aprikosen gefüttert, damit das Kindchen gut gedeiht und es ihnen auch gut geht, hab Stunden nach der Geburt von den Geschwistern in der Klavierstunde schon das erste Foto auf dem Smartphone gezeigt bekommen und die passenden Glückwunschkarten zur Geburt ausgewählt – kurzum, fast
P1080531tantenmässig nah das ganze freudige Geschehen mitbekommen. Jetzt sind die kleinen Ablegerchen fünf und sechs und haben schon ihr erstens Jahr Klavierunterricht hinter sich. Es gäbe noch einen, der sofort wollte, wenn man ihn liesse, aber er ist erst kniehoch. Er schiesst immer ans Klavier, entert mit einem Elan und auf allen vieren den Klavierstuhl, dass er fast vorne wieder runterkugelt, und will unweigerlich immer „Fuchs du hast die Gans gestohlen“ spielen (= ich spiele, er spielt ganz taktsicher ein Ostinato, das ich ihm zeige), das er lauthals und sicher mitkräht. Dieser Kleine kam beim Sommerkonzert während eines Beitrags wortlos zu mir, während ich an der Seite stand, nahm mit seiner kleinen klebrigen Hand meine und blieb brav lauschend so stehen. So viel braver als sonst… Als wäre ihm klar, dass heute schon Klaviertag ist, aber nicht der passende für „Fuchs du hast die Gans“. Möglicherweise fängt er auch irgendwann mit Unterricht an. Es ist nett zu sehen, welche Kreise die Mundpropaganda zieht, wer befreundet ist oder Nachbarn – das ist ja auch eine Art von Ableger. Mit längeren Fäden, wie bei den Erdbeeren. Aber diese ganz nahen Ableger, die direkt aus der Mutter wachsen, das ist für mich was ganz Schönes.

Und abgesehen von der emotionalen Verbundenheit spart es auch Zeit und Arbeitsabläufe: man kennt sich, hat alle Kontaktdaten, ich kenne meistens das Klavier der Familie, die Noten sind auch schon vorhanden – man kann gleich loslegen, ohne viel reden zu müssen. Alle Versuche, die Familien zu einem anderen Instrument zu überreden, sind vergeblich. Ich weiss nicht, ob es so toll ist, in einem Haus zu wohnen, in dem alle Kinder Klavier spielen ( an manchen Tagen ganz sicher nicht!).

Immerhin weiss ich, was auf mich zukommt und wie clever der Nachwuchs ist. Kürzlich hab ich mit einem Sechsjährigen und seinem vierjährigen Bruder Noten – Memory gespielt, und irgendwann stöhnte der Ältere: „Mann, Sie lassen uns immer gewinnen, das ist witzlos!“ Und ich musste der Ehrlichkeit halber sagen: „Ich lass euch nicht gewinnen, ich kann’s mir einfach nicht merken.“ „Wie ich beim Minusrechnen?“ „Ja, wahrscheinlich.“ Offensichtlich hatte ich sein Mitgefühl, denn in der nächsten Runde machte er mich mit unübersehbarem Augenrollen, Kopfnicken und unauffällig, aber krampfhaft abgespreiztem kleinen Finger auf ein paar Kartenpaare aufmerksam und half mir, nicht ganz so haushoch zu unterliegen. So unterstützen wir uns gegenseitig bei unseren Schwächen.

…in progess…

DSCF5600Genau so plötzlich wie die Morgenluft auf einmal kühler wurde, hat sich ein anderes eindeutiges Anzeichen für den Herbst eingeschlichen, so schnell und immer wieder unerwartet, dass diese Phase auch schon fast vorbei ist: der Garten fängt an, golden zu leuchten. Selbst bei bedecktem Himmel, selbst in der Dämmerung: über allem liegt ein sanftes, warmes gelb-goldenes Leuchten. Es ist, als ob man in eine hohe, von innen und aussen strahlende Kathedrale eintritt. Das Strahlen hüllt einen auf unglaublich zarte Weise ein. Wie eine ganz leichte, aber wärmende Decke, die kaum spürbar über den Schultern liegt. Wie Wärme von innen nach einem heissen Tee mit Milch. Wie die Wärme von ganz innen, wenn man sich aufgehoben und geliebt fühlt. Das goldene Leuchten dringt in jeden Winkel des Gartens – selbst die schattigeren Stellen der Terrasse haben ihr eigenes Leuchten durch den gelbgefärbten Wein. Es ist allumfassend, wie dichter gelber Nebel, und gleichzeitig so persönlich und nah, dass ich nicht sicher bin, ob irgend jemand ausser mir es wahrnimmt. Und woher es kommt? Wir haben viele Laubbäume, darunter einen ausufernden, jetzt gelben Ahorn, und der Nachbar hat einen majestätischen Tulpenbaum, der grade strahlend gelb ist und seine Reflexe über den Gartenzaun wirft. Die Eichen hinterm Zaun werden kupferfarben, die Birke auch golden – es ist eine Symphonie in Gelb, die ihresgleichen sucht.

Ich liebe es, in dieser Atmosphäre des langsamen Vergehens und Absterbens, die gleichzeitig maximale Schönheit ausstrahlt, die letzten Gartenarbeiten zu verrichten. Jetzt sind es nur noch langsame, vorsichtige Arbeiten. Im Sommer ist ja oft der radikale Kahlschlag notwendig, auch in dem Wissen, dass alles ohnehin wieder nachwächst, und schneller, als einem lieb ist. Die Arbeit ist schweisstreibend, die Hitze tut ein Übriges – es wäre albern, solche Aktivitäten nicht in passender Arbeitskleidung zu erledigen. Jetzt kann ich getrost in meinen Alltagsklamotten in den Garten gehen, denn auch das Tempo ist anders: es gibt nur noch wenig zu tun. Ich schaue, wer noch Zeit braucht zum sich ganz Einziehen, ganz zur Ruhe zu begeben. Ich will das Vergehen nicht beschleunigen, indem ich es mit der Schere beende – auch Welken braucht seine Zeit. Und das unglaubliche Farb – Crescendo der Bäume zeigt mir: wir sind auf dem Höhepunkt des Vergehens, aber es dauert noch ein paar Tage, bis das Ende wirklich da ist. Und die Zeit möchte ich ganz bewusst erleben und den mehrjährigen Pflanzen auch geben.

P1090306Wie wir alle eingebunden sind in die Zeit… Ob wir es wollen oder nicht. Ich denke immer wieder über dieses seltsame Phänomen nach. Manchmal scheint sie sich rückwärts oder spiralförmig zu bewegen. Vor ein paar Tagen hab ich bei der Vorverkaufsstelle von München Ticket persönlich mehrere Karten abgeholt für Veranstaltungen fürs Literaturfest. Ich will mit verschiedenen Freundinnen gehen, also war es ein kleiner Stapel. Und der Herr an der Kasse fragte, ob oane vo uns no an Studentenausweis hat. Das ist mir echt lang nicht mehr passiert, und man ist erst mal perplex. Wir können alle nicht mehr nachweisen, dass wir noch studieren – aber irgendwie tun wir es doch, oder? Wenn wir das Programm des Literaturfests wälzen, die Neuerscheinungen verfolgen, davor ganz viel drüber reden, danach noch mehr, und jeder Besuch der Bücherschau einen Stapel an Neuanschaffungen nach sich zieht. Oder meine Notenbestellungen zum Schuljahresbeginn, für mich und für meine Schüler: das hat auf jeden Fall immer was von Schulanfang, mehr wissen wollen, weiterkommen – aber die Aufbruchsstimmung und der Wissensdurst ist nicht nur auf den Herbst beschränkt, sondern eigentlich ständiger Begleiter in meinem Leben. Und dem meiner Bekannten. Insofern sind wir noch Studenten und auch oft pleite wegen der Buchkäufe – aber wir kriegen auch immer mehr graue Haare und verdienen doch so viel, dass wir unseren Beitrag zur Kulturgesellschaft in Form von nicht ermässigten Eintritt leisten dürfen. An so was hab ich im herbstlichen, verwelkenden Garten gedacht – diese seltsame Gleichzeitigkeit von sich jung und neugierig fühlen, aber langsam definitiv auf den Herbst zugehen. Wahrscheinlich wird man noch mit 90 behaupten, im Herz eine Studentin zu sein.

P1090339Und unser ständiges eigenes Fortschreiten in der Zeit, gegen das man gar nichts tun kann ausser es zu akzeptieren – daran hatte ich auch eine nette Erinnerung letzte Woche, als ein ernsthafter Schüler vor seinem Bach beteuerte, dass er wirklich jeden Tag dran gearbeitet hat, vor allem an der Artikulation links, dass es aber trotzdem noch nicht so klingt wie er es sich vorstellt. „Sie hören jetzt ein work in progress.“ Wie nett, dass er mich vorwarnte und sich immerhin ein Gewissen drum machte… Aber alles ist ständig ein work in progress. Mein Spielen, das Spielen meiner Schüler… Egal, was man tut – Musik machen, schreiben, malen, Geigenbauen, leben – es geht immer um den nächsten Schritt, um die nächst mögliche Verbesserung. Die Bäume müssen gelb werden und kahl, um nächstes Jahr neue Blätter bekommen zu können. Nichts ist statisch oder grossartig unter unserer Kontrolle. Da kann man sich nur entspannt einordnen in den grossen Ablauf der Dinge und sich daran freuen, dass man grade jetzt Teil von allem sein darf.

Vom Inn an die Seine: Shakespeare and Company

DSCF9336Irgendwann kommt jedes Jahr unweigerlich der Tag, an dem man morgens nicht als erstes alle Fenster und Terrassentüren aufreisst, sondern in der Kommode nach wärmeren Strickjacken sucht. Barfuss frühstücken ist ganz plötzlich nicht mehr attraktiv, und auch wenn es einen jedes Jahr wieder überrascht: es liegt mehr als ein Hauch von Herbst in der Luft.  Schnell noch ein Artikel über Paris, bevor die Erinnerung an Temperaturen über 30 Grad, staubige Sandalen und eine Woche voller Sommerkleider ganz verblasst! Aber ich erinnere mich darin an einen Ort, an den man sich auch gut bei Herbstwetter hineinträumen kann. Eher als in Parks, Strassencafés, Uferpromenaden: ein altmodischer, hoffnungslos vollgestopfter kleiner Buchladen schräg gegenüber von Notre Dame auf der anderen Seite der Seine…

tumblr_nbdeyhDN641tl7ri2o1_1280Das legendäre „Shakespeare & Company“ wurde 1919 von der Amerikanerin Sylvia Beach gegründet. Die englischsprachige Buchhandlung wurde schnell zum Treffpunkt der literarischen Szene. Wer in den Zwanzigerjahren mit Literatur zu tun hatte, ging dort aus und ein – unter anderem Gertrude Stein, T. S. Eliot, Ernest Hemingway und James Joyce. Nach dem Krieg und einem Besitzerwechsel  – George Whitman war der gleichermassen charismatische Nachfolger – zog der Laden in die Rue de la bucherie 37, wo er sich heute noch befindet. Das windschiefe, schmale Häuschen war im 16. Jahrhundert Teil eines Klosters. Die Atmosphäre, die er ausstrahlt, ist allerdings zeitlos: weder Zwanzigerjahre noch Dickens, an den man unweigerlich denkt, wenn man sich den Weg durch die verwinkelten winzigen Zimmerchen bahnt. Es ist mehr wie eine Märchenhöhle mit Regalen bis an die Decke. Wie der wahrgewordene Traum eines Buchliebhabers, der allen Gesetzen der Physik zu trotzen scheint. Alles ist so alt, schief und verwinkelt, dass man Angst hat, die ganze Statik würde zusammenbrechen, wenn man ein bestimmtes Buch aus dem Regal zieht. Auch Kittywenn man es erst nicht glaubt: es gibt eine Systematik hier, und man kann sich wirklich zurechtfinden. Was wie Chaos und irgendwo-Hingestellt ausssieht, ist mit Bedacht und Liebe eingeräumt und garniert mit kleinen handgeschriebenen Schildchen, Postkarten, kleinen Gemälden, Fotos von Dichterlesungen und anderen Erinnerungen. Deshalb entsteht schon unten der Eindruck, man sei in einem privaten Wohnzimmer. Hat man die enge, gewundene Treppe in den ersten Stock erklommen, ist man tatsächlich in einem Wohnzimmer: im Flur befindet sich passenderweise die Lyrikabteilung mit verkäuflichen Büchern. Der übrigen gefühlten hundert Regalmeter in den diversen kleinen Zimmerchen beherbergen antiquarische Bücher, die man vor Ort lesen, aber nicht kaufen kann. Unzählige alte Sofas, Liegen und Sessel laden zum Verweilen ein, ebenso diverse Schreibtische mit alten wackeligen Stühlen und prähistorisch anmutenden Schreibmaschinen (einer mit Blick aus dem geöffneten Fenster auf die Türme von Notre Dame – ich war sprachlos!). Überall laden Zettelchen ein, zu bleiben und zu lesen oder auf dem Klavier in einem weiteren höhlenartigen Zimmerchen zu spielen – aber mit Rücksicht auf andere Versunkene keine Fotos zu machen. Und das wird erstaunlicherweise akzeptiert. Der gute Geist einer anderen Zeit kommt selbst gegen die jetzige Selfie-Manie an. Es würde sich aber auch als seltsamer Einbruch in die Privatsphäre von Lesenden anfühlen. Ein paar der Gestalten, die völlig abwesend auf den Sofas lasen und scheinbar zum Inventar gehörten, sahen aus, als würden sie buchstäblich seit den Siebzigerjahren hier campieren… Wie wunderbar.

Shakespeare & Company abendsDa es in Frankreich kein Ladenschlussgesetz gibt, hat die wundersame Bücherhöhle jeden Tag bis 23 Uhr auf. Wirklich ein Ort, an dem man sich verlieren kann, und eine ganz besondere Erfahrung. Es ist definitv einer der schönsten Buchläden, die ich kenne. Bisher war der Persephone Bookstore in London mein Favorit, aber er ist so völlig das Gegenteil: auch klein, aber hell, übersichtlich und sauber. Und nicht zum endlosen Verweilen gedacht (weiss gar nicht, ob es überhaupt eine Sitzgelegenheit gab?). Man wird unglaublich freundlich und höflich beraten, trifft seine Auswahl der verlagseigenen Bücher in elegantem Grau und nimmt quasi ein Stück dieser aufgeräumten Atmosphäre mit nach Hause. Die Höhle in Paris hingegen: also ich weiss nicht, wann die Sofaüberwürfe  das letzte Mal gewaschen worden sind. Und ob überhaupt. Bei Persephone gibt es gelegentliche Tea Parties oder manchmal sogar Lesungen mit einem verwegenenen Glas Madeira. Von George Whitman gibt es die Anekdote, dass er in seinem Laden Maria Callas Rotwein aus einer ausgespülten Thunfischdose anbot und sie, nachdem sie abgelehnt hatte, als „bourgeois“ bezeichnete. „Shakespeare & Company“ ist vielleicht eine nicht bourgeoise Erfahrung, aber manchmal ist man ja genau in der Laune für so was. Sollte ich mal allein in Paris sein, werde ich da einziehen!

(Fotos ausser dem ersten: Webseite des Buchladens)