Im alljährlichen Pandämonium in unseren normalerweise heiligen Hallen – dem Tag der offenen Tür für die Viertklässler – gab es trotz der enormen Geräuschkulisse und dem endlosen Herumwuseln einen richtig schönen Moment: unser Fachbereichsleiter erklärte den Eltern in einer kurzen Ansprache, dass sie ihren Kindern einen Begleiter fürs Leben geben, wenn sie sich für den musischen Zweig entscheiden. Sollte das Kind dann mal in Rostock oder Stralsund studieren (ich musste grinsen über die Auswahl der Städte – offensichtlich kann man damit richtig gut Ängste schüren im Erdinger Landkreis!), kann das Kind in den Unichor oder ins Orchester gehen und wird nie allein sein. Das ist doch mal ein Argument… Hat mir wirklich gefallen, und ich werde mir angewöhnen, auch auf diese Art auf die angenehmen Langzeitfolgen von Musikunterricht hinzuweisen. Denn es ist wahr: man macht seinem Kind damit ein Geschenk fürs ganze Leben. Das ist natürlich mit allem so, was man lernt, sei es eine Sprache oder Naturwissenschaften, und es gibt ganz definitiv das gefürchtete Zeitfenster, in dem dieses Lernen einfach stattfinden sollte. Aber Musik hat noch einen besonderen emotionalen und sozialen Aspekt, der unschätzbar ist.
Und es gäbe wunderbare „Erfolgsgeschichten“, die wir erzählen können, Geschichten, in denen Kinder, deren Eltern sich den Klavierunterricht vielleicht nicht leisten könnten, dank des kostenlosen Instrumentalunterrichts am bayerischen Gymnasium erfolgreich und mit Freude einen von Musik begleiteten Lebensweg einschlagen. Wie meine Schülerin, die jetzt Abitur macht – sie hat freiwillig fürs letzte Halbjahr Messiaen, Poulenc und Bartok gewählt und wir haben den Spass unseres Lebens dabei, uns für die unglaublich unterschiedlichen Stücke Szenarien, Ausstattung und sogar Düfte auszumalen. Wenn man mal so drüber steht, dass die genialen Kinderchen sich im 20. Jahrhundert so gut auskennen, hat man Freiräume, um tiefer zu graben und tiefer einzutauchen. Weil sie auch gern und leicht schreibt, hab ich ihr vorgeschlagen, über jede Szene ein Gedicht zu schreiben – bin sehr gespannt… Und ich bin stolz ohne Ende, wenn sie den Messiaen so zart und transzendent wie einen Hauch spielt, zehnstimmige Griffe hin oder her, und beim Bartok so barbarisch reinlangt, als gäbe es kein Morgen. Das Mädchen hat seinen Begleiter, keine Frage.
Während mein Kollege redete, sah ich in meinem romantischen, museumsbesuchsüberfüllten Geist natürlich alle Arten von Verkörperungen dieses unsichtbaren Begleiters, die schutzengelartig neben den Kindern schwebten: für die Kleine mit dem halb offenstehenden Mündchen eine Marmornymphe mit Schmetterlingsflügeln, die ich in Rom gesehen habe, für den Pimpf im Fussballtrikot ein hehrer Apollo aus dem Musée d’Orsay, und für das Mädchen mit den langen blonden Haaren, die selber wie ein Engelchen aussieht, eine Klimtfrau, die auf einer Leier spielt… Wie schön, zu wissen, dass sie nicht allein durchs Leben gehen müssen.
Und dass dieser Begleiter immer da sein wird, auch nach dem Studium im nicht – bayerischen Exil und noch viel länger danach. Ich bin jetzt in dieser seltsamen Phase von eher passiver Rezeption angekommen, die ich bei anderen älteren Menschen immer unverständlich und befremdlich fand: ich höre mit allergrösstem Genuss Streichquartette. Abends auf dem Sofa liegend, ohne was anderes zu tun. Ich starre an die Decke oder mal in den Garten, aber ich konzentriere mich völlig auf die Musik und versinke komplett darin. Ich würde es nicht überleben, abends auch noch Klaviermusik zu hören, aber dieses ganz andere Genre, diese wunderbare Vielstimmigkeit und die herzzerreissenden letzten Wahrheiten in den späten Beethoven – oder den Schubert – Quartetten sind im Moment genau richtig. Ich möchte einfach nur pure Substanz und Inhalt. Keine Unterhaltung oder Zerstreuung. Und dann mache ich die CD auch bewusst wieder aus. Und selbst wenn wieder Stille ist – ich bin nicht allein. Mein unsichtbarer Begleiter schwebt noch über dem Sofa…
Und wer weiss, vielleicht geht es so bis zum letzten Atemzug? Kürzlich hörte ich auf dem Weg nach Erding Dvorak’s Klavierquintett, zum ungefähr zehnten Mal in zwei Wochen, und war trotzdem so entrückt und der Welt enthoben (ich weiss ja nicht, was diese Diskussionen übers Handy am Steuer immer sollen – ich finde Musikhören wesentlich gefährlicher), dass ich etwas zu knapp auf die B12 einbog und fast von einem Laster erfasst wurde, auf dem – DVORAK stand. Nach dem ersten Schreck fand ich das richtig gelungen. Was gäbe es Beruhigenderes, als auf Wogen von Dvorak und durch Dvorak ins Jenseits zu schweben? Und im Lebenslauf macht es sich auch gut.
Seither fordere ich das Schicksal heraus, zur Zeit besonders gern mit dem langsamen Satz aus dem F-Dur – Quartett, aber: ich treffe nur auf sehr alltägliche Laster. Lettl, Gartner, Prunster. Da bremse ich dann doch lieber. Bin schon ein Snob, was mein Ableben anlangt.
Du hast vollkommen recht, in der Beziehung kann man gar nicht wählerisch genug sein. Überlegen wir uns die Angelegenheit gründlich und noch lange!
Ihr beiden habt ja auch wunderbare Begleiter gewählt, das denke ich mir immer wieder. Und man ist wirklich nie allein, selbst wenn man vielleicht allein an seinem Schreibtisch sitzt und luxuriösen Beschäftigungen nachgeht, gell… Weiterhin viel Freude!
Du hast ganz recht, ich hab natürlich den Dvorak gemeint, der mir auch viel lieber wäre als irgend ein Schenker oder Lettl wenns denn sein muß. Überleg es Dir noch sehr, sehr lange, ich kann mich auch nicht recht entscheiden.