Gebrochene Vorsätze, Kapitel 27

Wer mich kennt, weiss, dass ich theoretisch keine Bücher mehr anschaffen will. Aus Platzgründen.

Wer mich besser kennt, weiss auch, dass ich es trotzdem immer wieder tue. Irgendwann muss ich einfach neue Regale aufstellen, damit diese Gewissenskonflikte mal aufhören.

In letzter Zeit musste ich aber aus Altruismus Bücher kaufen. Es gibt ein wunderbares, höhlenartiges, total vollgestelltes Antiquariat in einem der ältesten Häuser in Wasserburg, in dem ich wahnsinnig gern stöbere. Der einzige Weg, der Versuchung zu entgehen, war, eben nicht mehr hinzugehen. Aber dann traf ich den Buchhändler im Winter in einem Konzert. Wir unterhielten uns danach noch etwas und er klagte mir sein Leid: er bekommt eine Heizung und muss den einen Teil seines Ladens komplett ausräumen. Im Prinzip ist es ja angenehm, im 21. Jahrhundert eine Heizung zu haben (ich habe wirklich gestaunt, dass es in Wasserburg noch Häuser ohne Heizung gibt. Klingt wie tiefstes Osteuropa, oder? Erklärt vielleicht auch den wunderbar muffigen Geruch, den ich so mag.) Aber diese Berge von Büchern auszuräumen – mir graut bei dem Gedanken. Um irgendwie durchzukommen, veranstaltete der Buchhändler einen Sonderverkauf und meinte zum Abschied, so nebenbei: „Sie können ja mal vorbeischauen.“

Und so flammte unsere verhängnisvolle Affäre wieder auf.

Herr Feurer entspricht auch optisch der Vorstellung, die man von einem schöngeistigen promovierten Kunsthistoriker und Germanist, der jetzt Buchhändler ist, hat: gross und hager und fast acht Monate im Jahr in einem langen schwarzen Mantel und Schal. Sieht immer aus, als wäre er auf dem Weg zu einer Beerdigung, aber jetzt weiss ich, dass es wegen der nicht – existenten Heizung ist. Irgendwann sagte er von sich selbst, dass er äusserst graecophil sei (musste schnell nachschauen, wie man’s schreibt…), und ab da gewann unsere Beziehung noch mal an Tiefe. Seit mein Vater nicht mehr da ist, vermisse ich einen Gesprächspartner über die antike Welt sehr schmerzlich. Und jetzt, nachdem ich meine Besuche im Antiquariat wieder aufgenommen habe, merke ich, wie sehr ich unsere Unterhaltungen vermisst habe, sein profundes Wissen über vergangene Zeiten und obskure Quellen, sein Engagement, entlegenere Sekundärliteratur für mich aufzuspüren, seine liebevoll kopierten Literaturlisten mit noch mehr Quellen, die mich interessieren könnten (obwohl das schon fast was von einem Drogendealer hat – einmal verführt, gibt’s den immer noch besseren Kick, den immer noch reineren Stoff. Und ich kann nicht nein sagen.), seine Überzeugung, dass es keine vergriffenen Bücher gibt, sondern dass die sehr wohl noch irgendwo sein müssen… Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich nur zwei der Sonderverkaufsbücher erstanden habe. Und die auch noch als Geburtstagsgeschenke für andere – das klingt jetzt richtig schäbig, aber es sind zwei wirklich besondere und sehr passende Bücher für die jeweiligen Menschen. Der Rest der (undeutlich genuschelte Zahl) Bücher, die ich gekauft habe, waren gebundene, wunderschöne Exemplare, zum Teil Erstausgaben mit bibliophilen Vorsatzblättern – was einem halt so passiert, wenn man schwach wird.

Auf die Graecophilie kamen wir, als wir über Klassiker redeten, die jeder kennt und keiner liest, und ich sagte so nebenbei, dass ich schon immer die Odyssee lesen wollte. Und er: ich kann Ihnen ja ein paar raussuchen, während Sie sich umgucken. Und man glaubt es nicht: er hatte einen ganzen Stapel von verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen (erst wollte er mir das Original andrehen – äh!) und empfahl mir als Musikerin die vom Schiller – Zeitgenossen Voß, weil sie so einen schönen Rhythmus hat. Womit er völlig recht hat. Ich liebe auch diese altmodische Sprache. Keine Ahnung, wie nah sie am Original ist, aber wenn man schon was uraltes liest, ist es egal, ob man es in einer ebenfalls alten Brechung liest. Mir ist es auf jeden Fall nicht zu fern, und ich hatte das grösste Vergnügen seit langem, als ich mich über die letzten Wochen langsam und mit Genuss durch das Epos arbeitete. Wobei gegen Ende das Phänomen auftrat, das sicher jeder kennt: dass man noch langsamer und genussvoller liest, weil man nicht möchte, dass das Buch zu Ende geht. Was dazu führte, dass ich mich relativ lange in den blutrünstigen letzten Kapiteln aufhielt, in denen mit den Freiern aufgeräumt wird und die Mägde an Stricken aufgehängt werden, bis ihre Füsse nicht mehr zappelten… Das ist schon eher scheusslich. Aber die ganze lange Reise vorher, die lebendige Schilderung der fischdurchwimmelten Meere, die Morgendämmerung, die immer wieder mit rosigen Fingern erwacht – das war der allerbeste Crashkurs in antiker Weltanschauung. Ich erinnere mich, wie ich, als ich in dem Jahr in Amerika auch Kunstgeschichte belegt habe, als Pflichtlektüre ein dickes Buch über Mythologie lesen musste und mich damit etwas gequält habe (und vor allem dachte: was denn noch alles…) Wenn man die Odyssee liest, bekommt man die farbigste und lebendigste Vorstellung von der griechischen Götterwelt. Wie sie tatsächlich ständig vom Himmel steigen, in verschiedenen Gestalten, und ins Geschehen eingreifen. Und wie liebevoll und menschlich sie charakterisiert werden:  Athene als blauäugichte, freundliche Tochter. Man freut sich schon immer auf die strahlenden Augen, wenn man spürt, jetzt ist mal wieder ihre Intervention fällig. Und es hat ja auch was ganz Märchenhaftes, wenn sie nachts als Rauch oder Nebel ganz fein durch einen Spalt der Türe kommen. Überhaupt war alles märchenhafter und lieblicher zu lesen, als ich je gedacht hätte. Und wirklich so, dass man denkt: noch eine Seite, nur noch eine, bevor ich das Licht ausmache! Noch ein paar Robben, Nymphen und Sirenen, bitte!

Es lässt sich nicht vermeiden, dass diese wundervolle Ausdrucksweise auch ins Alltagsleben sickert. Man fängt unwillkürlich an, in solchen Bildern zu denken. Unser Besuchskater, der seit neun Jahren täglich ein bis drei Mal bei uns vorbeischaut, scheint uns schon irgendwie zu mögen, zeigt das aber kein bisschen. Bisher hiess er „Pokerface“, weil er unsere Liebkosungen geduldig, aber mit quasi heruntergezogenen Mundwinkeln über sich ergehen liess. Seit ich Homer lese, teilt er mit Odysseus den Beinamen „der herrliche Dulder“. (Und erduldet sogar das mit stoischer Miene.) Und wenn ich gelegentlich kurz vor dem Ausflippen bin, gibt es keine innerlichen prosaischen Flüche mehr, sondern ich denke an Achilles, der „raufend mit eigenen Händen das Haupthaar entstellete“. Die edlere Variante, ohne Zweifel.

Warum liest das keiner? Wieso kommt man durch die Schule, ohne jemals damit in Berührung gekommen zu sein? Das Ding ist nicht umsonst seit 2800 Jahren in aller Munde. Und es ist tatsächlich der ganz besonders pure Stoff, der einem sensationelle Höhenflüge gibt.

Ich hab ja einen Doppelband gekauft, in dem die Ilias auch drin ist. Über die habe ich noch das andere Vorurteil – nicht endlos lang und keine Heimat in Sicht, sondern nur kämpfende Männer und zerstörte Städte. Das wird jetzt auch revidiert, hoffe ich. Der Anfang ist zwar viel zäher als die Odyssee, aber ich merke, dass ich Feuer gefangen habe. Und zwar daran, dass ich „Troia“ gegoogelt habe und erfahren habe: gibt’s zwar nicht mehr, aber die Ortszeit wäre eine Stunde später und es hat 22 Grad, fast wie bei uns. So was packt mich dann. Und auf einmal sind Hektor und Patroklos keine Krieger mehr, sondern Menschen, die mich ganz arg interessieren…

Und der Sommerurlaub ist, dank obskurer Sekundärliteratur, auch schon geplant. Auslöser war Gilbert Highet’s „Poets in a landscape“ aus den 50er Jahren, ein Buch über römische Dichter und ihre Wohnorte, das mich so angesprochen hat, dass ich den Gatten, den anderen herrlichen Dulder (aber jetzt im wirklich homerischen Sinn) im Haushalt, dazu überredete, das Buch ganz einfach als Reiseführer zu nehmen. Es führt uns hauptsächlich in bekannte Gefilde in Latium – das ist ohnehin seine Lieblingslandschaft, dürfte also kein allzu grosses Opfer sein. Die Ferienwohnung ist schon gebucht und ich zappele schon vor Vorfreude, zwei Wochen ganz nah an Rom zu sein und meine alten Bekannten zuhause besuchen zu können.  Ein anderer Italienfreund meint vorsichtig: schau mal nach, was da nach zweitausend Jahren noch steht, nicht dass du enttäuschst bist. Er hat leider ziemlich recht… Aber es geht ja auch um das Flair der Orte. Die Hügel, über die Horaz die Sonne untergehen sah, werden wohl noch ziemlich gleich sein, die Vegetation, der Geruch, die Vogelstimmen… Und für den Rest hab ich meine Phantasie.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert