Am Wochenende war ich auf einer kleinen, feinen Fortbildung für Klavierlehrer, die bis zur letzten Sekunde interessant war. Oft dümpelt grade die letzte Stunde von solchen Tagen mühsam vor sich hin, begleitet von kaum verhohlenen Blicken auf die Uhr bis zur erlösenden Frage, ob man nicht eine halbe Stunde früher aufhören will. Hier hatten wir sogar überzogen, da es im kollegialen Austausch so viele Fragen zu klären gab. Das Bereichernde war, dass es, anders als bei Fortbildungen von Verlagen oder den sehr wissenschaftlich ausgerichteten an der Hochschule, ausschliesslich um Fragen und Problemstellungen im Unterrichtsalltag ging. Und egal, wie lange man schon unterrichtet: man kann immer eine neue Erkenntnis, eine unbekannte Idee für sich und seine Schüler mitnehmen und startet beschwingter in die neue Unterrichtswoche.
Fast der ganze Vormittag war reserviert für die Vermittlung der Grundlagen im Anfangsunterricht. Als unverzichtbare Elemente wurden bearbeitet: Haltung, Notenlesen, Rhythmus, Technik. Am Rande gestreift wurde die Ausbildung der Klangvorstellung, die Wichtigkeit, auf Klangschönheit hinzuweisen und zu achten. Ich glaube, das war das einzige Mal an diesem Tag, dass der Begriff „Schönheit“ erwähnt wurde.
Dabei ist er für mich so elementar! Im Anfangsunterricht, bei den Fortgeschrittenen, überhaupt beim Klavierspielen, und im ganzen Leben! Wir diskutierten so detailliert, dass vor dem Mittagessen keine Zeit mehr blieb, sich entsprechend einzuklinken, und danach waren wir bei anderen Themen. Und wenn man eher abwegige Ideen hat, fragt man sich ja selber, ob diese Fragen von allgemeinem Interesse sind oder die anderen innerlich stöhnen, wenn man jetzt nachhakt. Und natürlich hat man Zweifel, wie man diesen so schwer zu definierenden Begriff überhaupt unterbringen will. Dabei bin ich überzeugt, dass alle von uns unterschreiben würden, dass Musik mit Schönheit zu tun hat. Und dass es letztlich das Ziel von diesem ganzen Notenlesen, der richtigen Haltung, der rhythmischen Sicherheit ist, Schönheit in die Seelen der Zuhörer zu transportieren. Deshalb sollte eine gewisse ästhetische Erziehung von Anfang an zum Unterricht gehören.
Vielleicht scheut man sich auch davor, das anzusprechen, weil es nicht nur enorm schwer ist, zu sagen, was Schönheit eigentlich ist, sondern weil es auch sehr subjektiv ist. Für mich kann ein barbarischer, grausiger Bartok eine gewisse Art von haarsträubender Schönheit haben (denn die gibt es schon auch, oder?) – in der Runde gab es aber eine Kollegin, die den „Mikrokosmos“ kategorisch und eindeutig ablehnt und ihren Schülern nie so was vorsetzen würde. Es wäre sinnlos, darüber zu diskutieren. Aber mit Schülern kann und muss man diskutieren, es gehört zur Erziehung dazu, sie im Dialog mit gegensätzlichen Meinungen etwas zu provozieren und so einen eigenen Standpunkt finden zu lassen. Und grade weil das, was wir machen, unsichtbar ist, ist es wichtig, Bilder vor seinem inneren Auge zu haben.
Ich hab im Lauf meines Lebens mit Erstaunen festgestellt, dass es Menschen gibt, die weniger schönheitssüchtig sind als ich, oder sogar überhaupt nicht. (Was man nicht aller lernt!) Auf eine gewisse Art beneide ich Menschen, die gar kein Interesse daran haben, hinter die Dinge zu sehen und nach ihrer Geschichte zu fragen, oder sich zu fragen, wie man gewisse Bilder und Farben und Gefühle verknüpfen kann. Ich fürchte, diese Realisten und Pragmatiker haben es leichter im Leben und kommen schneller dahin, wo sie hinwollen. Ich bewundere sie, weil ich mich immer zu viel mit der „morbiden Sehnsucht nach dem Malerischen“, wie Donna Tartt es so wunderschön ausdrückt, aufhalte. Trotzdem ist und bleibt sie mir wertvoll, diese Sehnsucht, und ich versuche, auch den aller – realistischsten Pragmatikern unter meinen Schülern ein bisschen von diesem Zauberpulver mitzugeben. Denn auch das ist nur Erziehungssache. Manche müssen sich vielleicht mehr anstrengen, um Bilder zu sehen – andere erzählen mir spontan und ungebremst, was sie fühlen, oder malen es auf bis zur nächsten Stunde, oder schreiben Gedichte darüber.
Abgesehen von allem anderen, was wir den Schülern mitgeben wollen, ist es einfach schön, ihnen die Augen zu öffnen für Momente – seien es musikalische oder optische in der ganz normalen, sichtbaren Welt. Wie die wertvollen Sekunden, wenn der See hinter unserem Grundstück im Abendlicht aufleuchtet. Man sieht das nur im März, wenn die Bäume noch kahl sind und die Sonne in einem gewissen Winkel steht. Plötzlich fängt das Klavierzimmer an, gelb und golden zu strahlen. Lange, warme Sonnenstrahlen und Reflexe vom Wasser zittern hinter uns über die Wand, und egal, wie oft ich es schon erlebt habe: es ist immer ein magischer Moment. Kürzlich passierte es, quasi als Zugabe von oben, als ich mit einem älteren Schüler Ravels „Pavane pour une infante défunte“ übte, die vierhändige Fassung für den Klaviersommer. Er ist sehr weit und einfach schon ein richtiger Musiker, und wir verloren uns in der zarten Traurigkeit und zeitlosen Schönheit dieser Erinnerung an eine tote Prinzessin. Und als wir wortlos die Zeit dehnten und anhielten und wieder fliessen liessen – kam dieses vom Wasser reflektierte Strahlen und hüllte uns noch mehr ein als die Musik. Wir spielten weiter, schauten uns aber kurz an – ich glaube, er hat das gleiche gedacht wie ich. Zwei Tage später sass ich mit einem Kleineren an der selben Stelle, als die Sonne kurz vor dem Untergehen wieder ins Zimmer schien. Der Kleine wurde still, schaute um sich und in den Garten und sagte: „Der Teich ist in Gold getaucht.“ Und ich denke gleichzeitig, ganz überwältigt: wo schreib ich das auf? Wo ist ein Taschentuch für mich? Super, der Kleine hat sein Abschlusszeugnis in ästhetischer Erziehung praktisch in der Tasche… (Und ich mag den Racker genau so gern, wenn er sich beim Stundenwechsel dramatisch seinem Bruder entgegenschmeisst und ruft: „Endlich bist du da! Rette mich aus dieser Hölle!“)