Ich versuche, Stichpunkte für eine Moderation für den Kinderklaviersommer aufzuschreiben. Nach viel zu langen Recherchen finde ich heraus, was ich eh schon geahnt habe: die französische Klaviermusik zwischen 1895 und 1905 bietet Stoff für mehrere Dissertationen. Ganz vieles, was wir aufführen, befindet sich haargenau am berühmten Übergang zwischen Spätromantik und Moderne, genau auf der Brücke, die der Impressionismus so wunderbar bildet. Deshalb sind sie ein Genuss für Spieler und Zuhörer gleichermassen. Aber ich muss bedenken, dass ungefähr die Hälfte der Kinder Grundschüler ist und irgendwie altersgerecht informiert werden sollte.
Sehe ein, dass es zu komplex wäre, alles musikgeschichtlich einzuordnen. Schreibe einen Blogartikel über Harold Acton’s Biographie von Nancy Mitford, der viel zu bissig wird (wer ist der grössere Snob? Er? Sie? Oder vielleicht ich?!).
Jetzt habe ich eine gute Idee: ich schau mal, ob die Komponisten, die da für Kinder komponiert haben, selber Kinder hatten. Das wäre doch ein Bezug, mit dem meine Kinder was anfangen können. Super. Der Bleistift ist gezückt, aber ich schreibe immer langsamer, weil ich schon beim Überfliegen realisiere, dass die zu Tage tretenden Informationen eher unbrauchbar sind: Bizet hatte einen Sohn. Und einen anderen mit der Haushälterin seines Vaters. Fauré, der mit seinem herunterhängenden Schnurrbart für mich immer wie ein harmloses Walross aussieht, hatte zwei Kinder, aber zeitgleich eine Geliebte, für deren Tochter Dolly er die Dolly – Suite schrieb, die wir aufführen. Es gibt Spekulationen, dass diese Dolly auch seine Tochter ist – was nicht erstaunen würde, denn welches Kindchen bekommt zum ersten Geburtstag ein wunderbares vierhändiges Stück, und zu den folgenden auch? (Etwas verstörend ist auch, dass dieser Geliebten eine andere folgte, mit der er 24 Jahre zusammen war. Mein Gatte: „Warum hat er sie nicht geheiratet?“ Ich: „Er war ja schon verheiratet!“) Die Mutter dieser Dolly, Emma Bardac, brannte, kurz nachdem Fauré ihrer Tochter die Suite gewidmet hatte, mit Debussy durch. Mit dem sie eine andere Tochter bekam (der Debussy „Children’s Corner“ widmete). (Und nur am Rande: Emma Bardac war ihrerseits auch verheiratet. Also mit ihrem eigentlichen Mann.) Der einzige, der moralisch einwandfrei zu sein scheint, ist Ravel. Allerdings ist so extrem wenig über sein Privatleben bekannt, das er streng unter Verschluss hielt, dass es immer schon Gerüchte gab, dass er eben gar nicht an Frauen interessiert war. Er hatte also keine Kinder, aber dafür haufenweise Katzen, die die wahren Herrscher in seiner Villa waren. Das ist so ziemlich die einzig für Kinder brauchbare Information, die ich herausgefunden habe.
Ich bin fassungslos und starre auf meinen dürftig bekritzelten Notizblock. Ach du grüne Neune, was sind das für Verhältnisse.
Prokrastinationsmässig schreibe ich einen Blogartikel über Juli Zeh’s „Unterleuten“. Ein gescheiterter Versuch, mich mit deutscher Gegenwartsliteratur zu beschäftigen. Ich merke, dass ich schon wieder zu bissig werde (könnte mich aufregen, dass so was Literatur genannt wird. Veröffentlicht wird. Von einem angesehenen Verlag.) und lege ihn zu den übrigen Blogleichen.
(Noch mal neue Klammer: ich werde manchmal drauf angesprochen, dass mein Blog zu sehr eine heile Welt abbildet. Das stimmt. Aber ich habe ganz viele hässliche Leichen im Keller. Mit denen könnte ich langsam einen – natürlich anonymen – Grantlerblog beleben. Ich habe überhaupt viele Ideen für anonyme Blogs, in denen ich nach Herzenslust und unzensiert schreiben könnte. Dabei wäre der „Ich bin so verknallt in Ravel“ – Blog noch der harmloseste… Aber hier bin ich ja potentielle Klavierlehrerin für Eltern, die auf der Suche sind, und muss mich benehmen. Leider.)
Immer entmutigter, bringt mich das Internet dank der Suche „Debussy für Kinder“ auf Schülerseiten, die Hilfe für Referate bieten sollen. Wusste nicht, dass es so was gibt, bin aber hocherfreut, weil ich mir kindgerechte, leicht verständliche Informationen erhoffe. Beim Recherchieren war immer wieder die Rede davon, dass Debussy und Ravel zeitlebens Konkurrenten um den Platz des „grössten französischen Komponisten“ waren. Ich fürchte, Debussy war einflussreicher und impulsgebender, was die Fortentwicklung der Tonalität und Harmonik und Form betrifft. Aber Ravel berührt mich mehr mit seinen glitzernden, schillernden Klangwogen, und wenn ich die Wahl hätte, würde ich in meiner Freizeit lieber Ravel hören. Entsprechend sauer bin ich, als ich auf einer Lernspass – Kinderseite als ersten Satz lese: „Claude Debussy war der grösste französische Komponist.“ Das ist ja jetzt wohl zu vereinfacht ausgedrückt!
Im Kopf beginne ich, Ravel zu verteidigen und ein imaginäres Gegenüber zu überzeugen, dass er trotz Popularität und eventuell klitzekleiner, etwas simplerer Harmonik trotzdem eigentlich auch der grösste französische Komponist war. Weil er auch so viel besser aussah als Debussy. Und das ist doch ein echtes Argument, oder? Ich betrachte – nur ein paar Stunden lang – Bilder von Ravel, merke, dass ich immer noch ziemlich verschossen in ihn bin, weil er so elegant aussieht in seinen perfekten Dreiteilern (diese gepunktete Krawatte auf dem ersten Bild!!) und überhaupt, erlaube mir ein paar Tagträume einer Zeitreise – aber abgesehen von seinem Einsiedlertum, ich bin sicher viel grösser als er und würde mich blöd fühlen. Aber vielleicht würde er ein bisschen vierhändig spielen mit mir? Während seine Katzen auf dem Flügel herumturnen? Dann finde ich Bilder von ihm und Nijinsky, auch wieder sehr schick und elegant und noch mit einer Zigarette zwischen den langen Fingern, und erinnere mich an das sagenhafte „Daphnis et Chloé“ kürzlich im Philharmonie – Abo. Kurz mal nachgucken, ob man da wirklich zehn Schlagzeuger braucht, oder haben die Philharmoniker zu viel Geld? Und wenn ich schon die Seite offen habe, was gibt es da eigentlich noch für Aufnahmen?
Bin noch frustrierter, weil ich immer noch keine Ahnung habe, was ich im Kinderklaviersommer sagen soll.
Schreibe einen Blogartikel über „The Great Gatsby“, die grandioseste Neuentdeckung der letzten Wochen. Habe im Frühjahr endlich angefangen, Fitzgerald zu lesen und habe mich über richtig geniale Kurzgeschichten und „Tender is the Night“ zu diesem Meisterwerk herangepirscht. Merke aber bald, dass ich zu begeistert und letztlich sprachlos bin, um drüber zu schreiben. Warum kann man das, was einen aufregt, immer viel leichter in Worte fassen?
Zurück zum Thema. Recherchemässig höre ich mir noch mal Ravel’s eigene Aufnahme seiner „Pavane pour une infante défunte“ von 1922 an. Wunderbarerweise hat er das gleiche langsame Tempo wie mein Schüler und ich, wenn wir üben. Das heisst, wir würden uns sicher gleich bestens verstehen, wenn wir mal zusammen spielen könnten, also Monsieur Ravel und ich. Nur wir beide. In seinem Haus. Mit seinen Katzen. Hmmmm…..
(Fotos: Reserach Gate, Fondation Maurice Ravel, Classic FM, BBC)