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Umfangen und geborgen

Häuser waren für mich schon immer Persönlichkeiten. Ich erinnere mich an manche Gebäude, in denen ich als Kind aus und ein gegangen bin, wegen des Gefühls, das mich sofort eingehüllt hat, wenn ich die Schwelle überschritten hatte. Ein  typischer, einzigartiger und unbeschreiblicher Geruch oder ein dämmriger Flur, in den die Sonne ein bestimmtes Dreieck aus Licht warf sind für immer mit den Personen verbunden, die in diesen Häusern lebten. Eins gehörte untrennbar zum Anderen. Und selbst wenn die Menschen, die diese Häuser gebaut haben, schon lange zu Staub geworden sind, spürt man ihre Gegenwart in ihren Gemäuern. Manchmal, weil es ohnehin geschichtsbeladene Orte sind, die heute der Öffentlichkeit zugänglich sind; manchmal weht einen ein Hauch von früher an, ohne dass man irgendwas über das Gebäude weiss. Und genau so unerklärlich ist es, warum man sich in manchen Häusern spontan wohlfühlt und in anderen quasi immer über die Schulter schauen will, weil die Geister gar zu unsympathisch sind. Warum man manche Wohnungen ablehnt, auch wenn Lage und Preis in Ordnung wären (ich hab mal eine Wohnung besichtigt, in der ich nur gesträubte Haare hatte – die Maklerin pries sie an, als ob alles wunderbar wäre, und die Sonne schien, aber ich erfuhr erst danach und durch Zufall, dass eine verblutete Leiche eine Woche in dieser Wohnung gelegen hatte. Eine Woche!! Und das war zwei Monate vor der Besichtigung!) Und es gibt auch den seltsamen Fall, dass Häuser mit einer eigentlich unguten Geschichte eine positive Ausstrahlung haben können – da fragt man sich, ob wir mit unserem nur vorübergehenden Dasein Häusern unseren Stempel doch nicht so stark aufdrücken können, dass sie davon beeinflusst werden. Die Steine überdauern uns und sind vielleicht doch unabhängig von dem, was sich in ihnen abgespielt hat. Und die ursprünglich gute Idee, die jedem Bau vorangeht, ist vielleicht stärker als das, was sich dann darin abgespielt hat.

Ich suche grade etwas verkopft nach Argumenten, warum ich mich in einem Haus mit einer besonderen und seltsamen Geschichte so ausserordentlich wohl fühle. Denn anfangs wusste ich nichts über das Haus, in dem ich seit Monaten regelmässig aus und ein gehe. Ich kenne es schon seit Jahren von Besuchen und Essenseinladungen und fand es von der ersten Sekunde an unglaublich gemütlich und einladend. Es ist eine grosszügige, flache Villa im Dreissigerjahrestil in einem noch grosszügigeren Grundstück. Zur Strassenseite hin ist sie eher unscheinbar und fällt nicht weiter auf, aber zum Garten hin öffnet sie sich in einem ganz breit gezogenen Halbrund. Überhaupt fand ich den Grundriss immer leicht seltsam und undurchschaubar bei Besuchen. Inzwischen hab ich die grosse Haustour hinter mir und weiss mehr über das Gebäude, und da die Entwürfe und Zeichnungen in einem Wiener Architekturarchiv für jedermann einsehbar sind, erlaube ich mir, hier drüber zu schreiben in der Hoffnung, die Privatsphäre der Bewohner trotzdem zu wahren (immer diese Gratwanderung beim Blogschreiben!) Das eindrucksvolle Anwesen wurde von Lois Welzenbacher entworfen, einem österreichischen Architekten, der 1889 geboren wurde und seine Hauptschaffenszeit vor dem zweiten Weltkrieg hatte. Welzenbacher entwarf hauptsächlich Häuser für den alpinen Raum, und er liebte es, die Gebäude mit oft ungewöhnlichen Grundrissen organisch in die Landschaft einzufügen. Das Wasserburger Haus ist ganz typisch für seine Vorgehensweise: an der höchsten Stelle, von der Strasse her eher abweisend, zur Aussichtsseite hin grandios und offen. Das Haus hier steht an einem der höchsten Punkte Wasserburgs und bietet im Winter, wenn die Bäume kahl sind, eine unglaubliche Sicht auf den Fluss und alles, was sich an der anderen Seite darüber erhebt.

Ich mochte das Haus von Anfang an, weil ich eine Schwäche für farbige Fensterläden und überhaupt alte, gerundete Fenster und Fensterbänke habe. (Egal, welche Jahreszeit: ich sehe da immer Chancen für adventliche Dekoration mit schlichtem Tannengrün und Kerzen.) Und der Eingangsbereich ist grosszügig und gemütlich, wie eine Umarmung. Und die wunderschönen alten Dielen und die Schiebetür zum Wohnzimmer, in dem wir Klavier spielen, und die Terrassentüren neben dem Klavier, und die Holztreppe in den ersten Stock mit den unterschiedlich bemalten Stufen – alles strahlt eine Wärme, Geborgenheit und Gemütlichkeit aus, die moderne Häuser nie haben können.

Ende des letzten Winters fingen meine Bekannte und ich an, ernsthaft Klavierduo zu üben. Bei den ersten Proben war der Garten kahl und leer. Wenn ich kam, prasselte ein Feuer im Ofen, und wochenlang musste ich als erstes den Regenschirm ausschütteln und aufstellen. Nach der Regenzeit tauchten die ersten Tränenkrüglein büschelweise auf an der Terrassentür neben dem Flügel, auf dem ich immer spiele. Dann die Osterglocken und Tulpen. Dann kam der Frühsommertag, an dem wir zum ersten Mal die Türen offen liessen, weil es so angenehm war. Dann kam die Hitze, und an einem heissen Julimorgen, als ich auf dem kurzen Spaziergang schon fast verschmachtete, empfing mich das Haus kühl, schattig und winddurchweht: buchstäblich alle Türen waren offen, in alle Himmelsrichtungen. Aus dem parkähnlichen Garten kamen leichte Lüftchen, die Kugeln an einem der Kronleuchter wackelten im Wind und eine Amsel machte wirklich und wahrhaftig wiederholt einen Rhythmus aus unserem Brahms nach. Ich bin es überhaupt nicht gewöhnt, bei offenen Fenstern Musik zu machen, aber durch die Alleinlage des Gebäudes stört man keinen, und es ist eigentlich der reinste Luxus, so inmitten der Natur Klavier zu spielen. Und noch mehr als im  Winter hatte ich das Gefühl, dass die beiden riesigen Flügel wie Schiffe sind, an denen wir – weit voneinander entfernt – wie zwei (mehr oder weniger planvoll vorgehende…) Kapitäne sitzen und dass wir vielleicht, wenn es besonders schön läuft, irgendwann auf den Wogen unserer Musik runter in den Inn gleiten können und da weiter schwimmen…

Unser vielzitiertes und bei vielen Tassen Tee geplantes Hauskonzert wabert aber noch in unsicherer Ferne. Vor allem, weil meine Partnerin nach dem Klavierstudium noch was Vernünftiges studiert hat und schlicht und einfach keine Zeit zum Üben hat. Den Willen schon, und die Lust auch, aber ich verstehe ihr Zeitproblem absolut. Und dann, weil wir eben nicht nur üben… Sondern auch gern reden. Über das Haus zum Beispiel. Und da kam Erstaunliches raus – oder vielleicht doch nicht, bei einem Haus, das in den Dreissigerjahren gebaut wurde? Es wurde in Auftrag gegeben von einem Wasserburger Nazi – Oberfunktionär, der dann hier wohnte und auch Bürger empfing und so. Man kann sich vorstellen, dass hier wirklich haarsträubende Dinge besprochen wurden – aber mir sträuben sich die Haare nicht. Gar nicht. Der Architekt hat vielleicht so viel Gutes hier reingesteckt, dass die schlimme Zeit davon überdeckt wird. Und es wurde ja seither mit vielfältigem anderen Leben gefüllt, vielleicht hat das auch was für die Aura des Hauses getan.

Und jetzt machen wir auch noch Musik zur Aura – Optimierung, wenn wir nicht Tee trinken. Da die Haydn – Variationen, an denen wir zugegeben den grössten Spass haben, für meine Partnerin mit ihren kleinen Händen sehr schlecht liegen, hab ich sie aufgefordert, das nächste Stück vorzuschlagen. Nach kurzem Überlegen meinte sie: „Ravel, La Valse?“ Und ich entgegnete mit professioneller Miene: „Hm, ja, Ravel, warum nicht?“ (Und innerlich: „ja ja ja!! Soll ich die Noten besorgen? Wann fangen wir an? Welche Stimme soll ich üben? Können wir sofort jetzt gleich anfangen, bitte?“ Ich bin wirklich unschuldig an diesem Ravel!)

Fotos: Archiv für Baukunst und Austria – Forum; Häuser in Linz, Barbiano und Zell am See

Gi-Ga-Gack

Unser wunderschönes Kinderkonzert im Rahmen des Wasserburger Klaviersommers hat mich so glücklich gemacht wie lange nichts mehr. Es war mindestens wie Weihnachten und Geburtstag gleichzeitig, die Kinder so in Aktion zu sehen. Und schon in den Monaten vorher hatte ich das grösste Vergnügen, das perfekte Programm zusammenzustellen. Ich hatte völlig freie Hand und hab einfach ein super-ehrgeiziges Konzept vorgelegt, auch um zu zeigen, in welche Richtung es in Zukunft gehen darf: kein Kinderkram, sondern ein schönes Nachmittagskonzert, das sich ins hohe Niveau des Klaviersommers einfügt. Der einzige Nachteil: mit dem Motto „Frankreich um 1900“ haben wir die ganzen Highlights der vierhändigen Literatur schon verpulvert… Aber vielleicht kann ich das ein oder andere irgendwann wieder reinmogeln.

Ich finde es nicht selbstverständlich, dass jüngere Kinder ganze Suiten einwandfrei spielen. Ich war begeistert vom hohen Niveau der Beiträge und bin beeindruckt, was meine Kolleginnen in Haag und Rosenheim auf die Beine gestellt haben. Ohne das kleinste „das ist zu schwer, können wir nicht was anderes nehmen?“ Und erst dachte ich, das ist der eigentliche Nutzen des Klaviersommers – dass Kinder hochwertige Literatur kennenlernen, sich ganz sicher anstrengen müssen und schon daran wachsen, und dass sie sie, dank der Unterstützung durch die Studenten, auf professionellem Niveau aufführen können.

Aber – wie so oft – es gab noch eine Kirsche auf dem Sahnehäubchen: der vielzitierte soziale Aspekt des Musizierens kam eindrucksvoll zum Tragen. Es war wunderschön zu sehen, wie selbstbewusst die Kinder auf die sooo viel älteren Studenten aus aller Herren Länder zugingen, weil – sie waren ein Team, das zusammen am Klavier sitzt und sich die kostbaren Tasten auf zivilisierte Weise teilen muss. Eventuelle Sprachbarrieren wurden schnell nebensächlich, denn es fand die wunderbarste Art der nonverbalen Kommunikation statt, die man sich nur wünschen kann: Blicke, Gesten, zusammen Luftholen. Es war die beste Lektion fürs Leben, die man sich nur vorstellen kann. Schranken von Alter, Hautfarbe oder Sprache existieren nur im Kopf. Wenn es um eine Sache geht, für die alle brennen, ist man sich unglaublich nahe und tut alles, um den anderen mitzunehmen. Und: Kommunikation ist alles, egal auf welche Art.

Und wie lieb die Studenten unsere Kinder an die Hand genommen haben! Beim Applaus im ganz wörtlichen Sinn, und auch sonst mit ihrem geduldigen und gefühlvollen Spiel. Und es gab so viele nette Blickkontakte, die mehr sagten als tausend Worte.

Dank einer Organisationspanne bekamen die Kinder sowohl von mir als auch vom Klaviersommer – Team Schokolade. Ich denke, sie werden es überleben.

Konzerte in Gabersee sind für mich auch immer besonders nett, weil ich einfach durch den Garten rübergehen kann. Wenn es trocken ist, durch kniehohe Wiesen und vorbei an den Bienenhäusern; wenn es regnet, durch den duftenden, hohen Wald. Und dann ist man in dem schönen, gepflegten Gelände mit den hohen Bäumen, hört vielleicht den Kirchturm schlagen… Obwohl es eine Klinik ist, ist die Atmosphäre so friedlich und idyllisch. Und so war es auch, als ich nach dem Konzert heimging, schwer bepackt mit Geschenken, Blumen und einem französischen Picknickkorb inklusive Baguette und Cremant de Loire. Vor der Kirche sprang eine Schülerin mit ihrer kleinen Schwester herum. Die Schwester sauste zu mir, versucht, mich mit ihren dicken Kinderärmchen irgendwo zu umarmen – was schwer war wegen Geschenkkorb und so – und verkündete, dass ihre Schwester ihr „Gi-Ga-Gack“ beibringen würde und dass sie es mir im Herbst vorspielt. Und ich sagte, aus vollem Herzen, dass ich es kaum erwarten kann. Und das ist wahr. Denn: nicht jedes „Gi-Ga-Gack“ führt zu Ravel’s „Jeux d’eau“. Aber es gibt garantiert kein Jeux d’eau ohne ein Gi-Ga-Gack fünfzehn Jahre davor. Und das ist das eigentlich Tolle an unserem Beruf – dass es doch immer weiter geht. Dass es Hoffnung gibt für Totgesagte (wie: Konzerte, Live-Musik, die klassische Musik überhaupt). Und dass wir jeden Tag daran arbeiten können, dass das, was uns wichtig ist, lebendig bleibt.

Französische Verhältnisse

Ich versuche, Stichpunkte für eine Moderation für den Kinderklaviersommer aufzuschreiben. Nach viel zu langen Recherchen finde ich heraus, was ich eh schon geahnt habe: die französische Klaviermusik zwischen 1895 und 1905 bietet Stoff für mehrere Dissertationen. Ganz vieles, was wir aufführen, befindet sich haargenau am berühmten Übergang zwischen Spätromantik und Moderne, genau auf der Brücke, die der Impressionismus so wunderbar bildet. Deshalb sind sie ein Genuss für Spieler und Zuhörer gleichermassen. Aber ich muss bedenken, dass ungefähr die Hälfte der Kinder Grundschüler ist und irgendwie altersgerecht informiert werden sollte.

Sehe ein, dass es zu komplex wäre, alles musikgeschichtlich einzuordnen. Schreibe einen Blogartikel über Harold Acton’s Biographie von Nancy Mitford, der viel zu bissig wird (wer ist der grössere Snob? Er? Sie? Oder vielleicht ich?!).

Jetzt habe ich eine gute Idee: ich schau mal, ob die Komponisten, die da für Kinder komponiert haben, selber Kinder hatten. Das wäre doch ein Bezug, mit dem meine Kinder was anfangen können. Super. Der Bleistift ist gezückt, aber ich schreibe immer langsamer, weil ich schon beim Überfliegen realisiere, dass die zu Tage tretenden Informationen eher unbrauchbar sind: Bizet hatte einen Sohn. Und einen anderen mit der Haushälterin seines Vaters. Fauré, der mit seinem herunterhängenden Schnurrbart für mich immer wie ein harmloses Walross aussieht, hatte zwei Kinder, aber zeitgleich eine Geliebte, für deren Tochter Dolly er die Dolly – Suite schrieb, die wir aufführen. Es gibt Spekulationen, dass diese Dolly auch seine Tochter ist – was nicht erstaunen würde, denn welches Kindchen bekommt zum ersten Geburtstag ein wunderbares vierhändiges Stück, und zu den folgenden auch? (Etwas verstörend ist auch, dass dieser Geliebten eine andere folgte, mit der er 24 Jahre zusammen war. Mein Gatte: „Warum hat er sie nicht geheiratet?“ Ich: „Er war ja schon verheiratet!“) Die Mutter dieser Dolly, Emma Bardac, brannte, kurz nachdem Fauré ihrer Tochter die Suite gewidmet hatte, mit Debussy durch. Mit dem sie eine andere Tochter bekam (der Debussy „Children’s Corner“ widmete). (Und nur am Rande: Emma Bardac war ihrerseits auch verheiratet. Also mit ihrem eigentlichen Mann.) Der einzige, der moralisch einwandfrei zu sein scheint, ist Ravel. Allerdings ist so extrem wenig über sein Privatleben bekannt, das er streng unter Verschluss hielt, dass es immer schon Gerüchte gab, dass er eben gar nicht an Frauen interessiert war. Er hatte also keine Kinder, aber dafür haufenweise Katzen, die die wahren Herrscher in seiner Villa waren. Das ist so ziemlich die einzig für Kinder brauchbare Information, die ich herausgefunden habe.

Ich bin fassungslos und starre auf meinen dürftig bekritzelten Notizblock. Ach du grüne Neune, was sind das für Verhältnisse.

Prokrastinationsmässig schreibe ich einen Blogartikel über Juli Zeh’s „Unterleuten“. Ein gescheiterter Versuch, mich mit deutscher Gegenwartsliteratur zu beschäftigen. Ich merke, dass ich schon wieder zu bissig werde (könnte mich aufregen, dass so was Literatur genannt wird. Veröffentlicht wird. Von einem angesehenen Verlag.) und lege ihn zu den übrigen Blogleichen.

(Noch mal neue Klammer: ich werde manchmal drauf angesprochen, dass mein Blog zu sehr eine heile Welt abbildet. Das stimmt. Aber ich habe ganz viele hässliche Leichen im Keller. Mit denen könnte ich langsam einen – natürlich anonymen – Grantlerblog beleben. Ich habe überhaupt viele Ideen für anonyme Blogs, in denen ich nach Herzenslust und unzensiert schreiben könnte. Dabei wäre der „Ich bin so verknallt in Ravel“ – Blog noch der harmloseste… Aber hier bin ich ja potentielle Klavierlehrerin für Eltern, die auf der Suche sind, und muss mich benehmen. Leider.)

Immer entmutigter, bringt mich das Internet dank der Suche „Debussy für Kinder“ auf Schülerseiten, die Hilfe für Referate bieten sollen. Wusste nicht, dass es so was gibt, bin aber hocherfreut, weil ich mir kindgerechte, leicht verständliche Informationen erhoffe. Beim Recherchieren war immer wieder die Rede davon, dass Debussy und Ravel zeitlebens Konkurrenten um den Platz des „grössten französischen Komponisten“ waren. Ich fürchte, Debussy war einflussreicher und impulsgebender, was die Fortentwicklung der Tonalität und Harmonik und Form betrifft. Aber Ravel berührt mich mehr mit seinen glitzernden, schillernden Klangwogen, und wenn ich die Wahl hätte, würde ich in meiner Freizeit lieber Ravel hören. Entsprechend sauer bin ich, als ich auf einer Lernspass – Kinderseite als ersten Satz lese: „Claude Debussy war der grösste französische Komponist.“ Das ist ja jetzt wohl zu vereinfacht ausgedrückt!

Im Kopf beginne ich, Ravel zu verteidigen und ein imaginäres Gegenüber zu überzeugen, dass er trotz Popularität und eventuell klitzekleiner, etwas simplerer Harmonik trotzdem eigentlich auch der grösste französische Komponist war. Weil er auch so viel besser aussah als Debussy. Und das ist doch ein echtes Argument, oder? Ich betrachte – nur ein paar Stunden lang – Bilder von Ravel, merke, dass ich immer noch ziemlich verschossen in ihn bin, weil er so elegant aussieht in seinen perfekten Dreiteilern (diese gepunktete Krawatte auf dem ersten Bild!!) und überhaupt, erlaube mir ein paar Tagträume einer Zeitreise – aber abgesehen von seinem Einsiedlertum, ich bin sicher viel grösser als er und würde mich blöd fühlen. Aber vielleicht würde er ein bisschen vierhändig spielen mit mir? Während seine Katzen auf dem Flügel herumturnen? Dann finde ich Bilder von ihm und Nijinsky, auch wieder sehr schick und elegant und noch mit einer Zigarette zwischen den langen Fingern, und erinnere mich an das sagenhafte „Daphnis et Chloé“ kürzlich im Philharmonie – Abo. Kurz mal nachgucken, ob man da wirklich zehn Schlagzeuger braucht, oder haben die Philharmoniker zu viel Geld? Und wenn ich schon die Seite offen habe, was gibt es da eigentlich noch für Aufnahmen?

Bin noch frustrierter, weil ich immer noch keine Ahnung habe, was ich im Kinderklaviersommer sagen soll.

Schreibe einen Blogartikel über „The Great Gatsby“, die grandioseste Neuentdeckung der letzten Wochen. Habe im Frühjahr endlich angefangen, Fitzgerald zu lesen und habe mich über richtig geniale Kurzgeschichten und „Tender is the Night“ zu diesem Meisterwerk herangepirscht. Merke aber bald, dass ich zu begeistert und letztlich sprachlos bin, um drüber zu schreiben. Warum kann man das, was einen aufregt, immer viel leichter in Worte fassen?

Zurück zum Thema. Recherchemässig höre ich mir noch mal Ravel’s eigene Aufnahme seiner „Pavane pour une infante défunte“ von 1922 an. Wunderbarerweise hat er das gleiche langsame Tempo wie mein Schüler und ich, wenn wir üben. Das heisst, wir würden uns sicher gleich bestens verstehen, wenn wir mal zusammen spielen könnten, also Monsieur Ravel und ich. Nur wir beide. In seinem Haus. Mit seinen Katzen. Hmmmm…..

(Fotos: Reserach Gate, Fondation Maurice Ravel, Classic FM, BBC)

Unerwartet

Heute war der zweite Tag seit einem Monat, an dem ich morgens nicht als erstes turbomässig üben musste. Vorgestern hatte ich noch ein Konzert, bei dem ich viel gespielt habe und den Nachmittag bis unmittelbar davor mit Proben verbracht habe. Und zum ersten Mal in meiner Laufbahn hatte ich tatsächlich Schmerzen – mir taten die Fingerkuppen weh, was komplett hysterisch klingt, zumindest habe ich noch nie von solchen Beschwerden gehört, und die Unterarme. Was plausibler ist. Das Komische ist, dass ich bei Sololiteratur noch nie Probleme hatte, egal, wie viel ich geübt habe. Wahrscheinlich war es die Anstrengung, ein ganzes Orchester vorzutäuschen, kombiniert mit dem Frust, dass es doch nie so klingt, wie man es sich vorstellt, und daraus folgend einem unmässigen Kraftaufwand. Auf jeden Fall merkte ich beim Aufwachen: ich bin ausgelaugt und irgendwie entmutigt, mit nur noch schwach flackernden Akkus. Da gibt’s nur eins: es muss gechillt werden, auch wenn Montag morgen ist.

Also schleppte ich einen Stuhl zum Teich, zusammen mit hauchzartem chinesischem Tee (eine Begleiterscheinung, wenn man Zeugs für einen Klavierprofessor organisiert, der beruflich regelmässig in China zu tun hat – gestern hatten wir einen Besprechung wegen des Klaviersommers und er brachte mir drei wunderschöne Dosen mit verschiedenem Tee mit) und versenkte mich, eskapismusmässig, in die „Ilias“. Jetzt überholt ein Blogartikel den anderen, schon fertigen, aber – ich habe den grössten Spass daran, Homer zu lesen. Was ich nie erwartet hätte. Und ich bin bei allem grausamen Abschlachten oft berührt, wie poetisch Homer doch ist. Und deshalb lese ich weiter – manchmal ist es so arg, dass man unwillkürlich schneller liest und nicht so genau wissen will, aus welchem Winkel jener jetzt wieder von der Lanze durchbohrt wird und auch nicht, wo sie wieder austritt… Aber ich hab Feuer gefangen und will schon aus historischen Interesse alles lesen. Wobei ich ganz klar sagen muss: nötig ist das wirklich nicht. Auszüge würden reichen. Aber den legendären Schiffskatalog am Anfang sollte man sich mal geben… Und es ist immer wieder atemberaubend, wenn man bei allem Gemetzel auf eine Stelle trifft in der Art: „wie aufgeblühter Mohn, der vom Frühlingsregen schwer ist, neigte er den Kopf, und Nacht verhüllte seine Augen.“ (So ungefähr, das Buch liegt grad wo anders.)

Und wenn alle in den Staub stürzen und elend ums Leben kommen, erscheint das eigene Schicksal und das bisschen Klavierspielen sehr harmlos. Trotzdem musste ich mich aufraffen und mir gut zureden, den Frühlingsgarten mit den Akeleien, dem Kuckuck und den ersten zarten Libellen am Teich zu verlassen, mir ein Pausenbrot zu machen und eine frisch gebügelte Bluse anzuziehen. Montag ist immer ein furchtbar langer und lauter Tag. Aber ich wäre bereit dafür gewesen – nur mein Auto war es nicht. Wirklich und wahrhaftig, es streikte.

Ich hastete vor zur Werkstatt – kein Leihwagen heute, tut ihnen leid, und so kann ich definitiv nicht fahren, das müssen sie erst mal anschauen. Nach einem leichten Panikanfall – ich hab nur ein Mal in zehn Jahren den Unterricht abgesagt! – trottete ich heim. Anfangs zerbrach ich mir furchtbar den Kopf, wie ich den Tag noch retten kann. Aber langsam sickerte eine Art Erkenntnis durch: was, wenn es einfach nicht sein soll? Was, wenn die Götter vielleicht beschlossen haben, dass ich mehr als genug Musik hatte in den letzten Wochen und mal eine ausserplanmässige Pause machen darf? Wenn man so viel antikes Zeug liest, in dem die Götter ständig eingreifen, oder eben nicht, fängt man an, so zu denken… Vielleicht hatte Apollo ein Einsehen und hat ein bisschen an meinem Auto manipuliert, damit ich morgen wieder Freude am Spielen habe?

Als ich wieder zuhause war, hatte ich mich in mein Schicksal gefügt (war dann gar nicht sooo schwer) und rief in der Schule an. Und dann meinen Kollegen oben im Musiktrakt, damit er eventuelle verwaiste Schüler, die die Durchsage nicht mitbekommen haben, heimschickt. Er konnte sich nicht verkneifen, zu bemerken, dass mir diese Autopanne anscheinend nicht wahnsinnig leid tue…

Und dann sass ich wieder am Teich. Bin in der „Ilias“ ein ganzes Stück weitergekommen und habe im Lauf des Tages drei Schwertlilien beim Aufblühen zugeschaut. Habe aber auch den Rasen gemäht – ein bisschen puritanische Arbeitsmoral darf schon noch sein. Aber – ich danke der höheren Gewalt! Das war eine grandiose Idee!

…und eine Begleiterin für Prüfungen

Mein Neujahrsplan war ja, entspannt durch’s Jahr zu gehen. Bis jetzt hat das ganz gut geklappt – bis zur ersten Schulwoche nach den Osterferien. Eigentlich war ich erholt und hatte die Batterien gut aufgeladen. Aber gleich der erste Tag war ein Horror an Überstunden und Abendproben, und so blieb es die ganze Woche, bis der Spass am Freitag morgen ab zehn im Musikabitur kulminierte: ich hab begleitet, als wär’s mein einziger Job. Und diese Proben davor – stöhn. Die Mädchen wissen seit ungefähr zwölf Jahren, dass sie Abitur machen. Sie sind intelligent, liebenswert, tolle Musikerinnen. Man würde meinen, dass sie sich überhaupt gut organisieren können. Aber – grosse Augen – was, am Freitag ist Abitur? Könnten wir am Mittwoch mal proben?

Vom Organisationsstress abgesehen, war ich mal wieder schockiert, wie viel ich nicht weiss. Ich bilde mir ein, dass ich mich gut in der Kammermusik- und vor allem Violin – Literatur auskenne. Ich begleite seit fast dreissig Jahren, wurde schon vor dem eigenen Abitur an den Augsburger Schulen rumgereicht und hab im Abi neben dem eigenen Jahrgang noch Leute von anderen Schulen begleitet (so was wird heute übrigens überhaupt nicht mehr gemacht. Denn man muss sich ja aufs eigenen Spielen konzentrieren.) Ich habe über die Jahre konstant mit Geigern, einer Bratscherin, Cellisten konzertiert, die gängige Literatur rauf und runter. Dazu kam jahrelang Klaviertrio und Klarinettentrio, und in einer besonders glücklichen Phase die Zusammenarbeit mit einem Streichquartett und das riesige Vergnügen, die einschlägigen Werke von Schumann, Dvorak und Schubert aufzuführen. Seit ich unterrichte, begleite ich fortgeschrittene Schüler und angehende Studenten in Prüfungen und bei Wettbewerben. Deshalb dachte ich, dass ich mich langsam auskenne. Ich würde mir so wünschen, dass ich einfach mal ein bekanntes Stück vor die Nase gesetzt kriege und ganz cool sagen kann: klar, kein Problem, kenne ich, mache ich.

Die traurige Realität ist aber: ich kenne nur einen Bruchteil der Literatur. Auch wenn ich mich seit Jahrzehnten in diesem Feld tummele, ist es, als ob man eine Zehe in den Atlantik tauchen würde. Es ist kaum zu glauben, aber ständig tauchen Stücke auf, die ich nicht kenne.

Ich erinnere mich, wie ich kurz vor dem eigenen Abi eine Krise kriegte, weil ich einen Trompeter bei der Hindemith – Sonate begleiten sollte und mir das zeitmässig über den Kopf wuchs. Mein Lehrer, der Trompetenlehrer und die diversen Lehrer in der Schule bestärkten mich alle, sie doch zu lernen – es wäre vernünftig, weil man sie so oft spielen würde im Leben und immer brauchen kann.

Kein Mensch wollte seither diese Sonate mit mir spielen.

Dafür hab ich die für Flöte, Geige, Klarinette und Bratsche noch üben dürfen.

Und wenn ich mir so anschaue, was die Leute heutzutage in Prüfungen spielen, frage ich mich, wo die gängigen Stücke bleiben. Ist es auf einmal verpönt, Bekanntes zu spielen? Muss man in den entlegensten Winkeln der Musikgeschichte rumstöbern, um sich irgendwie abzusetzen? Mit den Pflichtstücken kommt man nicht drum rum, und der Lehrplan bietet da auch seltsame Besonderheiten und (zu Recht?) vergessene Kleinode. Und schon wieder der Trugschluss, dass man denkt, irgendwann muss man doch alle Pflichtstücke kennen… Irgendwann wird es hoffentlich der Fall sein, aber bei der Fülle kann das dauern. Und es sind Stücke dabei, die man sich nicht freiwillig einfach so mal draufschafft, falls sie eines Tages verlangt werden.

Als ich mir die Haare raufte, was ich da wieder alles üben darf, hab ich eine Liste für dieses Jahr erstellt. Mit dem heimlichen Vorsatz, mich irgendwann auf die geschätzten zweihundert Stücke zu beschränken, die ich schon kenne. Und wer was anderes spielen will, braucht einen anderen Begleiter. Dieses Jahr durfte ich seit Herbst neu üben:

Mozart Violinkonzert G – Dur

Mozart Violinsonate G – Dur

Rieding Violinkonzert G – Dur

Brahms Klarinettensonate Es- Dur op. 120

Niels Gade, Fantasiestücke für Klarinette und Klavier

Truillard, Serenade

Reger, Gavotte aus „Hausmusik“

Beriot, Scènes de Ballet

Mozart, Adagio E – Dur

Beethoven, Frühlingssonate

Smetana, Aus meiner Heimat

Mozart, Konzert für Flöte und Harfe

Briccialdi, Allegro romantico für Flöte

Bruch, Violinkonzert g-moll

Bloch, Nigun

Mozart, Sonate B – Dur KV 378

(Die Frühlingssonate kannte ich als einziges. Als einer der Prüfer im Abi meinte: „Mann, das ist aber ganz schön schwer für Klavier“, hätte ich fast hysterisch gelacht – das war die einfachste Übung des Tages!)

Und das ist noch ohne die Additums – Prüfung im Juni…

Es nimmt einfach kein Ende. An manchen Tagen finde ich es wunderschön und lebensspendend, ständig so tolle Sachen spielen zu dürfen. Extra – Bonus ist, dass ich technisch in guter Form bin, weil ich ständig viel üben muss. Und die Begegnung mit den vielen talentierten jungen Musikern ist eine Belohnung in sich selbst und bringt einem auch viel Energie und Schwung für andere Projekte.

Aber an manchen Tagen bin ich verzagt, dass ich Tantalus – mässig mein Leben lang dicke, fette Klavierauszüge üben muss.

Der Gatte, der selber als Geiger Musikabitur gemacht hat (mit schönen, begleiterfreundlichen Mainstream – Werken) und eine enzyklopädische Kenntnis der Violinliteratur hat, staunt auch allenthalben, was da nicht alles ausgegraben wird und auf welche schmalen, selten betretenen Pfade ich mich begeben muss. Kürzlich versuchte er beim Essen eine Prognose, was von den ganzen abwegigen Werken noch auf mich zukommen könnte in nächster Zeit: er tippt auf Bruch, Schottische Fantasie, und Dvorak, Violinkonzert. Ich liess die Gabel sinken. Mir verging wirklich der Appetit. Mir macht es nichts aus, wenn er beim Essen von seinen Operationen erzählt: Teilresektionen, Entnahme kompletter Organe wegen zu viel Tumorlast, Eiter, nekrotisches Gewebe oder Blutungen, die man kaum unter Kontrolle bekommt, sind Alltag für mich und kein Grund, mit weniger Genuss weiterzuessen.  Aber wirklich, die Schottische Fantasie?! Da werde ich weiss um die Nase…

A morbid longing for the picturesque

Am Wochenende war ich auf einer kleinen, feinen Fortbildung für Klavierlehrer, die bis zur letzten Sekunde interessant war. Oft dümpelt grade die letzte Stunde von solchen Tagen mühsam vor sich hin, begleitet von kaum verhohlenen Blicken auf die Uhr bis zur erlösenden Frage, ob man nicht eine halbe Stunde früher aufhören will. Hier hatten wir sogar überzogen, da es im kollegialen Austausch so viele Fragen zu klären gab. Das Bereichernde war, dass es, anders als bei Fortbildungen von Verlagen oder den sehr wissenschaftlich ausgerichteten an der Hochschule, ausschliesslich um Fragen und Problemstellungen im Unterrichtsalltag ging. Und egal, wie lange man schon unterrichtet: man kann immer eine neue Erkenntnis, eine unbekannte Idee für sich und seine Schüler mitnehmen und startet beschwingter in die neue Unterrichtswoche.

Fast der ganze Vormittag war reserviert für die Vermittlung der Grundlagen im Anfangsunterricht. Als unverzichtbare Elemente wurden bearbeitet: Haltung, Notenlesen, Rhythmus, Technik. Am Rande gestreift wurde die Ausbildung der Klangvorstellung, die Wichtigkeit, auf Klangschönheit hinzuweisen und zu achten. Ich glaube, das war das einzige Mal an diesem Tag, dass der Begriff „Schönheit“ erwähnt wurde.

Dabei ist er für mich so elementar! Im Anfangsunterricht, bei den Fortgeschrittenen, überhaupt beim Klavierspielen, und im ganzen Leben! Wir diskutierten so detailliert, dass vor dem Mittagessen keine Zeit mehr blieb, sich entsprechend einzuklinken, und danach waren wir bei anderen Themen. Und wenn man eher abwegige Ideen hat, fragt man sich ja selber, ob diese Fragen von allgemeinem Interesse sind oder die anderen innerlich stöhnen, wenn man jetzt nachhakt. Und natürlich hat man Zweifel, wie man diesen so schwer zu definierenden Begriff überhaupt unterbringen will. Dabei bin ich überzeugt, dass alle von uns unterschreiben würden, dass Musik mit Schönheit zu tun hat. Und dass es letztlich das Ziel von diesem ganzen Notenlesen, der richtigen Haltung, der rhythmischen Sicherheit ist, Schönheit in die Seelen der Zuhörer zu transportieren. Deshalb sollte eine gewisse ästhetische Erziehung von Anfang an zum Unterricht gehören.

Vielleicht scheut man sich auch davor, das anzusprechen, weil es nicht nur enorm schwer ist, zu sagen, was Schönheit eigentlich ist, sondern weil es auch sehr subjektiv ist. Für mich kann ein barbarischer, grausiger Bartok eine gewisse Art von haarsträubender Schönheit haben (denn die gibt es schon auch, oder?) – in der Runde gab es aber eine Kollegin, die den „Mikrokosmos“ kategorisch und eindeutig ablehnt und ihren Schülern nie so was vorsetzen würde. Es wäre sinnlos, darüber zu diskutieren. Aber mit Schülern kann und muss man diskutieren, es gehört zur Erziehung dazu, sie im Dialog mit gegensätzlichen Meinungen etwas zu provozieren und so einen eigenen Standpunkt finden zu lassen. Und grade weil das, was wir machen, unsichtbar ist, ist es wichtig, Bilder vor seinem inneren Auge zu haben.

Ich hab im Lauf meines Lebens mit Erstaunen festgestellt, dass es Menschen gibt, die weniger schönheitssüchtig sind als ich, oder sogar überhaupt nicht. (Was man nicht aller lernt!) Auf eine gewisse Art beneide ich Menschen, die gar kein Interesse daran haben, hinter die Dinge zu sehen und nach ihrer Geschichte zu fragen, oder sich zu fragen, wie man gewisse Bilder und Farben und Gefühle verknüpfen kann. Ich fürchte, diese Realisten und Pragmatiker haben es leichter im Leben und kommen schneller dahin, wo sie hinwollen. Ich bewundere sie, weil ich mich immer zu viel mit der „morbiden Sehnsucht nach dem Malerischen“, wie Donna Tartt es so wunderschön ausdrückt, aufhalte. Trotzdem ist und bleibt sie mir wertvoll, diese Sehnsucht, und ich versuche, auch den aller – realistischsten Pragmatikern unter meinen Schülern ein bisschen von diesem Zauberpulver mitzugeben. Denn auch das ist nur Erziehungssache. Manche müssen sich vielleicht mehr anstrengen, um Bilder zu sehen – andere erzählen mir spontan und ungebremst, was sie fühlen, oder malen es auf bis zur nächsten Stunde, oder schreiben Gedichte darüber.

Abgesehen von allem anderen, was wir den Schülern mitgeben wollen, ist es einfach schön, ihnen die Augen zu öffnen für Momente – seien es musikalische oder optische in der ganz normalen, sichtbaren Welt. Wie die wertvollen Sekunden, wenn der See hinter unserem Grundstück im Abendlicht aufleuchtet. Man sieht das nur im März, wenn die Bäume noch kahl sind und die Sonne in einem gewissen Winkel steht. Plötzlich fängt das Klavierzimmer an, gelb und golden zu strahlen. Lange, warme Sonnenstrahlen und Reflexe vom Wasser zittern hinter uns über die Wand, und egal, wie oft ich es schon erlebt habe: es ist immer ein magischer Moment. Kürzlich passierte es, quasi als Zugabe von oben, als ich mit einem älteren Schüler Ravels „Pavane pour une infante défunte“ übte, die vierhändige Fassung für den Klaviersommer. Er ist sehr weit und einfach schon ein richtiger Musiker, und wir verloren uns in der zarten Traurigkeit und zeitlosen Schönheit dieser Erinnerung an eine tote Prinzessin. Und als wir wortlos die Zeit dehnten und anhielten und wieder fliessen liessen – kam dieses vom Wasser reflektierte Strahlen und hüllte uns noch mehr ein als die Musik. Wir spielten weiter, schauten uns aber kurz an – ich glaube, er hat das gleiche gedacht wie ich. Zwei Tage später sass ich mit einem Kleineren an der selben Stelle, als die Sonne kurz vor dem Untergehen wieder ins Zimmer schien. Der Kleine wurde still, schaute um sich und in den Garten und sagte: „Der Teich ist in Gold getaucht.“ Und ich denke gleichzeitig, ganz überwältigt: wo schreib ich das auf? Wo ist ein Taschentuch für mich? Super, der Kleine hat sein Abschlusszeugnis in ästhetischer Erziehung praktisch in der Tasche… (Und ich mag den Racker genau so gern, wenn er sich beim Stundenwechsel dramatisch seinem Bruder entgegenschmeisst und ruft: „Endlich bist du da! Rette mich aus dieser Hölle!“)

Ein Begleiter fürs Leben

Im alljährlichen Pandämonium in unseren normalerweise heiligen Hallen – dem Tag der offenen Tür für die Viertklässler – gab es trotz der enormen Geräuschkulisse und dem endlosen Herumwuseln einen richtig schönen Moment: unser Fachbereichsleiter erklärte den Eltern in einer kurzen Ansprache, dass sie ihren Kindern einen Begleiter fürs Leben geben, wenn sie sich für den musischen Zweig entscheiden. Sollte das Kind dann mal in Rostock oder Stralsund studieren (ich musste grinsen über die Auswahl der Städte – offensichtlich kann man damit richtig gut Ängste schüren im Erdinger Landkreis!), kann das Kind in den Unichor oder ins Orchester gehen und wird nie allein sein. Das ist doch mal ein Argument… Hat mir wirklich gefallen, und ich werde mir angewöhnen, auch auf diese Art auf die angenehmen Langzeitfolgen von Musikunterricht hinzuweisen. Denn es ist wahr: man macht seinem Kind damit ein Geschenk fürs ganze Leben. Das ist natürlich mit allem so, was man lernt, sei es eine Sprache oder Naturwissenschaften, und es gibt ganz definitiv das gefürchtete Zeitfenster, in dem dieses Lernen einfach stattfinden sollte. Aber Musik hat noch einen besonderen emotionalen und sozialen Aspekt, der unschätzbar ist.

Und es gäbe wunderbare „Erfolgsgeschichten“, die wir erzählen können, Geschichten, in denen Kinder, deren Eltern sich den Klavierunterricht vielleicht nicht leisten könnten, dank des kostenlosen Instrumentalunterrichts am bayerischen Gymnasium erfolgreich und mit Freude einen von Musik begleiteten Lebensweg einschlagen. Wie meine Schülerin, die jetzt Abitur macht – sie hat freiwillig fürs letzte Halbjahr Messiaen, Poulenc und Bartok gewählt und wir haben den Spass unseres Lebens dabei, uns für die unglaublich unterschiedlichen Stücke Szenarien, Ausstattung und sogar Düfte auszumalen. Wenn man mal so drüber steht, dass die genialen Kinderchen sich im 20. Jahrhundert so gut auskennen, hat man Freiräume, um tiefer zu graben und tiefer einzutauchen. Weil sie auch gern und leicht schreibt, hab ich ihr vorgeschlagen, über jede Szene ein Gedicht zu schreiben – bin sehr gespannt… Und ich bin stolz ohne Ende, wenn sie den Messiaen so zart und transzendent wie einen Hauch spielt, zehnstimmige Griffe hin oder her, und beim Bartok so barbarisch reinlangt, als gäbe es kein Morgen. Das Mädchen hat seinen Begleiter, keine Frage.

Während mein Kollege redete, sah ich in meinem romantischen, museumsbesuchsüberfüllten Geist natürlich alle Arten von Verkörperungen dieses unsichtbaren Begleiters, die schutzengelartig neben den Kindern schwebten: für die Kleine mit dem halb offenstehenden Mündchen eine Marmornymphe mit Schmetterlingsflügeln, die ich in Rom gesehen habe, für den Pimpf im Fussballtrikot ein hehrer Apollo aus dem Musée d’Orsay, und für das Mädchen mit den langen blonden Haaren, die selber wie ein Engelchen aussieht, eine Klimtfrau, die auf einer Leier spielt… Wie schön, zu wissen, dass sie nicht allein durchs Leben gehen müssen.

Und dass dieser Begleiter immer da sein wird, auch nach dem Studium im nicht – bayerischen Exil und noch viel länger danach. Ich bin jetzt in dieser seltsamen Phase von eher passiver Rezeption angekommen, die ich bei anderen älteren Menschen immer unverständlich und befremdlich fand: ich höre mit allergrösstem Genuss Streichquartette. Abends auf dem Sofa liegend, ohne was anderes zu tun. Ich starre an die Decke oder mal in den Garten, aber ich konzentriere mich völlig auf die Musik und versinke komplett darin. Ich würde es nicht überleben, abends auch noch Klaviermusik zu hören, aber dieses ganz andere Genre, diese wunderbare Vielstimmigkeit und die herzzerreissenden letzten Wahrheiten in den späten Beethoven – oder den Schubert – Quartetten sind im Moment genau richtig. Ich möchte einfach nur pure Substanz und Inhalt. Keine Unterhaltung oder Zerstreuung. Und dann mache ich die CD auch bewusst wieder aus. Und selbst wenn wieder Stille ist – ich bin nicht allein. Mein unsichtbarer Begleiter schwebt noch über dem Sofa…

Und wer weiss, vielleicht geht es so bis zum letzten Atemzug? Kürzlich hörte ich auf dem Weg nach Erding Dvorak’s Klavierquintett, zum ungefähr zehnten Mal in zwei Wochen, und war trotzdem so entrückt und der Welt enthoben (ich weiss ja nicht, was diese Diskussionen übers Handy am Steuer immer sollen – ich finde Musikhören wesentlich gefährlicher), dass ich etwas zu knapp auf die B12 einbog und fast von einem Laster erfasst wurde, auf dem – DVORAK stand. Nach dem ersten Schreck fand ich das richtig gelungen. Was gäbe es Beruhigenderes, als auf Wogen von Dvorak und durch Dvorak ins Jenseits zu schweben? Und im Lebenslauf macht es sich auch gut.

Seither fordere ich das Schicksal heraus, zur Zeit besonders gern mit dem langsamen Satz aus dem  F-Dur – Quartett, aber: ich treffe nur auf sehr alltägliche Laster. Lettl, Gartner, Prunster. Da bremse ich dann doch lieber. Bin schon ein Snob, was mein Ableben anlangt.

Sommerphantasien

Der Inn ist zugefroren – das gab es noch nie, seit wir hier wohnen. Der Seitenarm schon, in ganz kalten Jahren, aber dass wirklich der ganze breite Strom wie eine grau – blaue Eismeerlandschaft vor einem liegt, still und unbeweglich, das ist eine Seltenheit. Am Rand türmen sich kleine aufgebrochene Eisschollen, eine Miniatur – Antarktis. Was für ein Geschenk, so ein kalter, langer Winter! Ich lebe auf und fühle mich pudelwohl und möchte ganz im Hier und Jetzt sein und das viele Weiss und Grau geniessen.

Aber statt von Spitzbergen zu träumen, muss ich mich mit dem Sommer beschäftigen. Und ausgerechnet seiner heissesten Zeit. Kurz vor Weihnachten riefen mich die Organisatoren des Wasserburger Klaviersommers an, dass sie nächstes Jahr ein Projekt mit Kindern anbieten wollen, und am letzten Tag der Weihnachtsferien trafen wir uns. Ich lief im leichten Schneetreiben los, doch die Flocken tanzten im Licht der Strassenlampen immer dichter und ich kam völlig weiss am Treffpunkt an. Eingeschneit, aber glücklich – manchmal ist so eine Viertelstunde das reinste Geschenk. Und ich wollte gar nicht an die traditionell furchtbar heissen Tage Anfang August denken, an die versagenden Klimaanlagen, an das Publikum, das versucht, sich mit Programmheften Kühlung zuzufächeln… Das ist für mich dann das echte Überlebenstraining, nicht die Polarlandschaft jetzt grade. Darauf freue ich mich nicht besonders – aber auf die Musik um so mehr. Und um die ging es jetzt. Mein Stapel mit vierhändiger französischer Literatur lag zwischen uns auf dem Tisch, und bei einer Kanne Tee überlegten wir, wie wir alles angehen. Denn alles war sehr spontan und schnell entstanden: die Kaufmanns fragten mich, ob es in der Region Klavierschüler gäbe, die jeweils mit einem Studenten zusammen vierhändige Stücke einstudieren und in einem Konzert aufführen wollten, und ich schlug spontan französische Literatur vor, weil es da haufenweise wunderbare Stücke für jede Altersklasse gibt. Dann stellte sich raus, dass für nächstes Jahr ohnehin der „Karneval der Tiere“ geplant ist in einem Konzert und ausserdem Michel Béroff wieder einen Klavierabend geben und unterrichten wird – kurzum, wir hatten innerhalb von Minuten ein  herrliches französisches Motto gefunden. Und die flirrigen, transparenten Stücke von Debussy und Ravel sind eigentlich das einzige, was man bei der Augusthitze aushalten kann.

Und es sind die reinsten Juwelen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie oft französische Komponisten für Freunde und deren Kinder hochwertige Musik geschrieben haben. Da gibt es keine Kompromisse oder Zugeständnisse, sondern einfach nur gute Musik von Anfang an. Musik, die Kindern zusagt und von den Älteren auch gut gespielt werden kann – die aber gleichzeitig so spannend und gelungen ist, dass sie sich ihren Platz in den Konzertsälen von Anfang an bewahrt hat. Fauré’s „Dolly“ – Suite oder Bizet’s „Jeux d’enfants“ sind fester Bestandteil aller Klavierduos, ebenso wie Debussy’s „Petite Suite“ oder Ravel’s „Ma mère l’oye“ – die beiden letzten sind ursprünglich für Klavierduo geschrieben, aber von den Komponisten selber orchestriert worden. Als besonderen Leckerbissen fand ich noch eine vierhändige Fassung von Ravel’s „Pavane pour une infante défunte“ – für einen allein ist das etwas anspruchsvoll, weil es vor Dezimen nur so strotzt, aber für zwei Leute liegt alles ganz wunderbar.

Ich finde die Idee wunderbar, Kinder mit einem Profi an ihrer Seite solche Musik entdecken zu lassen. Und ich weiss schon jetzt: sie werden es toll finden, mit so hervorragenden Studenten zusammen zu spielen. Und was die sagen oder vorschlagen, wird das Evangelium sein – da verspreche ich mir viel davon für die jeweilige Weiterentwicklung meiner Schüler. Ich kann mir jahrelang den Mund fusselig reden – das geht wohl jedem Lehrer oder Eltern so. Kommt aber ein besonderer Einfluss von aussen, ein Mensch aus einer anderen Welt, den man vielleicht auch noch toll findet, weil er oder sie atemberaubend spielt oder ein glitzerndes Konzertkleid trägt, dann läuft alles wie von selbst. Und das ist für mich das eigentlich Erstrebenswerte an diesem Projekt: dass wir nicht nur immer im eigenen Saft schmoren, sondern wertvolle Impulse von aussen bekommen.

Die Begeisterung bei meinen eigenen Schülern ist gross und ich habe schon eine Reihe von festen Anmeldungen. Die Resonanz bei den Kollegen, mit denen ich Kontakt aufgenommen habe, ist noch verhalten. Vielleicht ist alles noch in zu weiter Ferne? Trotzdem möchte ich auch hier noch mal ausdrücklich Werbung machen – es ist eine tolle Chance für unsere Schüler und man muss keine Berührungsängste haben. Das Angebot richtet sich auch ausdrücklich an völlig normale Kinder, nicht nur die Superschüler. Wir haben eine herrlich lange Vorlaufzeit, und es gibt Stücke für jedes Alter. Der Probentag ist am 4. August, das Konzert am 5. August im Festsaal Gabersee. Es gibt 12 Plätze – also los! Wer mitmachen möchte oder Fragen zur Literatur hat, kann sich gerne bei mir melden.

Entspannt

Nach den anstrengendsten Weihnachtsferien überhaupt stehe ich am ersten Schultag mit meinem Kollegen vor den Klavierzimmern und merke, wie ich ruhiger werde, weil alles vertraut und vorhersehbar ist. Der schwarze Schiefer, der genialerweise als Bodenbelag für unsere Schule gewählt wurde, strotzt, wie immer im Winter, vor weissen Salzflecken und Salzlachen – nicht mein Problem, stelle ich entspannt fest. Gleich werden zwölf Kinder nacheinander zu mir kommen und mich mit Fragen bestürmen – aber ich muss keinen füttern, und wir tun nur Klavierspielen und sonst nichts, und sie kommen nach einem vorhersehbaren Zeitplan und vorhersehbar vorbereitet und vor allem: gehen auch wieder. Keine Überraschungen, keine Änderungen in letzter Minute – Mann, tut das gut, wieder in der Arbeit zu sein!

„Und, was hast du vor für heute, wie willst du anfangen?“

Ich muss nicht lang überlegen und sage spontan. „Entspannt.“

Matthias grinst bis über beide Ohren.

„Doch, echt, ganz entspannt. Ich entspanne jetzt hier ein bisschen bis halb sieben, und dann fahr ich gemütlich heim und entspanne da auf dem Sofa weiter.“

So eine Einstellung ist nicht gerade typisch für mich am ersten Schultag. Aber die ersten Tage des nagelneuen Jahrs waren schon so kräftezehrend – obwohl ich frei hatte und meistens zuhause war! – dass ich einsehen musste, dass es so nicht weitergehen kann. Wirklich nicht. Ich wundere mich selber, woher auf einmal diese neue Einstellung kommt. Wahrscheinlich war ich ein, zwei Mal zu knapp am Durchdrehen und es ist einfach eine Botschaft von ganz innen, dass ich so nicht durchs neue Jahr komme.

Deshalb, spontan und ohne viel Überlegen, mein Wort fürs neue Jahr: entspannt.

Mal sehen, welche Kräfte es freisetzen wird. Ich denke, viel mehr und belastbarere, als wenn ich so sinnlos weiterpowere wie im Herbst.

Der einzige, der an dem Tag durchdreht, ist mein Auto. Der Hausmeister ist offensichtlich nicht dazu gekommen, alle Parkplätze zu räumen und ich hab mich mittags mit einem etwas mulmigen Gefühl auf einen im Tiefschnee stellen müssen. Bin grade noch weggekommen, was gut ist, da ich wahrscheinlich die letzte in der Schule war und nicht gewusst hätte, wo ich wen zum Anschieben finde. Aber auch das hab ich (relativ) entspannt gemeistert. Unglaublich, wie sehr einen ein Tag mit sinnvoller Beschäftigung wieder erdet und beruhigt. Vielleicht läuft was falsch, wenn ich zum Entspannen in die Arbeit gehe – aber so ist es grade, und ich bin aufrichtig dankbar, dass ich jeden Tag wieder meine Mitte und innere Ruhe finden kann, indem ich einfach unterrichte.

Ableger

P1080710Obwohl ich noch gar nicht lange in Wasserburg wohne, kann ich verschiedenen Arten von Ablegern beim Wachsen zuschauen. Kleine Erdbeerkinder an ihren langen Fäden oder dekorative Minirosetten an der Hauswurz sind willkommen, während vieles andere im Garten nicht unbedingt sein müsste. Aber genau das ist in der Überzahl, wie das halt so ist… Besonders nett ist die besondere Art von „Ablegern“, die inzwischen als ganz kleine Schüler zu mir kommen: Geschwister meiner Schüler. Manche sind schon etwas älter und kommen als Ersatz sozusagen, wenn die grosse Schwester ein Schuljahr im Ausland verbringt. Manchmal muss ich mir da die Augen reiben, weil sie einfach wie eine Miniversion der älteren Schwester aussehen und ich beim Unterrichten manches déja-vu habe.

Ganz speziell ist es, wenn kleine Kindchen zu mir kommen, die ich quasi schon vor der Geburt kannte. In den acht Jahren hier habe ich mehrere Schwangerschaften von Schülermüttern mitbekommen, hab sie, wenn sie schon rund und kugelig während der Klavierstunde warteten, mit Erdbeeren und Aprikosen gefüttert, damit das Kindchen gut gedeiht und es ihnen auch gut geht, hab Stunden nach der Geburt von den Geschwistern in der Klavierstunde schon das erste Foto auf dem Smartphone gezeigt bekommen und die passenden Glückwunschkarten zur Geburt ausgewählt – kurzum, fast
P1080531tantenmässig nah das ganze freudige Geschehen mitbekommen. Jetzt sind die kleinen Ablegerchen fünf und sechs und haben schon ihr erstens Jahr Klavierunterricht hinter sich. Es gäbe noch einen, der sofort wollte, wenn man ihn liesse, aber er ist erst kniehoch. Er schiesst immer ans Klavier, entert mit einem Elan und auf allen vieren den Klavierstuhl, dass er fast vorne wieder runterkugelt, und will unweigerlich immer „Fuchs du hast die Gans gestohlen“ spielen (= ich spiele, er spielt ganz taktsicher ein Ostinato, das ich ihm zeige), das er lauthals und sicher mitkräht. Dieser Kleine kam beim Sommerkonzert während eines Beitrags wortlos zu mir, während ich an der Seite stand, nahm mit seiner kleinen klebrigen Hand meine und blieb brav lauschend so stehen. So viel braver als sonst… Als wäre ihm klar, dass heute schon Klaviertag ist, aber nicht der passende für „Fuchs du hast die Gans“. Möglicherweise fängt er auch irgendwann mit Unterricht an. Es ist nett zu sehen, welche Kreise die Mundpropaganda zieht, wer befreundet ist oder Nachbarn – das ist ja auch eine Art von Ableger. Mit längeren Fäden, wie bei den Erdbeeren. Aber diese ganz nahen Ableger, die direkt aus der Mutter wachsen, das ist für mich was ganz Schönes.

Und abgesehen von der emotionalen Verbundenheit spart es auch Zeit und Arbeitsabläufe: man kennt sich, hat alle Kontaktdaten, ich kenne meistens das Klavier der Familie, die Noten sind auch schon vorhanden – man kann gleich loslegen, ohne viel reden zu müssen. Alle Versuche, die Familien zu einem anderen Instrument zu überreden, sind vergeblich. Ich weiss nicht, ob es so toll ist, in einem Haus zu wohnen, in dem alle Kinder Klavier spielen ( an manchen Tagen ganz sicher nicht!).

Immerhin weiss ich, was auf mich zukommt und wie clever der Nachwuchs ist. Kürzlich hab ich mit einem Sechsjährigen und seinem vierjährigen Bruder Noten – Memory gespielt, und irgendwann stöhnte der Ältere: „Mann, Sie lassen uns immer gewinnen, das ist witzlos!“ Und ich musste der Ehrlichkeit halber sagen: „Ich lass euch nicht gewinnen, ich kann’s mir einfach nicht merken.“ „Wie ich beim Minusrechnen?“ „Ja, wahrscheinlich.“ Offensichtlich hatte ich sein Mitgefühl, denn in der nächsten Runde machte er mich mit unübersehbarem Augenrollen, Kopfnicken und unauffällig, aber krampfhaft abgespreiztem kleinen Finger auf ein paar Kartenpaare aufmerksam und half mir, nicht ganz so haushoch zu unterliegen. So unterstützen wir uns gegenseitig bei unseren Schwächen.