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Wie man neue Schüler findet

Passend zum Schuljahresbeginn zwei (wahrscheinlich nur in der Kleinstadt geltende) Tipps, wie man an neue Schüler kommt:

DSCF83841. Rausgehen In der grössten Julihitze schwamm ich arglos mitten in einem See, extra ein paar Kilometer vor der Haustür, damit ich keine Schüler oder Bekannten treffe. Dass das Vorhaben missglückt was, merkte ich daran, dass eine Frau auf mich zu schwamm, wirklich mitten im See, und mir zurief: „Hallo Frau Sommerer, XY mein Name, kann ich meine Tochter noch bei Ihnen zum Unterricht anmelden?“ Ich war so perplex, dass ich nur antworten konnte, sie solle mich anrufen, wenn wir wieder angezogen sind. Und woher sie überhaupt wisse, wer ich bin…

2. Zermürben Als ich mir vor sieben Jahren meinen Namen erheiratete, hatte ich keine Ahnung, dass es in unserer kleinen Stadt noch eine Familie mit dem gleichen Namen gibt, die aber nicht mit uns verwandt ist. Ich hatte auch die ganze Zeit keine Ahnung, dass die armen Leute seither ständig wegen Klavierunterricht angerufen werden. Bis die eigene Tochter eines Tages den Wunsch äusserte, jetzt auch Klavier zu lernen – und die Mutter sich sagte: da weiss ich, wen ich anrufen kann. Und mir erzählte, dass sie jahrelang ohne mein Wissen meine Sekretärin gespielt hat. Entschuldigung!

Bei der Klavierbauerin

DSCF8367Kürzlich habe ich eine Schülerin zum Klavieraussuchen begleitet. Wir fuhren, wie man das so macht, in ein grosses, alteingesessenes Klaviergeschäft in der Stadt. Schon von aussen strahlte es Gediegenheit aus. Die Fassade gepflegt und sauber, die Fenster, hinter denen die wertvollen Instrumente glänzten, gross und makellos durchsichtig. Auch innen hatte man das Gefühl, einen besonderen Bereich zu betreten, in dem man nicht alltägliche und wahrscheinlich fürs Leben einmalige Geschäfte macht. Ein Teppichboden dämpfte unsere Schritte, die Instrumente waren staub- und dapserfrei und standen in grosszügigen Abständen in den verschiedenen Räumen. Der Inhaber kümmerte sich wirklich vorbildlich um uns, aber ich bemerkte, wie ich innerlich immer mehr schrumpfte. Im Gespräch fielen so viele Typenbezeichnungen und Abkürzungen, die mir überhaupt nichts sagten, dass ich mich kurz fragte, ob ich in einem Autohaus sei – und Angst hatte, als Klavierlehrerein nicht für voll genommen zu werden, weil ich keine dieser Kürzel für asiatische Instrumente oder die einzelnen Modelle und ihre Vorgänger kannte. Tatsächlich hatte ich irgendwie das Gefühl, „aufzufliegen“, auch vor meiner Schülerin. Es half auch nichts, dass ich beim Anspielen der Klaviere möglicherweise zeigen konnte, dass ich doch weiss, wo oben und unten ist. Und in der erhofften Preiskategorie war einfach nichts Passendes dabei. Es war eher ernüchternd, zu sehen, wie wenig Klavier man für viel Geld bekommt.

DSCF8365Trotzdem war meine Schülerin fest entschlossen, jetzt, genau jetzt Nägel mit Köpfen zu machen und eins der gesehenen Instrumente zu mieten. Natürlich freue ich mich, wenn jemand so entschlossen aufs Ganze gehen will. Aber für sie, für ihre Hände und ihre Persönlichkeit, konnte ich mir guten Gewissens keins der Klaviere vorstellen. Bevor sie zurückrufen und sich für ein Mietinstrument festlegen konnte, hatte ich die plötzliche Eingebung, kurz auf der Seite meiner geschätzten Klavierbauerin zu schauen, die immer wieder Instrumente in Kommission verkauft. Und da war es: ein deutsches Klavier von 1910, zu einem erstaunlichen Preis. Ich rief sie an und fragte, ob aus ihrer Sicht alles in Ordnung wäre mit dem Klavier. Sie, ganz Hamburgerin: klar, sonst würde sie es ja nicht verkaufen. Ich vertraue ihr blind – sie ist der erste Mensch, den ich wirklich freiwillig und ohne ungute Gefühle ans Innere meines Flügels lasse. Sie hat mit ihrem Stimmen wahre Wunder bewirkt und eine Reibungsoptimierung durchgeführt, die meinen Flügel um Jahre verjüngt hat (und mir das trügerische Gefühl gibt, eine ganz tolle Pianistin zu sein…). Für mich war die Sache in dem Augenblick erledigt, und zwar zur vollsten Zufriedenheit.

Aber ganz unbesehen sollte der Kauf doch nicht über die Bühne gehen. Also pilgerte ich mit meiner Schülerin in Frau Sohnemanns Werkstatt, etwa eine halbe Stunde östlich von Wasserburg. Es war ein wunderbarer Hochsommertag. Der strahlende Himmel wölbte sich über gelben Getreidefeldern, wir hatten Sommerkleider an und zumindest ich hatte ein unerwartetes Ferienaufbruchsgefühl, als wir da in den menschenleeren wilden Osten fuhren. Ich dachte immer, ich wohne ländlich, aber es gibt noch eine Steigerung… Und sie ist unglaublich idyllisch und landschaftlich reizvoll.

DSCF8366Die Werkstatt ist in einem Bauernhof, der in Alleinlage mitten in den Feldern thront. Neben dem Eingang schmiegt sich ein hoher, mit Früchten übervoller Aprikosenbaum an die Hausecke. Die grosse, oben abgerundete Terrassentür stand offen, als wir ankamen, und ganze Teppiche von Sonnenlicht fielen auf den Boden der Werkstatt. Obwohl alle Fenster offenstanden, umfing uns der ungewohnt süsse Geruch der Lacke. Das wird auch der Duft bleiben, der meine Erinnerung an diesen Tag begleitet – und den denkwürdigen Moment, als wir DAS Klavier zum ersten Mal sahen und ich nach den ersten Tönen wusste: das ist es. Von meiner Seite war es Liebe auf den ersten Blick. Wenn ich Platz hätte, würde ich es sofort nehmen. So was Schönes und Kostbares! Elfenbeintasten und Schellack – Politur, eine Jugendstilschrift zum Niederknien, und vor allem der optimale Anschlag für meine Schülerin. Ein ganz wunderbares Tastengefühl und ein herrlicher weicher Klang, den alle Asiaten der Welt nicht hinkriegen würden. Und: es hat zu uns gesprochen. Eindeutig. Ich glaube gar, es hat auf uns gewartet. (Als wir wenig später die unglaubliche und für hier zu persönliche Geschichte hörten, die sich in diesen Tagen noch um dieses Klavier ereignete, waren wir beide davon überzeugt, dass wir es genau in dem DSCF8364Moment finden mussten.) Es ist das grösste Vergnügen, auf diesem Klavier Schubert zu spielen, und das tat ich, ermuntert von Frau Sohnemann, die nebenbei fortfuhr, auf ihrer Werkbank Hämmer abzuziehen. Und ich fühlte mich so frei, obwohl die Türen offenstanden und ich vielleicht jemand stören könnte – so ganz anders als in dem gediegenen Geschäft, das mich direkt eingeschüchtert hat. Hier stand ein grosser Strauss Gartenblumen, die Sommerwärme wehte um uns, es war noch keine einzige Typenbezeichung gefallen und ich fühlte mich geborgen in dem Bewusstsein, dass es der Klavierbauerin ein Anliegen ist, Menschen mit dem genau passenden Instrument zusammenzubringen und zu beglücken. Was für ein schöner Vormittag!

Hitzefrei?

DSCF8351Hitzefrei? Nicht für mich. Leider. Es ist kaum zu fassen, aber meine Schüler tauchen einfach auf. Alle 44. Bei 36 Grad. Und so konsequent, dass ich einen schon gefragt habe: „Gehst du denn nie schwimmen?“ „Doch, jetzt gleich danach.“ Hm. Anscheinend bin mehr ich es, die hitzefrei bräuchte… Und es ist die Woche nach unserem Sommerkonzert (auch bei 36 Grad – alle tauchten auf, wirklich wörtlich: alle in Sonntagskleidung, aber viele noch mit nassen Haaren, direkt aus dem Wasser. Wie ich. Ich musste mich förmlich zwingen, aus dem Simssee zu krabbeln, um pünktlich da zu sein. Wegen Vorbild und so…). Nach wochenlangem diszipliniertem Üben und Polieren der immer gleichen Stücke hatte ich schon ein bisschen auf die eine oder andere Absage spekuliert. Aber jeder kommt, und mit einem Elan, der mich staunen lässt.

Manche müssen über das Konzerterlebnis oder ihr Leben überhaupt reden. Eine Kleinere, deren erstes Vorspiel es war, schaute mich ehrlich erstaunt an, als sie erzählte, dass ihr Herz beim Klavierspielen ganz fest geschlagen hatte. Das hat mich richtig berührt, diese Verwunderung über ihren eigenen Körper, und dass sie es mir gegenüber so in Worte fassen konnte. Und dass es nicht gewertet wurde von ihr – es war erstaunliches Herzklopfen, aber ohne negative Konnotationen wie Angst, Lampenfieber, Vergessen, wie das Stück überhaupt geht… Eine unglaubliche Art von Unschuld. Ich sagte ihr, dass das so sein kann beim Klavierspielen und dass es ein Zeichen dafür ist, dass man ganz lebendig ist. Ich wünsche ihr von Herzen, dass ihr diese Unschuld lange erhalten bleibt und sie nicht durch ihr Umfeld mitkriegt, dass solche Reaktionen was Unangenehmes sind, die einen möglicherweise vom Spielen abhalten.

Oder die Zwölfjährige, die ihre Noten vergessen hat, weil sie nachts um vier noch geübt hat. Nach dem Konzert. Warum sie nachts um vier übt? Weil sie nicht schlafen kann. Wegen eines Jungen. Und was ist das für ein Junge, macht er sie unglücklich? Nein, eher im Gegenteil… Ach.

Alle kommen, und alle sind wild auf neue Nahrung, endlich andere Stücke, darauf, wieder was Neues unter den Fingern zu haben. Und so ist es trotz Hitze eine ganz intensive und verantwortungsvolle Woche für mich, in der ich gut überlegen muss, was die einzelnen jetzt brauchen und vor allem: ob sie nach diesen drei letzten Schulwochen gut alleingelassen werden können mit den Stücken. Also sitze ich in den frühen kühlen Morgenstunden vor dem Regal auf dem Boden, umgeben von Notenstapeln, und freue mich total über den Reichtum an Klavierliteratur und die Möglichkeiten, die vor uns liegen. Und geniesse es danach, früh durch die schattigen Gassen der Altstadt zu gehen, einen Strauss leuchtender Kornblumen zu kaufen, einen hervorragenden Weisswein und sahnigen weissen Käse dazu. Feriengefühle im Alltag…

P.S.: Bin ich erleichtert – immerhin eine Schülerin hat ähnliche Regungen wie ich. Buchstäblich während ich diesen Artikel schrieb, kam eine Mail von einer erwachsenen Schülerin: „Liebe Frau Sommerer/ am Sommersten, krieg ich diese Woche hitzefrei? War nur im See, habe kaum geübt…“ Na also!

Fastfood oder Bioladen

DSCF6256Kürzlich fiel mir ein altes Arbeitszeugnis in die Hände, das durch die persönlichen und individuellen Formulierungen schon fast historischen Wert hat und für mich viel aussagekräftiger ist als die inzwischen üblichen „qualifizierten Arbeitszeugnisse“. In seinem väterlich-wohlwollenden und etwas blumigen Stil spüre ich direkt die Persönlichkeit meines ehemaligen Musikschulleiters, der über mich schrieb: „sie förderte auch die bescheidene Begabung, ohne sich geschmacklich anzubiedern.“ Ich musste damals schmunzeln, und ich tue es jetzt auch – aber mit leisem Bedauern. Denn ich fürchte, meine hehren Ideale von vor fünfzehn Jahren haben sich durch den Berufsalltag ziemlich abgeschliffen, und wenn ich als Klavierlehrerin überleben will, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mich viel stärker nach dem Geschmack meiner Schüler zu richten, als das damals noch der Fall war.

Diese erste Stelle an einer grossen Musikschule trat ich frisch vom Studium aus an, im Gepäck die ganze Literatur, die wir im Methodikunterricht mit den einzelnen begabten Gastschülern an der Hochschule verwendet hatten: seriöse und anspruchsvolle Schulwerke und von sehr früh an Originalliteratur von Bach, Leopold Mozart, Türk. Casella, Bartok, Kabalewski und Gubaidulina waren für unsere Schüler vertraute und auch beliebte Namen. Die „15 portraits d’enfants d’Auguste Renoir“ von Jean Francaix waren ein Standard zum Vierhändigspielen (kurzer Exkurs: die Einstudierung von fünf dieser wunderschönen Stücke für mein diesjähriges Sommerkonzert hat mich etliche graue Haare gekostet…).

Was für ein ehrgeiziges Projekt diese Art der Literaturwahl war, ging mir gleich im ersten Jahr  auf, als ich in ständige Berührung mit sozusagen „normal begabten“ Kindern kam. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern soll bedeuten, dass uns im Elfenbeinturm der Hochschule nicht wirklich bewusst war, dass es Kinder gibt, die nicht täglich und freiwillig üben und die eventuell auch aus Elternhäusern kommen, in denen klassische Musik eine Randerscheinung ist. Es war ausgerechnet an dieser Musikschule, von der ich das nette Zeugnis habe, dass ich zum ersten Mal aufmerksam wurde auf Pamela Wedgwood’s „Jazzin‘ about“. Die Lehrerin, von der ich die Schüler übernommen hatte, verwendete es anscheinend gerne, und ich verstand schnell, warum: im Gegensatz zu Casella und Konsorten war das eine Tonsprache, die die Schüler unmittelbar ansprach, und die wirklich gut und instruktiv geschriebenen Stücke liessen sich schnell lernen und machten in den Konzerten wesentlich mehr Eindruck als die klassische Moderne. Ich sah ein bisschen die Gefahr, dass diese leichten Stücke mit Instantbelohnung die Schüler „verderben“ würden für richtiges und konzentriertes Arbeiten. Doch der Alltag lehrte mich, dass es ohne Belohnungen und Kompromisse dieser Art nur äusserst zäh vorangehen würde, und so wurden die Stücke aus „Jazzin‘ about“ fester und beliebter Bestandteil der Unterrichtstage und der Konzerte.

Und jetzt, nach fünfzehn Jahren? Bin ich froh und dankbar, wenn meine Schüler bereit sind, sich mit so anspruchsvollen polyphonen Stücken wie den erwähnten überhaupt abzugeben. Viele kapitulieren wegen der rhythmischen Vertracktheiten oder der Tatsache, dass die linke Hand meistens sehr eigenständig agiert. Und um solche Schüler bei Laune zu halten, habe ich inzwischen noch leichtere, noch gefälligere Jazz- oder Popstücke gefunden. Und verwende sie auch regelmässig… Bartoks „Mikrokosmos“, Prokofieffs „Musique d’enfants“ op. 65, das wunderbare op. 39 von Kabalewski fristen ein Schattendasein und werden höchstens im Rahmen eines Deals herausgezogen: der Einaudi wird im Konzert nur gespielt, wenn du davor den Kabalewski spielst. (Ich muss leider zugeben, dass ich zu solchen erpresserischen Methoden greifen muss.) Und das völlig abgegriffene und sehr geschätzte Bärenreiter Piano-Album „Frühe Moderne“, das, voll von Aufzeichnungen und Anmerkungen, damals unser täglich Brot war, verwende ich heute höchst selten. Wenn, dann für Leute, die Musikabitur oder eine Aufnahmeprüfung anstreben. Die Wahl der Klavierschulen spiegelt auch diese bedauerliche Trendwende: früher habe ich durch die Bank die „Russische Klavierschule“ anschaffen lassen und auch durchgepaukt. Heute ist es für mich die schwerste und anspruchvollste Schule auf dem Markt, und ich habe mir angewöhnt, meine Schüler erst ein paar Wochen kennenzulernen, um einschätzen zu können, ob sie mit diesem Werk überhaupt überleben würden. Und ich kenne und nutze auch die ganzen Alternativen, von leichter bis ganz leicht und in vielen kleinen Schritten…

Und das führt zu der grossen, berühmten Frage, in der oft der gruselige Begriff „Schülermaterial“ auftaucht: ist die Generation, die wir jetzt unterrichten, wirklich so unkonzentriert, uninteressiert, unfähig zu anstrengender und ausdauernder Arbeit? Oder liegt es an uns Lehrern? Die sogenannte „iGeneration“, die nach 2000 geborenen, wächst ohne Zweifel noch mal ganz anders auf als die Generation davor, die einfach „nur“ ins Computerzeitalter geboren war. Die Möglichkeiten der Wissensbeschaffung und – aneignung sind so radikal anders als nie zuvor. So vieles findet virtuell statt, so vieles muss man gar nicht mehr anfassen. Seien es Noten, Bücher, CDs, Konzertkarten – das meiste ist unsichtbar und sofort verfügbar. Und es ist unbestreitbar schwerer, dieser Generation ein Bach-Präludium beizubringen. Trotz der ganzen schnell verfügbaren Hilfsmittel, auf die sie zurückgreifen könnten.

Trotzdem bin ich überzeugt, dass diese Schülergeneration nicht „schlechter“ ist als die davor. Liest man pädagogische Literatur, bekommt man oft den Eindruck, dass die Schüler, die aktuell unterrichtet werden, viel weniger wissbegierig und fleissig sind als noch die eigene Generation – oder die um 1900 oder um 1750. Und bekanntlich klagten schon die alten Römer über die Jugend von heute… Es ist eher unsere Aufgabe als Lehrer, nicht in nostalgischen Betrachtungen und Bedauern zu versinken, sondern zu überlegen, wie wir unter veränderten Bedingungen das Interesse der Kinder wecken können. Eventuell ihre Lust auf das wirkliche, anfassbare und nicht virtuelle Leben neu entfachen können, falls sie wirklich schon so weit abgedriftet sein sollten. Oder die Lust am Lernen, Begreifen, Selbermachen – und die Tatsache, dass es die schönste Belohnung für die Mühen ist, wenn man sich in einem Stück ganz verlieren kann und stolz darauf sein kann, es gemeistert zu haben. Und sollte es nötig sein, gehört ein gewisses Entgegenkommen in der Literaturauswahl für mich inzwischen dazu. Und mir ist es lieber, die Vorschläge kommen von mir und haben noch einigermassen einen Lerneffekt, als dass es irgendwelche zweifelhaften, aus dem Netz runtergeladenen und auf zerknitterten Seiten angebrachten aktuellen Popstücke in dilettantischen Arrangements sind – auf diese Art kann ich doch noch etwas steuern, in welche Richtung sich der Unterricht bewegt. Und sicherstellen, dass trotz gelegentlichen Fastfoods die vollwertige und hochwertige Ernährung gewährleistet bleibt. Eventuell finden sich Querverbindungen zu ganz alten Stücken, und es gibt reizvolle Kombinationen. Oder ein „uraltes“ Stück, das sich jahrzehntelang im Unterricht bewährt hat, wird ein neues Lieblingsstück… Man muss immer bedenken, dass für die Kinder vieles ja „das erste Mal“ ist. Sie sind unvoreingenommener, als wir denken. Wie sollen sie die Welt kennenlernen, wenn wir ihnen nicht helfen? Oft kommt es nur auf die richtige Art der Präsentation an. Dann ist eine Sonatine von Khatchaturian so enorm spannend wie der neueste Einaudi…

Hier eine kleine Liste von bewährter und guter Literatur für Durststrecken (oder jede Woche…), geordnet nach Schwierigkeit:

Daniel Hellbach, die verschiedenen Bände von „Easy Pop“ etc., Acanthus Verlag

Pamela Wedgwood, „Jazzin‘ about“ (verschiedene Bände), Faber Music

Ludovico Einaudi, The Piano Collection

Philip Glass, The Piano Collection, beide Wise Publications

(veröffentlicht in Pianonews 5/2014 )

 

 

Die Tapferen

DSCF8093Bei meinem Vorspielabend im Gymnasium ergab sich etwas, das ich noch nie erlebt habe: alle Jungen kniffen. Teils mit den umständlichsten Ausreden über bisher nie erwähnte Aktivitäten am Montagabend, teils immerhin mit der ehrlichen Aussage, Angst zu haben. Was soll ich da machen – ich will und kann niemand zwingen.

Von meinen zwanzig Mädchen sagte mindestens die Hälfte, dass sie auch Angst haben, es aber trotzdem machen.

Und wie schön sie gespielt haben! Ich bin immer so stolz und glücklich, wenn sie derartig über sich hinauswachsen. Man braucht ein Publikum, um zu erfahren, wozu man wirklich fähig ist. Und viele waren wirklich noch mal viel, viel besser, als ich geahnt habe. Der Anlass war auch feierlicher und schöner als die normalen Vorspiele in der Schule – das ist Pflicht und wie Schulaufgabe, aber oft wird nicht all zu viel Herz hineingelegt. Das war jetzt eigentlich die grösste Überraschung: wie gefühlvoll und ausdrucksvoll sie doch gestalten können. Und wie sie sich voll und ganz einbringen, in ihrer widersprüchlichen pubertären Art: eine Elfe mit langen blonden Haaren und einem zarten weissen Häkeltop traktierte den Flügel, dass der Deckel nur so wackelte. Und die ganz Toughe in der schwarzen Lederjacke und der abgerissenen Jeans spielte eine so gefühlvolle, empfindsame Mondscheinsonate, dass man sie in einem anderen Aufzug schnurstracks in einen Jane – Austen – Film hätte setzen können.

Und diese Haltung „ich hab Angst, ich mach’s trotzdem“: ich bin überzeugt, dass ohne diesen spezifisch weiblichen Mut die Menschheit längst ausgestorben wäre. Hut ab!

Die Freuden, ein russisches Schülerkonzert vorzubereiten

2Die politische Lage in der Ukraine motiviert einen zur Zeit nicht unbedingt, aber: ich kann allen KollegInnen ein russisches Schülerkonzert nur empfehlen. Selten hatten wir so viel Vergnügen und Spass wie in den letzten Monaten. Das liegt zum einen an der einfach hervorragenden und unglaublich vielfältigen Schülerliteratur, die einem zur Verfügung steht. Und dann wundere ich mich wieder, wie sehr ein klares Konzept alle vereint und veranlasst, sich voll und ganz einzubringen. Als wäre es Ehrensache, bei diesem Konzert dabei zu sein.

Nachdem wir im letzten Sommerkonzert so viel Einaudi und Tiersen hören durften, dass es für zwei Jahre reicht, beschloss ich, meine Schüler auf diplomatische / leicht manipulative Weise auf den Weg der Tugend zurückzuführen, indem ich ihnen ein aufregendes, unbekanntes Motto fürs nächste Konzert präsentierte: wir spielen nur russische Musik! Was wirklich rührend ist: jeder findet es toll, dabeizusein, und bis jetzt hat tatsächlich noch niemand bemerkt, Boris_Klavdievich_Kabalevsky,_Dmitri_Kabalevsky,_Elena_Kabalevsky__St__Petersburg,_1909dass keine leichten, aber beeindruckend klingenden Jazzstücke dabei sind. Fast komme ich mir schlecht vor, weil ich die Unschuld und Begeisterungsfähigkeit meiner Schüler derartig ausnutze und sie wie Lämmchen in die Richtung traben, in der ich sie haben will. Aber da muss ich durch – die Schüler leiden definitiv nicht. Ganz im Gegenteil: ich habe den Eindruck, dass das Gesamtkonzept ihnen gefällt und für den Zusammenhalt übers Musizieren hinaus wichtig ist. Jeder spielt was Russisches, keiner wird bevorzugt oder benachteiligt.

Prokofiev1Und die Stücke machen einfach Spass. Nach endlosem und akribischen Listenschreiben habe ich meine Schüler mit russischer Literatur bombardiert. Schon die ganzen letzten Wochen lernen sie Stücke und Komponisten kennen, von denen sie zum Teil noch nie gehört haben. Und ich bin begeistert von der endlosen Fülle an pädagogischer Literatur: buchstäblich kein einziges Stück habe ich doppelt vergeben und erspare mir dadurch auch den Stress, in ein paar Wochen vielleicht freundschaftsgefährdend auslosen zu müssen, wer es jetzt im Konzert spielen darf.  Jeder Schüler spielt auch Stücke querbeet und kann dann das liebste auswählen. Der Hintergedanke: die meisten stammen aus bestimmten Zyklen von Tschaikowsky, Kabalewski, Prokofieff oder Tcherepnin, und wenn alles so aufgeht, wie ich mir das vorstelle, wird das Programm wohlgeordnete und beeindruckende Blöcke von einzelnen Komponisten enthalten. Und es war kaum Arbeit für mich.

Was mich wirklich beeindruckt, ist die Unvoreingenommenheit und Aufgeschlossenheit meiner Kinderchen. Keiner stellt sich an, keiner sagt, dass er Lampenfieber hat und nur vorspielen kann, wenn er seinen Lieblingskomponisten spielen darf, keiner scheut die Arbeit, was Neues kennenzulernen. Ganz im Gegenteil. Ich finde es mal wieder Wahnsinn, wie gern und bereitwillig Heranwachsende die Welt erkunden und wie wenig Vorurteile sie gegen Musik des frühen 20. Jahrhunderts haben. Wie viel Freude sie sogar daran haben, wenn es mal richtig schräg klingen darf! Davon kann ich mir echt ein Stück abgucken. Je weniger Lebenszeit ich habe, desto schneller denke ich in Kosten – Nutzen-Rechnungen: lohnt sich das? Was bringt es mir? Was hab ich davon? Die Kinder schmeissen sich einfach rein und spielen. Unglaublich.

ShostakovichWir haben alle viel Freude an diesem Projekt. Die Schüler geben mir ständig Rückmeldung, wie gut ihnen dieses oder jenes Stück gefällt. Ich freue mich und muss aufpassen, dass ich nicht zu sehr grinse, wenn mir ein Schüler, zu dem ich nach Hause komme, sagt, dass er das Stück nur mit russischer Pelzmütze spielen kann – und sich seine quicklebendige Katze schnappt und sie mit dem Bauch und schlapp herunterhängenden Pfoten auf seinen Kopf legt (sie hat es stoisch über sich ergehen lassen – die Familie hat sechs Kinder…). Und ich freue mich ständig über den unerschöpflichen Reichtum an hochwertiger pädagogischer Literatur. Für ein italienisches oder norwegisches Konzert müsste man sich enorm engagieren, und möglicherweise wäre es schnell vorbei. Im russischen Vorspiel kann vom kleinsten Anfänger bis zum Abiturient jeder teilnehmen, es gibt haufenweise Alternativen und auch viel Vierhändiges – das reinste Schlaraffenland.

(Bildquellen: Kandinsky: wassilykandinsky.net. Kabalewski mit Vater und Schwester: wikipedia. Prokofieff: musicweb. Schostakowitsch: madwereitnotformusic.tumblr.com)

Jedem seine Sonate

DSCF7928Kürzlich habe ich mir in Salzburg eine lange hellblaue Strickjacke mit Zopfmuster gekauft und greife ständig danach – morgens zum Zeitunglesen über dem Schlafanzug, zum Unterrichten, abends auf dem Sofa… Es liegt nicht nur daran, dass sie kuschelig ist, sondern dass ich die klare, helle Farbe so mag. Die sich zur Zeit auch draussen spiegelt in dieser herrlich glitzernden Schneelandschaft, wenn der blaue Himmel drüber strahlt. Es ist klirrend kalt, aber ich gehe trotzdem jeden Tag spazieren. Irgendwie brauche ich nach dem Winter diese hellen Farben und das viele Licht, mit dem wir grade verwöhnt werden. Und wie es aussieht, sind sogar die lilanen Zeiten im Schreibzimmer vorbei – ich habe genug von dunkelroten Pullis und lila Wänden, möchte Helligkeit und Eindeutigkeit um mich. War tatsächlich im Baumarkt und denke über eine Farbe namens Mandelcreme nach…

Und, wie so oft, schlägt sich dieser Wunsch nach einem neuen Aufbruch und dem Abstreifen von alten Häuten auch musikalisch nieder. Gemäss meinem neuen Jahresmotto „Weiterkommen“ überfiel mich die Lust auf eine (vermeintlich) ganz neue Beethovensonate. Jedes Alter, jedes neue Stadium im Leben braucht seine eigene Beethovensonate, oder? Und wenn es nur das Neuerwachen der Lebensgeister nach einem Winter ist… Es gibt für jede Situation die geeignete Sonate. Aus Respekt vor seinem grossartigen Werk habe ich bisher nur die frühen und mittleren Sonaten von Beethoven gespielt. Also aufgeführt. Der wenig schicke Zustand meines zweiten Bands der Sonaten – ausgebleicht und viel heller als der erste, zerfleddert und bald am Auseinanderfallen – beweist aber, dass ich mich übemässig wesentlich mehr bei den späteren Sonaten aufgehalten habe. Dass ich sie noch niemand vorgespielt habe, zeigt vielleicht einen gewissen Optimismus, was meine Lebenserwartung betrifft. Ich hab mich eingehend mit op. 109 und 110 beschäftigt, würde sie auch wahnsinnig gern sofort spielen, denke aber gleichzeitig, dass es ihnen gut tut, noch ein paar Jahr(zehnt)e zu schmoren.

DSCF7931Jetzt dachte ich, was Sportliches und Bewegungsfreudiges muss her, in einer hellen Tonart, klar, gutgelaunt und energiegeladen: die Waldsteinsonate. Sie fasziniert mich schon immer, weil sie alles in sich hat, was Beethoven auszeichnet: ein unglaublich edles zweites Thema, ein wildes und drängendes erstes, fast sportliche Passagen übers gesamte Klavier, die einfach nur Spass machen und in denen man sich richtig austoben kann – was will man mehr? Als ich anfing zu spielen, wurde ich allerdings schnell stutzig. Alles lief zu gut, fühlte sich an wie Repertoire, das nur aufgewärmt werden muss. Aber ich bildete mir ein, dass ich die Sonate noch nie wirklich studiert hätte, nur so gespielt. Als selbst der berüchtigte Triller im letzten Satz gelang, kam es mir immer seltsamer vor. Warum konnte ich sie? Ich hatte sie garantiert nie im Konzert gehört. Habe auch keine Aufnahme. Ich grübelte, ob einer meiner Mitstudenten sie vielleicht ständig gespielt hatte – mir fiel auch keiner ein. Aber meine Noten waren absolut unbeschrieben, kein einziger Fingersatz oder sonst ein Zeichen, dass ich mich schon mal damit beschäftigt hätte. Sehr seltsam.

Aber es war ein wunderbares Üben, gleich problemlos in die Vollen. Was habe ich mich im Herbst gequält mit der Chopin-Ballade, weil ich dachte, es muss sein und ich sollte es machen! Ich hab mir solche Gewalt angetan, und es ist nie gelaufen. Während ich mich munter durch den Beethoven pflüge, kommt mir ein Bild: der Chopin hat sich angefühlt, als ob ich zögernd im ungeeigneten Bikini an einem undurchsichtigen Waldsee stehe und vor lauter Seerosengeschling nicht mal einen Fuss ins Wasser bringe. Und auch gar nicht weiss, wo und wie ich rein könnte. Der Beethoven ist ein leeres, hellblaues, riesiges Schwimmbecken, das ich ganz für mich habe und in das ich mich im Sportbadeanzug mit einem Kopfsprung stürze. Und ungehindert und so lange ich will loslege. (Und mich mal wieder frage: warum nicht gleich? Warum sich vorher verbiegen?)

Abends überfiel ich den Gatten schon im Flur und fragte ihn, ob er mich schon mal die Waldsteinsonate habe spielen hören. Während er seine Jacke aufhängte, überlegte er kurz und sagte: „Hundertprozentig. Ist lange her, aber die hast du geübt.“ (Und auf ihn ist absolut Verlass in der Hinsicht. Er ist der Mensch für Opuszahlen und Köchelverzeichnisse. Ich spiel das ganze Zeug, kann mir aber nie merken, wie es genau heisst (oder ob ich es schon gespielt habe, offensichtlich). Er schon.) Ich konnte es nicht fassen. Ich fürchte, ich bin in dem senilen Stadium angekommen, in dem man Schillers „Glocke“ noch auswendig kann, aber keine Ahnung hat, wann oder bei wem man sie gelernt hat. Oder was es zum Mittagessen gab.

„Übrigens hast du den Haustürschlüssel wieder von aussen stecken lassen.“

(Das ist kein Witz, und genau so wahr wie der Rest von diesem Blog!)

Fazit: ich sollte die luziden Moment, die mir noch bleiben, nutzen. Meinen Kopf regelmässig anstrengen, meinem Körper die Bewegungen drinnen und draussen gönnen, nach denen er sich sehnt, überhaupt das Leben in vollen Zügen geniessen, solange das noch ohne Zivi möglich ist…

Zauberei?

DSCF7940Am Wochenende war ich in Leipzig und habe in der Thomaskirche ein paar Meter von Bachs Grab eine Kerze angezündet. Während ich den neuen Docht an einen brennenden hielt, überlegte ich, für was ich dankbar sein will. Und konnte mich nicht festlegen, weil mein Kopf und mein Herz so übervoll sind mit Stücken von Bach, eines schöner, tröstlicher und beseligender als das andere. Und ich beschloss, ihm einfach für seine Existenz zu danken. Ohne ihn wäre mein  ganzes Leben anders. Leerer und trauriger, und zu manchen Zeiten schlicht gar nicht möglich gewesen. Und dieses Bewusstsein, diese wirklich innige Dankbarkeit beim Gedenkkerzeanzünden, war auch was Neues für mich. Wenn ich an meine anderen Toten denke, ist immer ein Stück Bedauern oder sogar noch Trauer mit dabei. Hier war ich einfach nur von Herzen dankbar, dass es ihn gegeben hat. Vielleicht kann man das für die anderen irgendwann auch empfinden, vorzugsweise bevor ein paar Jahrhunderte vergangen sind?

Es war eine besondere und berührende Erfahrung für mich. Am nächsten Tag dachte ich, ich könnte sie mit einer verständigen und eigentlich sensiblen Schülerin teilen, die ein Bach-Präludium geübt hatte. Während sie die Noten aufschlug, erzählte ich ihr, dass ich eben gestern an seinem Grab eine Kerze angezündet habe. Und dass sie vielleicht noch brennt. Und sie?

„Geil.“

Während sie die Hände über die Anfangstöne legt:

„Vielleicht hilft’s.“

Ein Tag im Leben…

DSCF7913Ein ganz normaler Montag Ende November. Als ich morgens meine Socken anziehen will, ruft eine Mutter zurück, mit der ich letzte Woche länger telephonieren musste: ihr Dreizehnjähriger hat drei Mal Klavier geschwänzt zugunsten von McDonalds. Ursprünglich wollte er in seiner Mittagspause Unterricht, aber jetzt ist ihm die Zeit mit seinen Freunden wichtiger. Die Mutter hatte keine Ahnung, dass er sich nicht entschuldigt, und wir beschliessen, ihn vor die Wahl zu stellen: McDonalds und Klavier an einem anderen Tag, oder anders rum. Während ich mit den Socken kämpfe, sagt sie mir, dass er sich für den anderen Tag (und die Tatsache, dass er danach drei Stunden auf den Bus warten muss) entschieden hat. Wir haben bewusst ihm die Entscheidung überlassen, weil er damit leben muss, und anscheinend schreckt ihn der vierte Nachmittag in der Schule weniger als sich aus der Clique ausgeschlossen zu fühlen. Auch okay.

Ohne Bach – Fuge überstehe ich den heutigen Tag nicht. Ein Prokrastinations – Bach sozusagen, denn ich hätte genug zu üben. Aber ich gönne mir die Viertelstunde mit meinem ersten Tee, bevor ich mich an die Geigensachen mache, die ich im Montagskonzert heute abend begleiten muss. Um elf gibt es Frühstück und Mittagessen in einem mit einem Rührei und Joghurt, dann bin ich schon fast spät dran, um nach Erding zu fahren. (Fünf Bahnübergänge wollen eingeplant sein. Das Ironische dran: es gibt überhaupt keinen Zug nach Erding, aber ich kreuze ständig andere Linien.)

Heute ist Gruppenvorspieltag und im Musiktrakt wimmelt es von Schülern, die sich einspielen wollen und letzte Fragen haben. Eine Kollegin und ich beschliessen spontan, das erste Vorspiel zusammenzulegen, damit alle Schüler in den Genuss des Flügels kommen. Und es ist besser und objektiver, wenn zwei Paar Ohren zuhören. Ich freue mich, neben ihr zu sitzen – sie im schicken Hosenanzug, ich immerhin in Bundfaltenhose und geputzen Schuhen. Ich fühle mich gut, bis ich die Beine übereinander schlage wegen dem Mitschreiben und dabei sehe: Mist, ich hab eine Socke falsch rum angezogen, für alle ersichtlich am verkehrt aufgestickten Logo. Komisch, das passiert mir eigentlich nie. Schon geht es los mit Khatchaturian und ich habe anderes im Kopf, beschliesse noch kurz, in irgendeinem privaten Moment die Socke umzudrehen.

Die erste Gruppe verlässt den Raum, meine Kollegin auch. Grade als ich mich dran machen will, den Schuh aufzuschnüren, wird die Tür aufgerissen und drei Achtklässlerinnen stürmen rein, selbstbewusster und frecher im Rudel: „Können wir wieder ohne die Buben vorspielen? Bitte! Das ist viel besser!“ Irgendwie hat sich das eingebürgert, und ich kann bestätigen, dass es „besser“ ist. Ich stimme zu, in Gedanken noch bei meinem Schuhvorhaben. Sie rennen türenknallend raus und ich höre sie über den Gang schreien: „Die Frau Sommerer sagt, Männer müssen draussenbleiben.“ Ich stöhne. Genau so hab ich das nicht gesagt (auch wenn es eine Devise ist, die ich mir zu manchen Zeiten des Lebens gern auf die Flagge geschrieben habe…) Also stehe ich auf und gehe ihnen nach. Ein Ruf als Feministin wäre mir egal, aber ich will nicht, dass meine Buben, die ohnehin mit kieksenden Stimmen und Schlaksigkeit geschlagen sind, denken, ich hätte was gegen sie. Und die Mädchen kriegen gesagt, dass sie die Klinke in die Hand nehmen sollen und sich diplomatischer ausdrücken müssen.

In den nächsten drei Stunden höre ich mir siebzehn Schüler an und bewerte sie, kritzele bei jedem das Protokoll. Zwischendurch probe ich mit zwei Geigenmädchen für heute abend, eine Mozartsonate und ein Komarowski-Konzert – nichts, was man in zehn Minuten abhaken könnte. Und die Sekretärin ruft hoch, dass ich meinen Vertrag unterschreiben kann – jubel! Wir haben zwar alle entfristete Beträge, bekommen aber in den ersten Schulmonaten immer nur eine Abschlagszahlung, bis die neue Stundenzahl unterschrieben ist. Das ist alle Jahre wieder genau die Durststrecke, nach der es sich anhört. Wir unterrichten von September bis November, manchmal Dezember, in der Hoffnung und Zuversicht, dass die Regierung von Oberbayern irgendwann überweisen wird. Meistens kommt dann, wenn die Ebbe auf dem Konto wirklich bedenklich wird, alles auf einmal plus Weihnachtsgeld. Ich sause also runter (das Sekretariat ist hin und zurück fünf Minuten weg) und unterschreibe, bevor sie es sich anders überlegen… Eigentlich müsste ich auf die Toilette, und mein Magen knurrt, und, ja, die Socke, aber ich sprinte hoch, weil oben schon die nächsten auf mich warten.

Vor der Konferenz um fünf schaffe ich es, schnell meine mitgebrachte Scheibe Brot und eine halbe Paprika zu essen. Dann sitzen wir zu acht im Musiksaal und besprechen die nächsten Monate. Die Schulmusiker dürfen die Feier zur Schulverfassung gestalten – verlangt wird ein Lied, das alle 1280 Schüler in der Turnhalle gleichzeitig singen sollen. Und es kommt Besuch aus Australien, ein Jugendorchster, das sich Begegnungen mit deutschen Schülern wünscht. 150 Schüler wollen einen Tag bei und mit uns proben. Eine Kollegin fragt, ob wir überhaupt so viele Notenständer haben. Meine Dankbarkeit, dass sich mein Wirken in überschaubaren Sphären bewegt, steigt. Ich möchte nicht mit 1280 Schülern gleichzeitig „Musik“ machen müssen. Dann geht es um die Überarbeitung der Webseite. Insbesondere neue Bilder werden angesprochen, und der wortführende Kollege fragt, ob ich nicht eins hätte, auf dem ich mich lasziv am Flügel räkele. Mann. Selbst vor dem Schulleiter haben die ihre pubertären Phantasien nicht im Griff.  Ich überlege kurz, ob die „Männer raus“ -Devise nicht öfter erwähnt werden sollte. Dabei fällt mein Blick auf die immer noch verkehrte Socke. Vielleicht wäre ich als Räkelobjekt besser dran? Es wäre sicher lukrativer, ich könnte höchstwahrscheinlich auf Socken ganz verzichten und müsste nicht in solchen Konferenzen sitzen. Alle Umschulungsgedanken werden durch einen Blick auf die Uhr unterbrochen – es ist fünf vor halb sieben, ich muss hoch zum Proben und habe grade noch Zeit für etwas Lippenstift. Die restlichen drei Geigenmädchen warten schon, es gibt die üblichen Rieding- und Vivaldi-Konzerte.

Wir proben bis kurz vor knapp und quetschen uns in den Ensembleraum. Unser Schulleiter kommt noch später, kurz verweilt sein Blick auf dem leeren Stuhl neben mir und ich fühle mein Bein mit der Socke zucken. Gleichzeitig spüre ich, dass ich etwas müde werde und irgendwie gelassen: selbst wenn etwas an mir verquer ist oder nicht der Norm entspricht, kann es nicht so schlimm sein, solange ich mich hier musikalisch einbringe und mir die Schüler am Herzen liegen. Oder?

Meine beiden Schülerinnen haben ihre Sache gut gemacht (eine Bach-Invention und das Notturno aus Griegs Lyrischen Stücken), und eine der Geigerinnen hat richtig sehr gut gespielt. Toll geführt und sehr lyrisch und frei im Mittelteil, und auf ein Art erwachsen, dass ich fast vergessen konnte, dass es eine Schülerin ist. Nachdem die fünfzig Eltern wieder draussen sind, besprechen meine Kollegin und ich noch das Gruppenvorspiel und tragen die Noten ein, und um kurz vor neun verabschieden wir uns auf dem leeren dunklen Parkplatz.

Eine Stunde später erreiche ich die letzte Kurve vor unserem Haus. Ich bin müde und mir ist kalt, und Visionen von einem warmen Tee und einer Buchstabensuppe wurden in den letzten Kilometern immer verlockender. Bis ich das fremde Auto vor unserer Tür sehe. Mein Mann scheint eine Besprechung mit seinem Kollegen zu haben, wie immer am Esstisch in unserer offenen Küche. Hm. Ich will und soll die ganzen Praxisangelegenheiten nicht mithören, also gibt es nur ein grosses Glas Wasser und zwei im Stehen und mit der Hand gegessene Scheiben Käse als Abendessen, bevor ich ins Bett falle.

Ich habe das Gefühl, dass ich zum ersten Mal an dem Tag ausatme. Morgen wird’s besser. Ich habe nur acht Schüler zuhause. Werde Mittagessen können. In meiner Pause um halb fünf einen grossen Becher Tee kochen. Um 19 Uhr fertig sein. Nicht über Zweitkarrieren nachdenken.

Dinosaurier

Vom Alter her könnten die meisten meiner Schüler/innen meine Kinder sein. Es gibt Momente, da ist die Kluft gering – wenn sie mich nach meinem Parfüm fragen, oder was ich da für einen Tee trinke, weil der ganze Raum nach Zitrone riecht, oder ich eine Meinung zu auf dem Handy gezeigten Kleidern abgeben soll. Meine Schüler erklären mir mitleidig – geduldig technische Details zu allen möglichen elektronischen Wiedergabegeräten oder überhaupt zu ihrer Welt. Was wir voneinander lernen, ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Da kann schon mal die Illusion entstehen, dass man sich doch nicht zu fern ist.

Gestern wurde ich knallhart auf den Boden der Tatsachen geholt. In der „Süddeutschen“ vom Wochenende wurde Hugh Grant gefragt, was er im Leben am meisten bereut. Und? Dass er mit elf aufgehört habe, Klavierstunden zu nehmen. Ha! War ja klar, dass ich das an jeder erdenklichen Gelegenheit anbringen würde diese Woche. Gestern waren zwei fünfzehnjährige Mädchen bei mir, die nach dem Wechsel vom musischen zum sprachlichen Zweig trotzdem noch Klavier spielen, was mich enorm freut. Als sie zwischen den Stunden mit ihren Jacken beschäftigt waren, dachte ich, es ist Zeit für die Hugh-Grant-Geschichte, auch zur Aufmunterung, weil sie eben seinen Fehler nicht machen, und frage vergnügt: „Kennt Ihr Hugh Grant?“ Zwei fragende, völlig blanke Gesichter schauen mich an (den Gesichtsausdruck kenne ich – sie erwarten, dass ich wieder mit obskuren Komponisten ankomme, von denen sie eh noch nie gehört haben). Und mir dämmert es: die Fünfzehnjährigen von heute  – kennen Hugh Grant überhaupt nicht.

Ich komme mir furchtbar alt vor. Und bin ziemlich ernüchtert. Es ist doch so: wenn ich bei der Vorstellung, Hugh Grant könnte beschliessen, wieder mit dem Klavierspielen anzufangen, und dazu realistischerweise nach Wasserburg kommen will, Herzklopfen und berechtigte schlaflose Nächte kriege – dann stellt mich das auf eine Stufe mit meiner Oma, die vielleicht vom jungen Johannes Heesters erzählt. Das bringt mich mehr in die Realität, als wenn meine Friseuse sagt: „im Moment können Sie das noch mit Henna überdecken, aber irgendwann müssen wir uns was überlegen…“ Diese Fünfzehnjährigen könnten meine Enkelinnen sein. So ist das Leben.

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