Wer in seiner Jugend in den Genuss von Lateinunterricht gekommen ist, stolperte unweigerlich früher oder später über die zweisprachigen „Tusculum“ – Ausgaben. Ich dachte anfangs, das ist halt ein poetischer Name für einen idealen Ort, an dem schöngeistige Gespräche stattfinden, oder ein Verlagstrick, um staubtrockene alte Literatur irgendwie an den Mann zu bringen. Bis ich irgendwann mitbekam, dass Tusculum ein realer Ort ist, den man immer noch besuchen kann. Ab da stand er auf der Liste meiner Sehnsuchtsorte weit oben. Ich war und bin kein Cicero – Fan, aber es könnte nicht schaden, den Entstehungsplatz seiner „Tusculanae Disputationes“ zu sehen. Ausser ihm wohnten zahlreiche reiche und berühmte Staatsmänner und Dichter auf diesem Hügel im Süden Roms: der legendäre Lucullus, Cato, Caesar (Grund für ähnlich langatmig sich hinziehende Lateinstunden wie Cicero…). Sie hatten sich bewusst diesen hochgelegenen Hügel mit der sagenhaften Rundumsicht in den Albaner Bergen ausgesucht, um Abstand zur Stadt und wahrscheinlich ein besseres Klima zu haben.
Stilecht wäre ich gerne über die Via Tuscolana aus Rom angekommen, aber wir wohnten ja im Osten und waren nach einem Katzensprung in Frascati. Zeitgenossen mit masochistischen Tendenzen könnten hier den Wanderrucksack auspacken und ständig bergan rauf nach Tusculum laufen. Der Weg entlang der einsamen Strasse ist auch wirklich schön, es gibt Oliven und Steineichen und gelegentlich Schatten – ich war aber doch dankbar für mein Auto, das uns mit leichtem Schnaufen innerhalb von Minuten auf die Hügelkuppe brachte. Denn es war unglaublich heiss und trocken. Und wie die anderen Orte, die wir besuchten, ist Tusculum kein Archäologie – Disneyland und kein bisschen für den Tourismus erschlossen. Keinerlei Infrastruktur, keine Bar, kein Wasser. Einzig und allein der menschenleere Parkplatz liess uns ahnen, dass wir hier aussteigen und loslaufen könnten.
Wir fanden einen schattigen, baumbestandenen Hohlweg mit glattgeschliffenen schwarzen Quadersteinen auf dem Boden, und – erstes Zeichen, dass wir doch an einem sehenswerten Ort waren – tatsächlich eine Schautafel, die informierte, dass Tusculum ein wichtiges Ziel auf der Grand Tour war und besonders deutsche romantische Maler dieses Panorama schätzten. In der drückenden Hitze hält man es kaum für möglich, dass in den letzten Jahrhunderten überhaupt jemand auf diesem Hügel gewesen war. Wir spazierten leicht bergan, vorbei an überwachsenen Fundamenten und umgekippten Säulen, und die Aussicht auf die Albaner Berge wurde immer schöner. Bis wir am höchsten Punkt den Gipfel des Malerischen erblickten: ein weisses Einsatzfahrzeug einer Art Technischen Hilfswerks, und vier Feuerwehrmänner in voller Montur, die bei geöffneten Türen auf ihren Handys lesen. Wir stellten uns kurz zu ihnen, weil sie unter dem einzigen Baum weit und breit parken, und weil – Menschen! Lebendige Menschen! Man hätte eine perfekte Aussicht in alle Himmelsrichtungen, um Waldbrände zu entdecken. Aber ihre Handys sind ihnen wichtiger… Ihr Funkgerät piept und zwitschert und ich finde diesen Einbruch des 21. Jahrhunderts in die antike Welt ziemlich absurd. Aber natürlich nötig. Wir haben in den letzten Tagen mehrere Waldbrände und Löschversuche mit Hubschraubern erlebt, und die Wiesen von Tusculum sind fast die vertrocknetsten, die wir gesehen haben. Und es ist heiss. So stelle ich mir Griechenland vor.
Wir sehen uns noch die Reste des Amphitheaters an und schlendern ein bisschen übers Gelände, bekommen aber fast einen Hitzschlag. Fazit: es ist wahnsinnig schön, die Fernsicht ist sagenhaft, aber mir ist es zu exponiert und zu sehr der Sonne ausgesetzt. Und die Geister dieser langatmigen Schriftsteller – lieber weg von hier, bevor uns ein Feuer den Rückweg abschneidet. Eine Nacht mit Lucullus wäre sicher vergnüglich, aber wenn dann Caesar und Cicero auftauchen und kein Ende finden… Schnell ins Auto!
Und runter von Frascati in die Ebene um Rom und ans Südende der Via Appia Antica, das wir mit mehr Glück als Verstand fanden. Hier wollte ich auch schon ewig hin, und wir hatten es einmal von der Stadt aus versucht, aber das war Fehlanzeige: der Bus bringt einen an den Anfang. Der ist noch touristenüberlaufen wegen der Calixtus – Katakomben und San Sebastiano, das zu den Hauptkirchen gehört und ein begehrtes Pilgerziel ist. Dann: haushohe Mauern, die sich gefühlt kilometerlang hinziehen und Privatgrundstücke abschotten. Wenn man nicht auf eine lange Wanderung eingestellt ist, ist der Abschnitt in Stadtnähe sehr enttäuschend.
Wenn man bereit ist, sich in die geordnete Anarchie des Autobahnrings um Rom zu begeben und nicht davor zurückschreckt, das Auto neben einem wenig vertrauenerweckenden Wohnwagenpark gegenüber vom Flughafen Ciampino abzustellen, kann man das herrliche, einsame Südende der Via Appia finden. Und hier ist sie wie aus dem Bilderbuch: das glattgeschliffene schwarze Pflaster zieht sich schnurgerade und pinienbestanden Richtung Rom. Kein Mensch ist in Sicht bis auf gelegentliche Jogger, und wenn die in ihren grellen Outfits verschwunden sind, könnte man glauben, geradewegs in der Antike zu sein. Und dann tauchen auch noch Schafe auf den vertrockneten Wiesen auf… Es ist Idylle pur. Das Abendlicht wird immer sanfter und wärmer, während wir langsam Richtung Stadt wandern, die warmen, trockenen Piniennadeln knirschen, wenn man drauftritt, und es riecht intensiv nach Harz aus den vielen abgefallenen Pinienzapfen. Ich hebe einen auf und habe fortan einen Harzklumpen an den Fingern, den ich immer wieder zur Nase führe – erinnert mich an meine ganzen Streicherfreunde und den leichten Kolophoniumgeruch, der sie manchmal umgibt. Das Parfüm der Via Appia… Hier kommen wir völlig zur Ruhe. Wollen und Erleben schieben sich mit einem leisen „klick“ in einen wunderbaren Einklang übereinander und wir sind beide an dem seltenen Punkt, dass wir sagen: so soll es sein. Genau so, wie es jetzt ist, ist es perfekt. Ich würde nichts ändern wollen an diesem Augenblick.