Vom Inn an die Bandusia: Villa d’Orazio

Einer der Orte, an den ich mich schon lange gesehnt habe und den man ohne Auto wirklich nicht erreicht, war das Landgut von Horaz in den Sabiner Bergen. Maecenas schenkte ihm das Anwesen. Horaz schenkte Maecenas in den folgenden Jahren eine Fülle an Oden. Das waren noch Zeiten, für beide Seiten! Horaz genoss seine Aufenthalte in den waldreichen Bergen, wie viele seiner Gedichte belegen. Überhaupt schien er regelmässig Abstand von der Grosstadt zu brauchen – vor seinem Sabinum, wie er das Gut nannte, hatte er schon eine Villa in Tivoli, deren Standort heute aber unklar ist. Die erhaltenen Ruinen der Villa bei Licenza sind aber eindeutig seine Villa, und es war für mich mehr als magisch, tatsächlich dort zu sein.

Auch wenn es streberhaft klingt, aber: ich mochte Horaz schon in der Schule. Einmal wegen des wunderbaren Rhythmus seiner Gedichte, und dann wegen der greifbaren, nachvollziehbaren und lebensnahen Themen. Damals wie heute fühle ich mit ihm, wenn ihm ein aufdringlicher Schwätzer einen Spaziergang verdirbt. Mir gefällt, dass er sich dann und wann in die Natur zurückziehen muss, um wieder aufzutanken, in Ruhe den Kreislauf der Jahreszeiten betrachtet und einfach den Augenblick geniesst. Dass er dann aber auch wieder die grosse Stadt braucht und ein Gelage mit Maecenas und Vergil persönlich, bei dem die neuesten Werke vorgelesen werden (wenn ich mir das vorstelle, kriege ich Gänsehaut!).

Der Vater von Horaz war ein freigelassener Sklave, der wusste, dass Bildung die einzige Chance für seinen Sohn wäre, im Leben weiterzukommen. Er tat alles dafür, um dem Jungen eine gute Schulbildung in Rom zu ermöglichen. Danach studierte Horaz in Athen und kam mit der Lehre der Stoiker und Epikurs in Berührung. Das lebensbejahende, genussvolle Auskosten des einzelnen Augenblicks, das ganz im Jetzt – Sein, ist eine Konstante in seinen Gedichten. Von ihm stammt auch der berühmte Rat „Carpe diem“, ebenfalls beeinflusst von Epikur. Und er betont immer wieder, dass derjenige glücklich ist, der zufrieden ist mit dem, was er hat, statt immer noch nach mehr zu streben.

Horaz ist und bleibt einer meiner liebsten Begleiter im Leben, und es ist immer was besonderes, tatsächlich an den Ort zu pilgern, an dem der verehrte Mensch gelebt und geschrieben hat. Eine Mischung aus Ehrfurcht und zappeliger Vorfreude begleitete mich, als ich das Autole die Serpentinen von Vicovaro Richtung Licenza entlangsteuerte, immer höher hinauf in die bewaldeten Berge. Kurz vor Licenza das verheissungsvolle braune Schild, das in Italien archäologische Denkmale ankündigt, und ich bog auf eine schattige, baumbestandene gepflasterte Strasse, die in noch mehr sanften Kurven weiter nach oben führte. Dunkel, geheimnisvoll, umgeben von Grün – und so viel gepflegter, als ich erwartet hatte. Die übliche Zufahrt zu den obskureren Denkmälern in Latium ist oft eine staubige, schlaglochübersäte Schotterstrasse in wenig vertrauenerweckenden Gegenden, und meistens fährt man am Ziel vorbei, weil man gar nicht erkennt, dass da was sein soll. Horaz hat, wie es eines Dichterfürsten würdig ist, eine stilvolle Auffahrt und einen netten kleinen Parkplatz. Und dann – ist man erst mal baff und begeistert, wie gepflegt die Anlage ist. Das ganze grosse Grundstück ist umgeben von einem hochwertigem grünen Zaun. Nachdem die Italiener manchmal erstaunlich sorglos mit ihrem kulturellen Erbe umgehen, hatte ich erwartet, dass die Ruinen halt im Wald sich selbst überlassen sind und es ohnehin niemand interessiert. Aber wenn man die Mosaike gesehen hat, ist man nur froh, dass der Zaun Wildschweinchen abhält, da nachts drüberzutrappeln.

Gelbes, trockenes Gras, eine dicke Schicht an verdorrten Piniennadeln, die beim Drauftreten einen herrlichen harzigen Geruch ausatmeten, kleine Lärchenzapfen auf dem Boden, gelbe, vertrocknete Eichenblätter, scheinbar endlos sich erstreckende Grundmäuerchen, Treppen und tiefer liegende Reste von Gebäuden (wie war das noch mal mit dem bescheidenen Landgut?!), und kein Mensch ausser uns. Und wir waren vor Ehrfurcht und wegen der Magie, die dieser verlassene, vergangene Ort ausstrahlte, sprach – und atemlos. Gingen vorsichtig übers Gelände, stiegen über die Mäuerchen, schauten ungläubig die schwarz – weissen Mosaike an, die da einfach seit 2000 Jahren unter freiem Himmel liegen. Hatten das Gefühl, völlig allein zu sein auf diesem besonderen Ausflug in die Antike. Bis auf einmal am anderen Ende des Geländes ein untersetztes, rundliches Männchen auftauchte, der mit einem riesigen Buch auf uns zuwatschelte. Das dauerte, und während er näher kam, öffnete er den Band, trug ihn auf zwei Händen wie ein Messdiener die Heilige Schrift, hielt ihn uns feierlich hin und bat uns, uns ins Gästebuch einzutragen. Wie süss. Er trug ein weisses Poloshirt mit dem offiziellem Aufdruck irgendeiner archäologischen Vereinigung und sagte, dass es für sie sehr wichtig sei, einen Überblick über die Besucherzahlen zu bekommen. (Und man muss sagen: sie drängen sich nicht grade, die Besucher… Wir waren die ersten seit neun Tagen. Und auch davor war es eher übersichtlich…) Anscheinend gehört sein ganzes Herzblut der Anlage. Er liess es sich nicht nehmen, uns in einer kleinen Führung das Mosaik im Schlafzimmer von Horaz zu zeigen, die Therme mit ihren verschiedenen Becken, und das Fischbecken. Er beschrieb uns auch den Weg zur in Gedichten unsterblich gewordenen Bandusia – Quelle und watschelte dann betriebsam wieder davon. Und wir hatten das Gelände wieder ganz für uns. Ich hob ein paar gelbe, gezackte Blätter auf und einige Lärchenzapfen, die jetzt vor mir liegen, und wusste schon in dem Moment: das sind ganz besondere Andenken. Ich werde mich ewig an diesen friedlichen, abgelegenen Ort in den Bergen zurücksehnen.

Auf dem Hinweg waren wir von Tivoli und Vicovaro gekommen, voll durch die Zivilisation (Obi Tivoli, Ford Tivoli, Werbung für Komplettbegräbnis (950.-), und Zahnkronen (450.-) am Strassenrand). Jetzt dachten wir, wir fahren durch das Naturschutzgebiet da auf der Landkarte Richtung Orvinio. Könnte ja ganz nett sein. Die folgende halbe Stunde wurde unversehens eine der spektakulär schönsten Autofahrten der Reise: keine Ortschaft weit und breit, aber dunkelgrün bewaldete Hügel ohne Ende. Dunkles Grün, so weit das Auge reichte. Das ist für mich die Farbe und Essenz von Latium. Und es war so verdammt einsam – die ganze Zeit kam uns nicht mal ein Auto entgegen, und wir sagten uns, dass es in Kanada ähnlich sein müsste. Zu Zeiten von Horaz gab es hier Wölfe und Bären, und wenn man die Einsamkeit und Abgeschiedenheit des Landstrichs erlebt hat, glaubt man, dass das heute noch der Fall sein könnte. Ich trage die unglaublich schönen Aussichten immer noch im Herzen und bin froh über den spontanen Umweg.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert