Als uns der Zug auf der Heimfahrt mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit durch die endlos weite spätsommerliche Landschaft Frankreichs trug, fragte ich mich, was mich am meisten beeindruckt hat in Paris. Weswegen ich auf jeden Fall noch mal wiederkommen wollte. Aber es war zu früh. In meinem Kopf wirbelte das reinste Kaleidoskop an herrlichen Eindrücken, Gerüchen und Farben: der Chorraum der Sainte Chappelle, die aus Licht und Farbe zu bestehen scheint. Die majestätischen Kastanien am Canal Saint Martin. Die wunderhübsche Bahnhofsuhr im Gare de l’Est, die ich grade noch im Nachmittagslicht photographiert hatte. Die Winterlandschaften der Impressionisten im Musee d’Orsay, vor denen man den Schnee direkt riechen konnte und wirklich Gänsehaut vor Kälte kriegte. Oder Monets Mohnblumenfeld: ich spürte das Getreide an meinen nackten Beinen kitzeln, so eindrucksvoll hat er den Sommertag eingefangen.
Jetzt ist der Staub der Tuilerien von den Sandalen gebürstet (den Satz wollte ich schon immer mal schreiben!) und die Reisetasche ausgepackt. Und ich merke, wie immer klarer wird, was mich ganz sehr beeindruckt und berührt hat: die wunderschöne Dame mit dem Einhorn im Musée de Cluny. Wahrscheinlich auch, weil die Stadt und die meisten Sehenswürdigkeiten sehr quirlig und belebt sein kann. Manchmal ist es nett und genau richtig, wie eben abends in einem Strassencafé am Canal St. Martin. Manchmal geht es einem furchtbar auf den Geist wie im Louvre – der Mona – Lisa -Saal kündigt sich schon weitem durch eine erhöhte Geräuschkulisse an, die sich noch steigert, wenn man ihn betritt. Und was sieht man? Ganze Trauben von Menschen, die sich möglichst nah an die Absperrung drängen – aber alle mit dem Rücken zum Bild. Man braucht ein bisschen, um diese neue Zeiterscheinung zu kapieren: die Massen waren nicht etwa begeistert vom Veronese gegenüber, sondern degradierten Mona Lisa zur Kulisse ihrer Selfies. Flüchtige, nichtssagende Beweise ihres Besuchs – wozu? Reicht es nicht mehr, zu sagen, dass man in Paris war? (Und nur am Rande – die anderen da Vincis im nächsten Raum fristeten ein Schattendasein. Waren überhaupt nicht selfie – würdig. Und komplett einsam, wirklich von aller Welt verlassen, hingen die beiden unendlich kostbaren Vermeer – Gemälde im anderen Stockwerk. An einem Sommernachmittag um fünf kann man völlig allein mit ihnen sein, nicht mal ein Wärter war in Sicht.)
Im Musée de Cluny, der ehemaligen römischen Therme, herrscht eine komplett andere Atmosphäre. Kurz vor der Reise sprach ich mit einer Französischlehrerin über das, was ich sehen wollte, und zu jedem Punkt sagte sie: ooooh, da ist es voll, da sollten Sie Karten vorher besorgen. Und da auch. Und dort besonders. Und das Einhorn? Endlich kein besorgter Gesichtausdruck mehr, sondern aufrichtige Freude, dass sie mir eine gute Nachricht geben kann: „Da? Da ist keiner!“ Und sie hatte recht! Also nicht ganz keiner, aber doch verschwindend wenige Besucher und deswegen auch eine ganz ruhige, fast andächtige Atmosphäre. Man wird auch durch die geschickte Präsentation in die richtige Stimmung gebracht: man betritt einen dunklen, schwarz verhangenen Gang aus Stoff, auf den u.a. auch ein Rilke – Zitat gedruckt ist, läuft unwillkürlich langsamer, weil sich die Augen erst an das gedämpfte Licht gewöhnen müssen, und irgendwie steigt schon auch die Spannung… Und dann steht man vor der leuchtenden Farbenpracht der Teppiche, die so viel grösser sind, als ich es mir vorgestellt habe, und ist erst mal sprachlos.
Ich denke immer wieder an die besondere Atmosphäre im Raum und die friedvolle Ruhe der beiden Damen im Paradiesgarten, die, umgeben von zahmen Tierchen und unzähligen zarten Blumen, scheinbar überflüssigen und nutzlosen Beschäftigungen nachgehen. Zu so einem Urteil kommt man schnell, wenn es um Kunst, Musik, Poesie geht – das, was scheinbar nicht sein muss und im Alltag schnell mal wegrationalisiert wird, ist in Wahrheit lebensspendend und als Seelennahrung genau so wichtig wie echte Nahrung. Die Teppiche, die zum Ende des 15. Jahrhunderts gewebt wurden, stellen Allegorien der fünf Sinne dar inklusive eines misteriösen sechsten Sinns, der möglicherweise für das Herz oder die Intuition steht. Ist das nicht ein erstaunliches Thema? Zu einer Zeit, in der hauptsächlich religiöse oder heroische Motive dargestellt wurden? Es ist eine Rückkehr zu ganz zarten, im Alltag gar nicht mehr wahrgenommenen Gefühlen. Sieht man sich in so feinen Gesten erinnert an seine Sinne, ist man auch dankbar, wenn man noch über alle verfügen kann – der Geruchs- oder Tastsinn werden uns nicht so schnell abhanden kommen, aber mit dem Sehen (in der Nähe…) hapert es immer mehr bei mir, und wenn meine Schüler weiterhin so beherzt reinlangen, wird mein Hörsinn auch bald nachlassen… In der Renaissance waren diese Alterungserscheinungen mangels Lebenserwartung wahrscheinlich nebensächlich, aber man wird eindringlich erinnert an das, was einen kompletten, glücklichen Menschen ausmacht. Und dazu gehören auch eine Vielzahl an allerliebsten kleinen Tierchen: der laut Rilke „seidenhaarige“ Schosshund, zahlreiche Häschen, Füchse, Vögel, und natürlich immer der grösser dargestellte freundliche Löwe und das Einhorn, die für Mut und Keuschheit stehen. Man könnte fast meinen, dass den Tieren auch eine Seele zugesprochen wird, weil sie so intensiv an der Darstellung der Sinne beteiligt sind.
Und man bewegt sich langsamer, um die beiden Damen nicht zu stören. Heute und auch zu Rilkes Zeiten: „Geht man nicht unwillkürlich leiser zu dem nächsten Teppich hin, sobald man gewahrt, wie versunken sie ist: sie bindet einen Kranz, eine kleine, runde Krone aus Blumen. Nachdenklich wählt sie die Farbe der nächsten Nelke aus dem flachen Becken, das ihr die Dienerin hält, während sie die vorige anreiht. Hinten auf der Bank steht unbenutzt ein Korb voller Rosen.“ Klingt das nicht erstaunlich modern – nach Achtsamkeit, ganz im Hier – und – Jetzt – Sein, Entschleunigen? Ich merke: diese prachtvollen roten Teppiche haben sich in meiner Seele eingebrannt. Und wenn es im Alltag mal wieder drunter und drüber geht, kann ich mich kurz in diese ruhige Welt zurückträumen.