Vom Inn an den Tiber: Probewohnen

Als wir in Blera ankommen, ist es vier Uhr nachmittags. Alles schläft. Das ganze hübsche Städtchen befindet sich im Dornröschenschlaf, und wäre es nicht so gut erhalten und gepflegt, wären da nicht unzählige bepflanzte Blumentöpfe vor den Haustüren und auf den Treppchen, könnte man meinen, die Stadt sei ausgestorben. Wir schleichen in der Spätsommerhitze durch die engen Gässchen und sind begeistert, wie stimmungsvoll und malerisch der kleine Ort ist, selbst wenn alle Fensterläden zu sind.

Blera ist eines der vielen kleinen Städtchen nördlich von Rom, die auf einem langgezogenen Tuffsteinfels thronen. Lauter kleine, hochgebaute Steinhäuschen drängen sich dicht an dicht. Die schattigen Gassen sind so eng, dass man mit ausgestreckten Armen fast beide Häuserzeilen berühren kann. In der Mitte des kleinen Ortes öffnen sich die Gassen auf eine ähnlich kleine und enge Piazza, deren Mittelpunkt ein Brunnen ist. Danach wird es wieder eng, und der Weg führt leicht abwärts auf der alten Via Claudia.

Auch wenn der Ort schlief, hatten wir das Gefühl, ganz in der Zivilisation zu sein. Ein paar Schritte abwärts durchs Stadttor und auf einen kleinen Feldweg, der staubig an Schrebergärten vorbeiführte, und wir entfernten uns mit jedem Meter mehr aus der Gegenwart. Der olivenbestandene Hohlweg führte beständig bergab, die Schatten der Nachmittagssonne warfen das Muster der Olivenzweige in den Staub vor uns. Hier in den Gärten und auch oben in der Stadt hatten wir keine Seele gesehen, aber je näher wir der Etrusker – Nekropole kamen, die laut Landkarte irgendwo hier unten sein musste, desto mehr regte sich in der Luft und in der Atmosphäre. Einbildung? Hitzeflimmern? Zu wenig Wasser dabei? Wie auch immer, der spontane Ausflug wurde eine magische Reise in die Antike. In die richtig ferne Antike. Laut Führer war die Gräberstadt von 700 bis 500 vor Christus in Benutzung – da lebte Homer noch, so ungefähr… Und da waren die Etrusker schon so lange hier sesshaft, dass die Ersten sich ins Jenseits verabschiedeten und angemessene Wohnungen dafür brauchten. Ich liebe solche Orte mit Vergangenheit…

Und unversehens ging es schon los mit den Grabkammern. Wir dachten, die sind alle unten in der Schlucht, aber rechts von uns tauchten die ersten Öffnungen auf, in italienischer Manier als Geräteschuppen oder Viehställe mit halben Türen zweckentfremdet. Dann kamen offene, leere Gräber, kühl und schattig und geräumiger, als ich dachte: Dreiergräber, Fünfergräber, auch mal ein querliegendes Einzelgrab für die eher Introvertierten. Anfangs waren wir ganz leise und ehrfürchtig, schauten uns vorsichtig um, atmeten unwillkürlich langsamer. Dann kam noch ein Grab. Und noch eins. Und der Entdeckergeist wurde etwas übersättigt. Es war auch nett, zwischendurch wieder raus in die Sonne zu gehen und die Wärme zu spüren. Dabei entdeckte ich haufenweise Brombeeren, die aus und über Gräbern wuchsen, und sogar einen Feigenbaum mit dunkellila Früchten. Ich trödelte ein bisschen beim Obst, der Gatte explorierte weiter – „Guck mal hier, das Modell „Andante“!“ Mit einer Handvoll Brombeeren schlenderte ich zum nächsten Grab, einem richtig geräumigen, gemütlichen, und dachte mir drinnen spontan: was, wenn ich schwarze Früchte, die aus Gräbern wachsen, in einem Grab esse? Vielleicht tut sich da was? Vielleicht finde ich endlich den Fahrschein in die Vergangenheit? Es ist einen Versuch wert. Ich schliesse die Augen, esse ein paar Brombeeren, wünsche mich ganz sehr ein paar Tausend Jahre zurück und warte. Alles ist still und kühl, aber – das ist es auch schon. Als ich die Augen wieder aufmache, strahlt die Sonne vor dem säuberlich gehauenen Steinrechteck der Türöffung aufs gelbe Gras. Eine Eidechse flitzt vorbei. Ich fürchte, ich bin immer noch hier.

Und auch unten in der eigentlichen Nekropole hat’s mit der Magie nicht geklappt. Obwohl der Ort ohne Zweifel sehr magisch und einsam ist. Wir kletterten an dem gigantischen Felsen aus rötlichem Tuffstein herum, schauten uns noch in ein paar Gräbern um, waren selig und sprachlos, an so einem wunderschönen, besonderen Ort ganz für uns zu sein. Auch hier: Brombeeren, Haselnüsse und wilder Dill, der auch sehr lecker schmeckte, und Pfefferminze in rauhen Massen. (Auch lecker. Und mehr kann man sich bei einer Friedhofsbesichtigung wohl kaum in den Mund stecken zum Zwecke der Zeitreise. Also: Experiment gescheitert.)

Wieder zurück über die kleine gebogene Steinbrücke, und wir probierten einen anderen Rückweg aus, der links steil durch den Wald nach oben führte. Innerhalb kurzer Zeit muss man hier die ganze Steigung bewältigen, die man vorher in einer Viertelstunde bergab gegangen war, und gelangt oben an ein handgeschriebenes Holzschildchen „Belvedere“. Das musste die ursprüngliche etruskische Akropolis gewesen sein, auf die im Ort hingewiesen wurde. Die Siedlung wurde im Mittelalter als Steinbruch genutzt, um Blera etwas weiter hinten aufzubauen – es ist überhaupt nichts mehr von einer Stadt zu sehen. Aber ganz am Ende des Abhangs ein traumhafter Blick auf die Schlucht und die Felsen der Gräberstadt, in der wir grade noch gewesen waren: grün, so weit das Auge blickt, dunkelgrün, und dann die erdfarbenen Tuffsteinfelsen.

Unser völlig ungeplanter Spaziergang von etwa einer Stunde war einer der zauberhaftesten Momente der Reise. Gut, dass uns in Blera keine Bar und keine Katzen abgelenkt hatten. (Und als wir zurückkamen, war der Ort kaum wieder zu erkennen: quirliges Leben, eine moderne Apotheke, ein Optiker, Leute mit Einkaufstaschen, alte Männer vor der Bar… Diese Metamorphose ist immer wieder erstaunlich!)

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