Bisher hat es in keinem Schuljahr so lange gedauert, bis ich das Gefühl hatte, wieder im Alltag angekommen zu sein. Der übliche Wirbelwind der ersten Schulwochen hat sich ewig nicht gelegt und mein Stundenplan glich drei Wochen lang einem gerade entdeckten Mosaik, an dem mehrere Archäologen vergeblich versuchen, zu viele weisse Löcher zu füllen. Ich weiss nicht, ob es daran lag, dass ich an der Schule zwölf neue Schüler und keine Abbrecher habe oder an den zwei Winterreise-Konzerten, die der Veranstalter Anfang Oktober wollte – auf jeden Fall hatte ich noch nie so sehr den Impuls, mich einfach ins Auto zu setzen und spurlos zu verschwinden, nach Triest oder gleich nach Jordanien!
Dabei habe ich alles unternommen, um mich wieder verwurzelt und in Kontrolle der Lage zu fühlen. Als Ausgleich für die vielen Dutzend Telephonate mit Eltern habe ich ungefähr 150 Blumenzwiebeln gepflanzt in völliger Einsamkeit und Ruhe. Wie immer im September dekorierte ich den Kaminsims mit alten Büchern und Kerzen, um meine Schüler daran zu erinnern, dass jetzt wieder die Zeit des Lesens und Lernens begonnen hat. Normalerweise fühle ich mich spätestens dann als Lehrerin, wenn ich mein neues Unterrichtsnotizbuch für dieses Jahr anlege und neue Bleistifte und Buntstifte am Klavier deponiere. Nicht mal eine wunderbare viktorianische Karte aus England half, auf der zwei Damen am Klavier dargestellt sind – im Gegenteil, das löste eher den heftigen Impuls aus, sofort zu den beiden Freunden nach London abzuhauen, die sich dort einen Urlaub gönnten.
Nichts half. Bis letzten Freitag, als sich das Angekommen-Gefühl auf völlig unerwartete Weise einstellte. Ich muss mich erst daran gewöhnen, so viele Schüler zu haben wie Mozart Symphonien geschrieben hat. Wenn die letzten beiden am Freitag gegen Abend klingeln, muss ich mich daran erinneren, genau so nett und konzentriert zu sein wie montags um 13.15 Uhr. Diesmal kam nur einer der Brüder, was bedeutet, dass wir doppelt so lange Zeit hatten. Wir standen an der Terrassentür, er lehnte halb auf dem Sofa, und starrten beide wortlos in den bunten Herbstgarten. Die roten Blätter unseres japanischen Ahorns und der gelbe Tulpenbaum der Nachbarn glänzten im leise fallenden Regen. Daran, dass mein neunjähriger Schüler so ungewohnt ruhig und still war, merkte ich, dass er mit seiner kleinen Welt genauso beschäftigt war wie ich mit meiner. Als wir lange genug geguckt hatten, meinte er:
„Weisst du, was schön ist? Dass du schon die Zimtkerze an hast. Und wie der Regen in deinen Teich fällt.“
Und in dem Moment macht es klick in mir. Plötzlich war ich wieder da, hier in meinem Unterrichtszimmer, um geduldig die immer gleichen Übungen zu zeigen, Pläne fürs Schuljahr zu schmieden, möglichst nächste Woche mit den Weihnachtsliedern anzufangen. Und alles war gut.
So ähnlich war meine Begrüssung zu unserem Sommerkonzert am 1. Juli in der Schranne – ein paar Schüler fühlten sich sichtlich angesprochen und grinsten mich an!
Das Foto auf unserem diesjährigen Konzertprogramm zeigt eine Bronzestatue, die meine Schülerin Anne Meindl geschaffen hat. Ich sah sie zum ersten Mal in einer Ausstellung im Ganserhaus, an der Anne teilnehmen durfte, da sie einen Preis gewonnen hatte. An dem Tag sprach mich die auf einer Kugel balancierende und mit übergrossen Armen nach Gleichgewicht suchende Figur sofort an. Wahrscheinlich war es einer der Tage, an denen ich selber mehr oder weniger erfolgreich versuchte, alle meine Rollen unter einen Hut zu bringen: die der Ehefrau, Freundin, Tochter, Schwester, Klavierlehrerin, Pianistin… Und bei Ihnen als Eltern kommt noch eine ganz wichtige, fordernde und schöne Aufgabe dazu, die wahrscheinlich mehr Zeit und Nerven kostet, als ich mir vorstellen kann. Die tägliche neue Herausforderung für mich ist sicher, nicht nur Lehrerin, sondern auch Pianistin zu bleiben. Annes Statue führt mir eindrucksvoll vor Augen, wie ich nicht durchs Leben gehen will – immer rudernd und auf einem schlüpfrigen Untergrund nach Halt suchend. Stattdessen will ich, wie diese Figur, wissen, wo meine Mitte ist, und daraus Stärke und Kraft für die alltäglichen Balanceakte ziehen.
Dann dachte ich mir, ich könnte die junge Künstlerin selber fragen, was sie eigentlich mit der Figur ausdrücken wollte. Das war interessant, denn es ging in eine ganz andere Richtung… Anne meinte erst, es soll einfach ein Kugelläufer im Zirkus sein, der mit langsamen Schritten die Kugel bewegt und selber im Gleichgewicht bleibt. Während wir uns unterhielten, kamen wir darauf, dass das eine wunderbare Parallele zum Klavierspielen, zum Lernen allgemein oder einfach zu allem hat, was man sich im Leben vornimmt: solange man kontinuierlich und mit kleinen Schritten dabeibleibt, läuft es. Bremst man abrupt ab, fällt man von der Kugel, muss sich mühsam aufrappeln, vielleicht erst mal seine Blessuren versorgen, und braucht lange, um wieder in der gewohnten Bewegung zu sein.
Also – lasst uns dranbleiben! Und wenn es nur winzige Schritte am Tag sind, aber dafür jeden Tag!
Herzlichen Glückwunsch an meine Nebenfach-Klavier-Aufnahmeprüfungsleute! Ich wusste, dass es hervorragende Musiker sind – die beiden Achtzehnjährigen haben an zwei bzw. vier Hochschulen für Konzertfach bestanden. Ich bin stolz, solche Menschen begleiten zu dürfen, und freue mich auf das, was noch kommt!
Diese Ferien waren die aufregendsten seit langem, weil ich Zeit und Musse hatte, einfach endlos viel Klavier zu spielen. Ich habe es so vermisst! Ich mag meine Schüler, aber manchmal muss ich aufpassen, dass ich nicht nur Lehrerin bin, sondern auch am Kern der Sache dranbleibe. Im Schulalltag ist es schwierig, denn wenn schon, will ich es richtig machen, und zwar alles: bei der netten Frau Sommerer sind die Fenster geputzt und die Teppiche sauber, es riecht nach frisch gebackenem Brot und die Orchideen sind gewässert, und sie hat Zeit und Geduld für die Probleme ihrer Schüler. Die wilde Frau Sommerer setzt sich gleich morgens ans Klavier und spielt rücksichtslos. Das Haus verkommt, Mann und Kater schleichen leise und betrübt um den leeren Kühlschrank / Napf und trauen sich kaum, sie anzusprechen. Jeder sehnt sich nach Personal – sie eingeschlossen, wenn sie mal wieder nur Joghurt und einen Apfel isst. Aber: sie ist glücklich! Und hat das Gefühl, wieder ganz lebendig zu sein!
Für mich ist es wirklich eine schwierige Übung, über leichtere Unordnung oder schlammige Katzenpfötchenabdrücke auf dem Küchenboden hinwegzusehen. Ich weiss auch nicht, wann ich so geworden bin… Aber es nimmt so viel Energie, wenn man sich morgens erst mal um diese Banalitäten kümmern muss. Wenn die Tage so endlos vor mir liegen, wie es jetzt der Fall ist, fällt es mir leichter, meine Prioritäten anders zu setzen und mich erst mal ganz egoistisch um mich zu kümmern. Das hemmungslose Üben tut mir in jeder Hinsicht gut: trotz der vielen Gartenarbeit, die es schon auch gab, fühlen sich meine Hände fit an wie schon lange nicht mehr. Mein Kopf ist voll von neuer Musik und ständig am angeregten Nachdenken. Und meine Seele fliesst über vor Schönheit und Staunen über die ganzen Wunder um mich herum. Ich sehe Parallelen zwischen dem Garten, der mit Iris, Rosen und Pfingstrosen jetzt von einer unglaublich sinnlichen Schönheit ist, und meiner Musik. Parallelen zwischen den Pfingstrosen auf dem Höhepunkt ihrer Pracht und dem neuen Liszt, den ich angefangen habe: was heisst hier „zu viel?“ Darf’s ein bisschen Duft mehr sein? Noch ein bisschen mehr von der knalligen Farbe? Und wenn wir schon dabei sind, noch ein paar Dutzend zarte Blütenblätter dazu, bis die Blüte vor Üppigkeit ihren Kopf neigen muss? Oder unser breites Irisbeet, das im Abendlicht in allen Farben zu schillern scheint – wenn die betörenden Blüten in einem zarten Windhauch schwanken, sehe ich die chromatischen Seufzer aus dem Petrarca-Sonett direkt vor mir. Und kann von beidem nicht genug kriegen.
Ebenso erfüllend sind die Proben mit meiner Geigenpartnerin, und auch hier ist es das besondere, dass wir ohne Uhr und Druck proben, so lange wir können. Wir kennen uns musikalisch ja noch gar nicht lange, und als wir kürzlich feststellten, dass wir beide grosse Probleme damit haben, uns Dirigenten oder anderen Autoritäten unterzuordnen, dachte ich mir: au wei, das könnte interessant werden – plus und minus zusammen wäre sicher einfacher. Es wurde wirklich interessant, aber in der Hinsicht, dass es von der ersten Sekunde an wortlos funktionierte, als hätten wir schon ein Leben lang zusammen gespielt. Als wir gestern die Brahms-Sonate spielten, waren wir buchstäblich auf jedem Sechzehntel zusammen, und dennoch habe ich mich selten so frei gefühlt. Ich wusste, egal, was ich mache, sie ist da und greift es auf, und ich kann in grösster Freiheit hier verzögern und da anziehen, wie ich will, und trotzdem sind wir eins. Ja, klingt kitschig, aber es war eine seltene bewusstseinserweiternde Erfahrung. Am Ende des Satzes sagte Ulli: so einen Grad an Freiheit wie mit Dir habe ich selten erlebt. Ha! Ich bin auch ganz erstaunt über diese Art zu proben. Wir reden wenig, wir diskutieren praktisch gar nicht, es gibt kaum Bleistifteintragungen – nichts von der Art, was es zäh macht oder die Konzentration angreift. Wir springen einfach mitten rein und sind wortlos in einem schöpferischen Prozess, der uns ständig gegenseitig anregt. Ich denke, das wäre nicht möglich, wenn wir jede auf die Uhr schielen müssten, wann der nächste Schüler kommt.
Ich fühle mich absolut neu belebt und Jahre jünger, ganz ohne teuren Wellness-Urlaub oder ähnlichen Schickschnack, weil ich wieder in Verbindung stehe zu einem wichtigen Teil von mir selbst. Zu oft lässt man solche Fähigkeiten brachliegen, weil man denkt, sie sind fürs Überleben nicht so notwendig wie ein sauberes Bad oder Essen auf dem Tisch – auf Dauer sind sie es doch. Und wenn es mit der Balance im Alltag auch nicht immer klappt, gibt es doch die Aussicht auf die nächsten Ferien und das Bewusstsein: ich MUSS Klavier spielen. Ich bin auf die Welt gekommen, um das zu tun, und ich muss mir den Freiraum schaffen, damit es möglich ist. Und ich darf kein schlechtes Gewissen haben, wenn dadurch vielleicht andere Bereiche im Leben leiden. Männer sind da schliesslich auch schmerzfreier… In diesem Sinne: jedem sein „Zimmer für sich allein“ und die seelische und körperliche Bereitschaft, das auszuleben, was man am besten kann!
Wenn ich den ersten Rhabarber-Baiserkuchen des Jahres in den Ofen schiebe, frage ich mich, wer sich heuer melden wird. Spätestens, wenn die Akeleien in unserem Garten ihre hübschen Glöckchen in allen Lila- und Rosaschattierungen öffnen, stehen sie vor meiner Haustür, die charmanten Nebenfach-Aufnahmeprüfungs- Nachzügler, die ein paar Wochen vor dem grossen Tag merken, dass sie noch ein paar Tips brauchen können. Mir macht das gar nichts, im Gegenteil. Heimlich rechne ich schon mit einigen aus dem Landkreis, die ich von früher kenne oder bei „Jugend musiziert“ gehört habe und die langsam ins passende Alter kommen. Ich kann auch schon für die nächsten drei Jahre vorhersagen, wer das wahrscheinlich sein wird… Doch wenn der erwartete Anruf kommt, kann ich schlecht zu den Eltern sagen: „Ich wusste, dass Ihr anruft!“
Die meisten dieser Schüler kenne ich, wie gesagt, schon lange, und viele sind auch Kollegenkinder, die die Musik buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen haben und ihr Nebenfachinstrument schon seit Jahren pflegen. Am Gymnasium habe ich eine Schülerin, die immerhin ein Jahr vor der Prüfung begonnen hat, Unterricht bei mir zu nehmen. Sie ist eine tolle Musikerin und spielt eigentlich auf Hauptfach-Niveau. Diese Stunden sind das reinste Vergnügen und das Highlight meiner Woche! Für mich ist es sehr bequem: die ganze Basisarbeit hat mir jemand anderes netterweise abgenommen. Es geht nur noch um den letzten Feinschliff, und oft in so einer zeitlich begrenzten und konzentrierten Form, dass die Stunden einfach nur intensiv sind und wie im Flug vergehen. Die Abiturienten sind hochmotiviert, intelligent und zielstrebig – was gibt es Netteres, als mit Menschen in diesem Lebensabschnitt über ihre Pläne zu reden? Und sie sind zeitlich absolut flexibel und bereit, gleich am Morgen zu kommen. Anders könnte ich sie gar nicht in meinen vollen Stundenplan integrieren. Eigentlich fällt diese ganze Unternehmung schon wieder in die Kategorie: „was, für dieses Vergnügen soll ich auch noch Geld bekommen?“
Allerdings merke ich immer mehr, wie alt ich bin, wenn diese Schüler mit mir darüber reden, wie es ist, von zuhause auszuziehen oder wenn sie, mit elf Tagen Vorankündigung, ein Konzert mit mir als Begleiterin ansetzen. Danke, dass Ihr mich daran erinnert, wie spontan ich früher mal war, Ihr Süssen, und wie verknöchert ich heute bin! (Wer ähnlich spontan ist: am Di. dem 22. Mai gibt es um 19 Uhr im Erdinger Johannes-Haus ein sehr schön gespieltes Prüfungsprogramm zu hören – herzliche Einladung!). Und wenn um Weihnachten herum die ersten Briefe vom neuen Leben kommen, mit Berichten über WG- und lustige Kocherfahrungen, komme ich mir einerseits wie eine alte Tante vor, andererseits freue ich mich riesig, noch Kontakt zu diesen besonderen Menschen zu haben. Und wenn mich eine ehemalige Schülerin überraschend am Gymnasium besucht und mir spontan um den Hals fällt, bin ich nur noch gerührt.
Es ist einfach schön, Kinder in jedem Lebensalter zu begleiten. Ich mag meine Erstklässler, die mich ernsthaft fragen, ob ich das Seepferdchen-Schwimmabzeichen auch schon habe, ich mag meine grummeligen Pubertierenden, ich mag die Grossen, die grade Führerschein gemacht haben und flügge werden. Meine Grossen erinnern mich an unsere grade erblühten Gartenblumen, die noch frisch und zart sind und alle wunderbaren Anlagen in sich haben. Wenn ich unsere ersten Schwertlilien sehe oder die zarten Akeleien, wünsche ich ihnen von Herzen, dass kein Gewittersturm einer gnadenlosen Prüfungskommission sie knickt und auch keine scheusslichen Schnecken des Selbstzweifels ihr Fundament annagen und aushöhlen, sondern dass sie in Ruhe und unter perfekten Bedingungen sich entfalten und entwickeln können. Zu ihrer eigenen und zur Freude aller Menschen, die ihre Musik hören dürfen.
Mit diesen Worten bitte ich meine Schüler immer, mich an den Flügel zu lassen, um ihnen eine Stelle kurz vorzuspielen. Dafür, dass sich eigentlich immer das erwünschte „Aha!“-Erlebnis einstellt, mache ich es viel zu selten. Eine sinnliche Wahrnehmung, die sich ein paar Zentimeter vor ihren Augen abspielt, hilft den Schülern viel schneller zum Verständnis als die langatmigsten Erklärungen. Irgendwie hatte ich immer den Anspruch, ohne viel Demonstrieren neben dem Klavier zu sitzen und alles mit Worten zu erklären. Warum, weiss ich gar nicht genau. Vielleicht haben wir im Methodik-Unterricht gehört, dass das die höherstehende Art ist, zu unterrichten. Vielleicht, weil meine eigenen Lehrer relativ wenig vorgemacht haben (obwohl wir meistens luxuriöserweise zwei Flügel zur Verfügung hatten) – bis auf meine letzte Professorin, bei der ich nach dem Diplom die Fortbildungsklasse besuchte. Sie spielte viel und wunderschön vor, und jedes Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich wusste: ja, genau so ist es gemeint.
So viele Erfahrungen kommen inzwischen aus zweiter Hand: wir sehen fern und bilden uns ein, etwas erlebt zu haben – dabei sitzen wir passiv und allein zuhause, während wir anderen beim vermeintlichen Leben zusehen. Wir schreiben Mails und denken, sie ersetzen die echte Erfahrung, eine liebe Stimme mit allen ihren Nuancen und Atemgeräuschen am Telephon zu hören – dabei schaffen wir es nur nicht, in unserem übervollen Alltag Raum für solche Begegnungen zu finden. Wir lesen Blogs und kommentieren auf ihnen, oft über Kontinente hinweg, und bilden uns ein, nicht allein zu sein und genügend soziale Kontakte zu haben – auch wieder, weil sich das besser und zu unorthodoxen Zeiten in den Tagesplan integrieren lässt als eine echte Begegnung mit einer echten Umarmung. Und die Kinder: statt wie wir Schule oder Mama-Papa-Kind zu spielen oder draussen unterwegs zu sein, werden sie vor irgendwelchen elektronischen Geräten geparkt, weil das Zeitfenster zwischen Schule, Hausaufgaben, Ergotherapie und Fussball keine echten Kontakte mehr zulässt. Ihre Spiele sind eindimensionale Bildschirmspiele, die der Intelligenz nicht unbedingt zuträglich sind. Dabei sehnen sich gerade Kinder nach Greifbarem, Echten, Lebendigen, im echten Leben und in der Musik. Zu seinem Leidwesen wollen viele meiner kleineren Schüler unser Katertier anfassen – anschauen reicht für Kinder nicht. Und am Klavier ist es ähnlich: manche wollen nicht nur hören, sondern ihre kleine Hand auf meine legen, während ich spiele. Am Anfang fand ich das ganz seltsam – die Idee kam von einer Schülerin – , aber manche Kinder brauchen anscheinend diese auf vielen Ebenen spürbare Art des Erkennens.
Wenn ich zuhause unterrichte, vermeide ich das Vorspielen oft, weil es ein kompliziertes Stühlerücken etc. beinhaltet. Aber das sollte mich nicht mehr abhalten – die vielen positiven Erfahrungen der letzten Wochen sprechen für sich. Der üblichste Kommentar ist immer ein geschocktes „Was, so schnell?“. Häufig höre ich auch „Ich wusste gar nicht, dass das so schön klingen kann“. (Oder mein liebstes: „Was, Sie können das auch spielen?“) Auf jeden Fall spüre ich immer ein unmittelbares Verständnis und den Drang, es sofort selber auszuprobieren. Wir müssen uns auch immer wieder klarmachen: wo hören unsere Schüler überhaupt noch Livemusik? Wann stehen sie neben einem lebendigen Instrument aus Holz, das schwingt und bebt? Wenige meiner Schülereltern spielen selber, und viele meiner Schüler gehen nicht in Klavierabende oder ähnliches. Woher sollen sie also die Idee haben? Es ist so leicht für mich, ihnen dieses Idealbild anschaulich zu demonstrieren. Also in Zukunft: weniger Worte, mehr zum Anfassen. (Und mich macht es ja auch glücklich, zwischendurch die Tasten zu spüren!)
Können wir zu einem späteren Zeitpunkt etwas nachholen, das wir versäumt haben? Können wir verpasste Lebenszeit nachholen?
Mein eigenes Leben zeigt, dass die Entscheidung für eine Sache immer auch die Entscheidung gegen eine andere ist. Einfach, weil sich manches nicht simultan erleben lässt. Ich habe in der Schule Französisch gelernt, kann aber nicht italienisch sprechen. Ich war noch nie in England, kenne mich aber in Frankreich aus. Wir sind aufs
Land gezogen und geniessen es, jeden Morgen im Grünen und bei Vogelgesang aufzuwachen – aber der Weg nach München ist weit. Unser Leben ist bestimmt davon, Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen. Manchmal übernimmt es das Schicksal, uns zu diktieren, was wir tun müssen, manchmal können wir selber ein Wörtchen mitreden.
Unseren Kindern geht es nicht anders: manchmal hält eine akute Erkrankung sie davon ab, in die Klavierstunde zu kommen. Manchmal sind es von der Schule auferlegte Aktivitäten wie Wandertag, Schullandheim, Skilager. Manchmal ist es die ganz bewusste und eigene Entscheidung, am Klavierstundentag an einer attraktiveren Veranstaltung teilzunehmen. Wie auch immer: in der Zeit, in der sie die Klavierstunde versäumen, geht für die Kinder das Leben ja weiter – bestenfalls machen sie
wertvolle Erfahrungen. Ist es überhaupt möglich oder sinnvoll, diese bereits erlebte Lebenszeit nochmal erleben zu wollen in Form einer Nachholstunde? Oder muss man akzeptieren, dass man sich aus welchem Grund auch immer für das andere entschieden hat und einfach nicht alles haben kann?
Ich hoffe, Ihnen als zahlenden Eltern kommen meine Überlegungen nicht zu eigennützig vor. Anlass dafür ist, dass ich in den Faschingsferien 17 Nachholstunden zu geben hatte und einfach ins Grübeln gekommen bin. Nachdem ich mich bei Kollegen umgehört habe und auch die Schulordnungen der Musikschulen Rosenheim und Ebersberg studiert habe, bin ich zu folgendem Entschluss gekommen:
Bitte betrachten Sie die Unterrichtsgebühr als Jahresgebühr und nicht als Bezahlung für eine bestimmte Anzahl von Stunden. In Anlehnung an die übliche Praxis werden Klavierstunden, die vom Schüler abgesagt werden, in Zukunft nicht mehr nachgeholt. Sie können gern versuchen, in der betreffenden Woche mit einem anderen Schüler zu tauschen. Die Wochenenden und Ferien will und muss ich in Zukunft freihalten, um Freiraum fürs eigene Üben und Proben mit Kollegen zu gewährleisten.
Sollte ein Schüler länger erkrankt sein, werden die Stunden zurückerstattet.
Ebenfalls, wenn ich wegen Krankheit absagen sollte.
Und bedenken Sie: Sie bezahlen mich dafür, mich eine gewisse Zeit pro Woche musikalisch mit Ihrem Kind zu beschäftigen. Sollte das Kind verhindert sein, hält Sie nichts davon ab, in dieser Zeit selber zu mir zu kommen. Wir können bei einer Tasse Kaffee über den Fortschritt und Pläne für Ihr Kind sprechen, ich kann Ihnen aber auch die ganze Zeit lang etwas vorspielen, was Sie gern hören. Sie können auch Ihre eigenen Eltern oder Geschwister des Schülers zu mir bringen für ein Wunschkonzert oder eine Schnupperstunde – die bezahlte Zeit muss für Sie nicht verloren sein und ich bin ganz flexibel!
Zu unseren Sommerkonzerten im Juli hatten wir von kühlen Regenschauern bis subtopischer Hitze schon jedes mögliche Wetter. Zur Jugend-musiziert-Zeit Ende Januar hingegen ist es zuverlässig sehr kalt. Es hat meistens Schnee und, wie jetzt, tagelangen Dauerfrost. Die Strassen sind trocken und weiss vom Salz. Trotzdem will ich bei den vielen Gelegenheiten, bei denen ich jetzt im Auto sitze, nicht brettern: mittags sitzen manchmal Raubvögel auf der Strasse, die sich – aus Schwäche oder Kälte? – nur langsam erheben, und nachts fangen meine Scheinwerfer oft wunderschöne Füchse auf Futtersuche ein.
In den letzten acht Tagen hatten wir drei Extra-Konzerte für Jugend musiziert, damit die teilnehmenden Schüler am Samstag dann ganz gelassen sein können. Der Vorspielabend, den ich vorgestern im Gymnasium organisiert habe, war besonders schön. Nach dem Motto „Klasse statt Masse“ spielten nur sechs meiner Schüler, aber dafür richtig lang und richtig gut. Für mich sind solche Abende bei aller Anstrengung, die damit verbunden ist, der reinste Genuss. Es tut gut, dann einen Schritt zurückzutreten, nur Zuhörer zu sein und die Schüler aus einer anderen Perspektive zu sehen. (Fast hätte ich wieder „Kinder“ geschrieben, aber als mir eine Sechzehnjährige beim Konzert letzten Samstag zum ersten Mal im Abendkleid und mit schicken Schuhen entgegenkam, musste ich erkennen, dass sie nicht mehr nur auf dem Weg zum Erwachsensein ist, sondern fast angekommen.) Der Abend war so rundum schön, dass ich mir wieder dachte, was für ein Privileg es ist, solche Kinder zu kennen und mit ihnen Musik machen zu dürfen. Und wie schön es ist, dass es junge Menschen gibt, die sich ernsthaft und auf hohem Niveau mit einer Sache beschäftigen. Egal, was es ist – ich finde es immer schön, wenn jemand mit Herzblut dabei ist, egal, ob der Brezeln verkauft oder eine Chopin-Etüde spielt.
Die Rose habe ich von einer Klavierschülerin bekommen, die unabhängig vom Wettbewerb das Mendelssohn-Violinkonzert vorspielen wollte. Ich gab ihr Gelegenheit dazu und übernahm den Orchesterpart – dafür stand sie dann mit der Rose vor mir. Diese Geste und ihre lieben Worte freuen mich mehr als jedes dicke Honorar! Und so ein schönes Konzert zu spielen ist für mich auch ein willkommener Ausflug aus dem Alltag. Danach hatte ich das Gefühl, ich war ganz weit weg gewesen – in einem Traum oder auf einer Reise…
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Jugend-musiziert-Wetter bedeutet auch, dass uns täglich viele Vögel draussen am Futterplatz besuchen. Zu Bärlis Freude. Für ihn ist das wie Fernsehen. Die einzelnen Gäste werden auch ausgiebig kommentiert, aber nicht gejagt oder gegessen. Besonders mögen wir beide das herzige Rotkehlchen, und Bärli natürlich die diversen Meisen, weil sie so nett an ihren Knödelchen balancieren. Gestern froren wir aber beide vor Schreck ein, ich am Frühstückstisch, er am Boden vor der Tür, als wir uns zum ersten Mal Aug in Auge mit dem Kernbeißer sahen. Ich hatte schon immer Angst vor dem Kernbeißer. Als Kind sah ich ihn regelmässig am Futterhäuschen bei Oma und Opa und fand seinen Schnabel einfach gruselig. Und dann sein lateinischer Name im Vogelbuch – Coccothraustes coccothraustes, brrrr! Ich hoffe, dass diese Begegnung die erste und die letzte hier bleibt!
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Doch noch zu einem erfreulicheren Januarereignis: die beste Zeit für richtig reife und aromatische Orangen nutze ich aus, um Marmelade zu machen. Da die Früchte erst mal lang als ganzes gekocht werden, ist das Haus den ganzen Tag mit köstlichen Gerüchen erfüllt. Und vom vielen Schalenschneiden verströmen die Finger noch bei der abendlichen Bettlektüre einen zarten Orangenduft. Es gibt kaum was Schöneres an einem sonnigen, frostigen Tag, als die Süsse der Früchte auf diese Weise einzufangen. Und mit 26 Gläsern sind die Mitbringesl der nächsten Wochen gesichert!
Auf der Suche nach einer Klavierschule für Erwachsene stiess ich auf Pamela Wedgwoods „Es ist nie zu spät, Klavier zu lernen“. Nicht nur, dass meine Schüler und ich die „Jazzin‘ about“ – Reihe von ihr schätzen und lieben – ich war begeistert von diesem lustigen und positiven Titel. Erwachsene sind ja oft etwas ängstlich oder voller Zweifel, ob sie’s wirklich anpacken sollen, und da verbreitet so eine Überschrift gleich die nötige positive Grundeinstellung. Jetzt geht diese Klavierschule in die erste Testphase hier bei mir – ich muss sagen, die erste Stunde mit der Begleit-CD war schon mal richtig nett und motivierend. Der Knackpunkt einer Klavierschule ist für mich immer, wie man den Übergang von der Schule ins richtige Leben, sprich: zu Originalliteratur, schafft. Wie gut gerüstet man technisch ist, wie gut die Unabhängigkeit der Hände vorbereitet wurde, wie gross der Tonumfang ist, den man kennengelernt hat, ohne dass ich zu viele Extrainformationen oder spezielle Übungsstücke beisteuern muss… Ich bin auf jeden Fall gespannt darauf, für meine Erwachsenen, die ich bisher immer mit Kinderschulen traktiert habe, ein Heft ohne Teddybären und Mäuse kennenzulernen!
(Von den Schulen für Erwachsene, die zur Zeit auf dem Markt sind, überzeugt mich keine hundertprozentig, im Gegenteil: nachdem ich sie mit mehreren Schülern ausprobiert habe, verlasse ich mich auf die Kinderschulen).
Auf der Fahrt nach Erding habe ich immer Zeit, meine Gedanken wandern zu lassen. Der geniale Titel ging mir nicht aus dem Kopf. Je mehr ich drüber nachdachte, desto allgemeiner und philosophischer wurde er. Im Grunde genommen entlarvt er eine grosse, bequeme Ausrede für viele Dinge im Leben. Ab einem gewissen Alter ist es einfacher, zu behaupten, für manche Dinge wäre es zu spät. Dabei wollen wir uns nur nicht zu sehr anstrengen! Zwei Dinge, bei denen ich mir bequemerweise vormache, es wäre zu spät: anständig italienisch zu lernen, und sich endlich mit dem Zehnfingersystem zum Schreiben vertraut zu machen.
Doch es ist nie zu spät, um
– weniger Schokolade zu essen
– einen lieben Brief zu beantworten
– endlich eine lange geplante Einladung auszusprechen
– den Schrank mit Zeug im Keller auszumisten
– eine bewunderte Geigerin ganz schüchtern zu fragen, ob sie mal mit mir spielen will, und erstaunt festzustellen, dass sie das seit Jahren auch will
– völlig unbekannte Literatur dafür auszusuchen und festzustellen, dass Clara Schumanns Romanzen op.22 wahre Juwelen sind
Nach acht Wochen Erkältung und Husten, in denen ich nur zwei Tage Unterricht abgesagt habe, lag ich über Weihnachten mit einer Lungenentzündung flach. Jetzt hatte ich genug Zeit, über mein falsch verstandenes Pflichtbewusstsein nachzudenken und mich zu fragen, was wirklich dahinter steckt: die Angst, ein schlechtes Vorbild für meine Schüler zu sein, wenn ich bei jedem Wehwehchen absage, oder das Grausen vor unendlich vielen Nachholstunden oder komplizierten Rücküberweisungen des Honorars.
Es ist wohl eine Kombination aus beidem. Ich erwarte von meinen Schülern ja auch, dass sie sich manchmal zusammenreissen, und um glaubhaft zu sein, muss ich selber das leben, was ich von ihnen verlange: pünktlich sein, vorbereitet sein, selber auftreten und Konzerte spielen, überzeugt davon sein, dass wir Musik unter die Leute bringen müssen, und: eben nicht wegen jeder Kleinigkeit abzusagen. Und vor den Eltern möchte ich auch nicht als diejenige dastehen, die ein paar Mal im Halbjahr absagt oder die Stunden verschiebt.
Und dann ist da das Problem, das alle Selbständigen kennen: kommt man mit Nachholstunden nicht mehr nach (was schnell der Fall ist, da fast jeder Schüler von sich aus auch mal absagen musste), bleibt nur die Rückerstattung, also der Verdienstausfall. Das kann sich schnell summieren und auch ein Grund sein, unvernünftigerweise durchzuhalten. In den letzten Wochen habe ich meinem Körper wirklich Gewalt angetan und mich fühlbar krank zu allen möglichen Veranstaltungen geschleppt. Ich musste bitter dafür bezahlen, indem ich meine liebste Zeit des Jahres nur wie im Nebel mitbekommen habe und die Weihnachtstage fast komplett neben dem geliebten Christbaum verschlafen habe. Das soll nicht mehr vorkommen! In meinem Budget berücksichtige ich, typisch deutsch, das Auto, die Steuer, die Sondertilgung fürs Haus, die Absicherung für eine ferne Zukunft als Rentnerin – doch es gibt keinen Posten, der auf mich und eventuelle ungünstige Lebenslagen in der Gegenwart Rücksicht nimmt. Ein zusätzliches Krankentagegeld würde ungefähr ein Drittel meines kompletten Krankenkassenbeitrags in Anspruch nehmen und bringt ja nichts bei einer zweiwöchigen Erkältung. Also muss ich mich selber kümmern und einfach was ansparen für den berühmten „rainy day“, an dem man aus welchem Grund auch immer nicht in der Lage ist, zu arbeiten.
Zufällig fällt diese Einsicht in die Zeit der allgemeinen guten Vorsätze. Dann kann ich gleich noch hinzufügen, dass ich in Zukunft etwas netter zu meinem Körper sein sollte und nicht stolz darauf, trotz allem immer weiterzukämpfen. Was einen dann umbläst, ist wesentlich unangenehmer als zuzugeben, dass man auch nur ein Mensch ist.
Und noch was habe ich gelernt: auch wenn nicht alles hunderprozentig perfekt vorbereitet war und manches ganz ungewohnt erst in allerletzter Minute fertig wurde – Weihnachten ist doch gekommen, und irgendwie war das, was ich davon mitbekommen habe, doch schön. Das Haus muss nicht noch toller aussehen – ein paar Lichterketten, ein Kranz an der Tür und ein bisschen Dekoration auf dem Kaminsims reichen. Vier Sorten Plätzchen sind mehr als genug. Der Baum ist wunderschön mit sechs roten und zwölf goldenen Kugeln und kleinen Schülergeschenken dran – dieses Jahr waren es viele wunderschöne Origami-Sterne. Der geschenkte Dresdner Stollen schmeckt besser als die sechs, die ich jedes Jahr backe. Die Schüler-Weihnachtsfeier funktionierte auch mit gekauften Lebkuchen und Chips und einem lockereren Programm. Tatsächlich war dieses Weihnachten nicht spürbar schlechter als sonst, obwohl ich mir höchstens 10% des üblichen Vorbereitungsstress machte. Das darf so bleiben!
Die Bilder sind von einem Adventsausflug nach Salzburg (nach dem Motto: Husten in Österreich…). Mir gefällt die schlichte, aber wunderschön frische Dekoration in grün und weiss!
Immer noch bin ich am genussvollen Abarbeiten meiner Liste von Stücken, die ich seit langem spielen wollte. Das „Vallée d’Obermann“ aus den „Années de Pèlerinage“ gehört schon seit Jahren dazu. Und wenn man mal angefangen hat und merkt, wie viel Spass es macht, fragt man sich ernsthaft, warum man so lange gewartet hat. Oktaven und Dezimen machen mir normalerweise keine Probleme, und nach den üblichen Anfangsschwierigkeiten fühlte ich mich sehr wohl bis auf – tja, bis auf diese eine Stelle, die ich Tag für Tag wieder probierte und unverhältnismässig lang übte. Und noch mal und anders probierte. Trotzdem wurde es nicht besser, im Gegenteil: ich wusste kaum, wie ich sie greifen, geschweige denn wie ich die Oberstimme zum Klingen bringen sollte. Langsam war es zum Haareraufen, und so nahm ich eines Tages die Noten mit in die Schule, um einen Kollegen um Rat zu bitten. Es stellte sich heraus, dass er das Stück im Repertoire hat, dass es sogar sein Leib- und Magenstück ist. Und diese Stelle spielt er einfach – so. Ich starrte ungläubig auf seine Hände, als er auswendig, ganz locker und mit einem wunderschönen Klang die unspielbaren Takte quasi aus dem Ärmel schüttelte. Meine Güte. Und einen Rat konnte er mir eigentlich auch nicht geben, da die Stelle für ihn kein Problem ist. Ein kurzer Vergleich unserer Hände – sehr ernüchternd! – liess mich einsehen, dass es einfach an den anatomischen Gegebenheiten liegt.
Und das warf für mich zwei Fragen auf: sind wir hier tatsächlich an den Grenzen der Gleichberechtigung angekommen? Und: kann man sich jemals so in einen anderen hineinversetzen, dass man ihm wirklich helfen kann?
Im Vorfeld meiner Studien sozusagen, falls man es so nennen darf, dass man sich viel zu lang auf Youtube tummelt, war mir aufgefallen, dass es relativ wenige Aufnahmen des Obermann von Frauen gibt. Ich glaube, ich weiss jetzt, warum…. Dazu passend las ich am 20. 10 11 in der „Süddeutschen Zeitung“ einen Artikel über Neuaufnahmen oder Gesamtaufnahmen von Liszt zum Jubiläumsjahr. Alle sechzehn erwähnten Einspielungen stammen von Männern. Auch wenn eine sechsjährige Schülerin von mir findet, dass Liszt wegen seiner Frisur „wie ein Mädchen“ aussieht, hat man doch immer das Bild des grossen Verführers und Frauenhelden im Hinterkopf und meint deshalb vielleicht, dass ein männlicher Pianist seine Werke stimmiger und überzeugender interpretieren kann. Es gibt ja viele Stücke von ihm, die Etüden etwa, die Männer und Frauen gleichermassen spielen. Aber es scheint doch spezifische Ausnahmen zu geben, und ausgerechnet mein angepeiltes Stück gehört möglicherweise dazu. Muss ich einsehen, dass die Aufgaben für die Geschlechter ganz streng verteilt sind? Nach dem Motto: Du spielst Liszt, ich krieg die Kinder? Nein, ganz so ist es nicht, wie glücklicherweise der Geburtstagsabend von Liszt auf Arte zeigte: in einer Sendung über seine erste Lebenshälfte tauchten Richter und Brendel nur am Rande auf. Der Grossteil der Sendung wurde von den Pianistinnen Adrienne Krausz und Muza Rubackyté bestritten, die sich scheinbar mühelos quer durch Liszts Oeuvre spielten. Da sie auf historischen Instrumenten spielten, klang es natürlich delikater, als wenn zum Beispiel Richter mit ganzer Wucht zulangt. Trotzdem war es für mich ein überzeugender und gültiger Liszt. Und ein Ansporn, mich selber ein bisschen mehr anzustrengen!
Die anderen Grenzen sind fast noch unergründbarer: wie kann ich mich wirklich so in einen Schüler hineinversetzen, dass ich ihm eine sinnvolle Hilfestellung geben kann? Nicht, dass ich in nächster Zeit in der Verlegenheit wäre, dieses Stück mit einem meiner Schüler durchzunehmen, aber wenn, dann würde ich es nur mit jemand machen, der mindestens so grosse Hände hat wie ich. Bei allen anderen hätte ich Angst, dass sie sich etwas zerren oder überanstrengen und selber nicht wissen, wo der Punkt ist, an dem man aufhören soll. Man muss seinen Körper wirklich gut kennen für solche extremen Stücke oder andere anstrengenden Stellen. Wie bei ungewohnten Gymnastikübungen kann es am Anfang ziehen oder sogar leicht wehtun, bis man sich nach ein paar Tagen an die Belastung gewöhnt hat und die Zeit, in der man sich mit solchen Stellen aufhält, ausdehnen kann. Oder das Tempo ändern kann. Ich weiss genau, wie lange der Schmerz „angenehm“ ist und ab wann es gefährlich wird, und ich weiss auch, wie ich diese Grenzen vorsichtig täglich erweitern kann, bis ich drüberstehe. Bei einem Schüler hätte ich Angst, dass er es vor lauter Enthusiasmus übertreibt und dann vielleicht wochenlang an einer Sehnenscheidenentzündung leidet. Selbst wenn ich irgendwann weiss, wie ich selber diese „extremen“ Takte spielen soll, gestehe ich mir nicht zu, dass ich das auch jemand anderem erklären kann, der sonst noch nicht auf dem Niveau dieses Stückes ist. Das ist ganz sicher eine meiner Grenzen als Lehrerin, einfach, weil ich normalerweise keine so fortgeschrittenen Schüler unterrichte und darin keine Routine habe. Trotzdem sollte ich auch bei einfachsten Manövern mit Anfängern immer wieder bedenken, dass ich nicht genau weiss, was der kleine Mensch für ein Körpergefühl oder für eine Wahrnehmung
hat. Da hilft nur: immer wieder nachfragen und alle Antennen auszufahren.
Es ist noch relativ leicht, sich intellektuell in einen anderen hineinzuversetzen. Wenn ich eine Schülerin frage, welche Vorzeichen sie für E-Dur braucht und sie antwortet „3-4, 7-8“, erkenne ich, dass sie zwei glücklicherweise verwandte Konzepte durcheinander gebracht hat, die wir schnell in ihrem Kopf sortieren können.
Wenn aber jemand klagt, dass ein bestimmter Griff wehtut, muss ich umfangreicher nachfragen: wann tut es weh? Überhaupt oder wenn man ihn öfter wiederholt? Sofort oder erst, wenn man die Stelle im Tempo spielt? Wo genau tut es weh, in der Hand, im Unterarm, und wo genau im Arm? Und wie schlimm? Wäre es auszuhalten, erst mal langsam mit den Takten anzufangen, oder geht es gar nicht? Klavierspielen soll generell nicht wehtun, und jeder Schmerz ist ein Warnsignal, dass wir dabei sind, Grenzen zu überschreiten. Ich finde es nach wie vor sehr heikel, für jemand anderen spüren zu wollen, wann es zu viel ist, und im Zweifelsfall legen wir das Stück lieber
zur Seite und nähern uns dem Problem erst mal auf anderen Wegen, mit kleinen Etüden oder anderen passenden Vorübungen. Und manchmal hilft es bei Schülern, die noch heftig dabei sind, zu wachsen, einfach ein Jahr abzuwarten – in einem gewissen Alter muss man sich immer wieder bewusst machen, dass diese Menschen noch in der Entwicklung begriffen sind und in ein paar Monaten auf natürliche Weise ganz andere Möglichkeiten haben. In solchen Fällen muss ich mich selber an den Spruch erinnern, dass man nicht an einem Grashalm ziehen soll, wenn man will, dass er wächst.
Ganz schwierig finde ich es, mich in die Gefühlswelt eines anderen versetzen zu wollen. Manchmal gibt es spürbare psychische Barrieren, die einen reibungslosen Unterrichtsablauf beeinträchtigen, und es ist heikel, zu entscheiden, wann man das thematisieren oder sich überhaupt einmischen darf. Ich meine nicht die gan normalen Tage, an denen ein Schüler in gedrückter Stimmung ankommt, weil er eine Klassenarbeit verhagelt hat oder ihm sonst eine kleine Laus über die Leber gelaufen ist. Meistens schafft es der Szenenwechsel und die Tatsache, dass man sich mit etwas anderem beschäftigt, dass nach ein paar Minuten wieder alles beim alten ist.
Manchmal muss der Schüler auch verbal Dampf ablassen über die Ungerechtigkeiten seiner Welt – die zwei Minuten Unterrichtszeit opfere ich gern, wenn wir uns
danach wieder aufs Musikmachen konzentrieren können. Schwieriger sind unterschwellige Blockaden, die ein Kind davon abzuhalten, sich nach seinen Möglichkeiten einzubringen. Manchmal wird damit der einseitige Wunsch der Eltern, dass Klavier gespielt wird, sabotiert. Manchmal ist es eine mehr oder weniger bewusste Ablehnung eines Lebensstils, mit dem sich der Schüler nicht identifiziert. Es können Minderwertigkeitsgefühle sein, weil der Schüler meint, im Vergleich mit anderen schlecht abzuschneiden. Es kann eine Abneigung gegen einen bestimmten Komponisten sein. Oder, ganz schlecht: das Klavierspielen fällt dem Kind aus irgendeinem Grund immer schwer, egal, was es versucht, es möchte aber, weil es ein gutes Kind ist, mir und den Eltern alles recht machen, kommt bei allen Anstrengungen auf keinen grünen Zweig und wird immer deprimierter. Was in der Seele eines anderen vorgeht, offenbart sich nicht auf den ersten Blick. Vieles soll ja auch privat bleiben. Doch wenn ich über Monate merke, dass irgendein Knoten uns an den Fortschritten behindert, bleibt es nicht aus, dass ich mir Gedanken mache. Falls ein Kind von sich aus reden möchte, höre ich gerne zu. Manchmal wird der Unterricht aus vorgeschobenen anderen Gründen beendet – auch in Ordnung, wie gesagt, ich möchte mich nicht komplett ins Familienleben meiner Schüler einmischen. Und manchmal spüre ich direkt die Erleichterung, wenn ich einem Schüler vorschlage, ein halbes oder ganzes Jahr Pause zu machen, weil es zur Zeit nicht so gut läuft. (Und: die meisten sind wieder gekommen!).
Vielleicht ist es ganz gut und diskreter, wenn es hier Grenzen gibt. Bei allen anderen können wir vorsichtig versuchen, sie auszuweiten, damit wir sie eines Tages ganz überschreiten können – sowohl beim eigenen Spielen als auch beim Unterrichten.
P.S.: Noch mal zum grossen Virtuosen: ein kleines Privileg hat die Damenwelt immerhin, eine Art Doping… Kürzlich bekam ich eine Parfümprobe eines sehr blumigen und sinnlichen Parfüms von „Acqua di Parma“. Kurz nach dem Auftragen am Morgen entschied ich, dass der Duft für mich im Alltag absolut nichts wäre. Beim Liszt-Üben nahm ich ihn immer wieder wahr und fand ihn immer passender, so altmodisch und süss, wie aus einer vergangenen Zeit, als es noch keine Unisex-Düfte gab und Damen nach einzelnen, betörenden Blüten dufteten. Das Parfüm ist so unüblich, so sehr „too much“ wie manche Stücke von Liszt. Und auch so eindeutig zu definieren – fü Chopin bräuchte man einen viel zarteren und aus viel mehr Bestandteilen zusammengesetzen Duft, einen ungreifbareren. Diese Iris hier sagt in all ihrer Süsse ganz klar und selbstbewusst: hier bin ich, so bin ich, jetzt berauscht euch an mir. Für mich die perfekte Ergänzung zu Liszt! Da der Duft sehr intensiv ist, kann ich mit meiner kleinen Probe noch ein paar inspirierende psychedelische Übetage verbringen.