Diese Ferien waren die aufregendsten seit langem, weil ich Zeit und Musse hatte, einfach endlos viel Klavier zu spielen. Ich habe es so vermisst! Ich mag meine Schüler, aber manchmal muss ich aufpassen, dass ich nicht nur Lehrerin bin, sondern auch am Kern der Sache dranbleibe. Im Schulalltag ist es schwierig, denn wenn schon, will ich es richtig machen, und zwar alles: bei der netten Frau Sommerer sind die Fenster geputzt und die Teppiche sauber, es riecht nach frisch gebackenem Brot und die Orchideen sind gewässert, und sie hat Zeit und Geduld für die Probleme ihrer Schüler. Die wilde Frau Sommerer setzt sich gleich morgens ans Klavier und spielt rücksichtslos. Das Haus verkommt, Mann und Kater schleichen leise und betrübt um den leeren Kühlschrank / Napf und trauen sich kaum, sie anzusprechen. Jeder sehnt sich nach Personal – sie eingeschlossen, wenn sie mal wieder nur Joghurt und einen Apfel isst. Aber: sie ist glücklich! Und hat das Gefühl, wieder ganz lebendig zu sein!
Für mich ist es wirklich eine schwierige Übung, über leichtere Unordnung oder schlammige Katzenpfötchenabdrücke auf dem Küchenboden hinwegzusehen. Ich weiss auch nicht, wann ich so geworden bin… Aber es nimmt so viel Energie, wenn man sich morgens erst mal um diese Banalitäten kümmern muss. Wenn die Tage so endlos vor mir liegen, wie es jetzt der Fall ist, fällt es mir leichter, meine Prioritäten anders zu setzen und mich erst mal ganz egoistisch um mich zu kümmern. Das hemmungslose Üben tut mir in jeder Hinsicht gut: trotz der vielen Gartenarbeit, die es schon auch gab, fühlen sich meine Hände fit an wie schon lange nicht mehr. Mein Kopf ist voll von neuer Musik und ständig am angeregten Nachdenken. Und meine Seele fliesst über vor Schönheit und Staunen über die ganzen Wunder um mich herum. Ich sehe Parallelen zwischen dem Garten, der mit Iris, Rosen und Pfingstrosen jetzt von einer unglaublich sinnlichen Schönheit ist, und meiner Musik. Parallelen zwischen den Pfingstrosen auf dem Höhepunkt ihrer Pracht und dem neuen Liszt, den ich angefangen habe: was heisst hier „zu viel?“ Darf’s ein bisschen Duft mehr sein? Noch ein bisschen mehr von der knalligen Farbe? Und wenn wir schon dabei sind, noch ein paar Dutzend zarte Blütenblätter dazu, bis die Blüte vor Üppigkeit ihren Kopf neigen muss? Oder unser breites Irisbeet, das im Abendlicht in allen Farben zu schillern scheint – wenn die betörenden Blüten in einem zarten Windhauch schwanken, sehe ich die chromatischen Seufzer aus dem Petrarca-Sonett direkt vor mir. Und kann von beidem nicht genug kriegen.
Ebenso erfüllend sind die Proben mit meiner Geigenpartnerin, und auch hier ist es das besondere, dass wir ohne Uhr und Druck proben, so lange wir können. Wir kennen uns musikalisch ja noch gar nicht lange, und als wir kürzlich feststellten, dass wir beide grosse Probleme damit haben, uns Dirigenten oder anderen Autoritäten unterzuordnen, dachte ich mir: au wei, das könnte interessant werden – plus und minus zusammen wäre sicher einfacher. Es wurde wirklich interessant, aber in der Hinsicht, dass es von der ersten Sekunde an wortlos funktionierte, als hätten wir schon ein Leben lang zusammen gespielt. Als wir gestern die Brahms-Sonate spielten, waren wir buchstäblich auf jedem Sechzehntel zusammen, und dennoch habe ich mich selten so frei gefühlt. Ich wusste, egal, was ich mache, sie ist da und greift es auf, und ich kann in grösster Freiheit hier verzögern und da anziehen, wie ich will, und trotzdem sind wir eins. Ja, klingt kitschig, aber es war eine seltene bewusstseinserweiternde Erfahrung. Am Ende des Satzes sagte Ulli: so einen Grad an Freiheit wie mit Dir habe ich selten erlebt. Ha! Ich bin auch ganz erstaunt über diese Art zu proben. Wir reden wenig, wir diskutieren praktisch gar nicht, es gibt kaum Bleistifteintragungen – nichts von der Art, was es zäh macht oder die Konzentration angreift. Wir springen einfach mitten rein und sind wortlos in einem schöpferischen Prozess, der uns ständig gegenseitig anregt. Ich denke, das wäre nicht möglich, wenn wir jede auf die Uhr schielen müssten, wann der nächste Schüler kommt.
Ich fühle mich absolut neu belebt und Jahre jünger, ganz ohne teuren Wellness-Urlaub oder ähnlichen Schickschnack, weil ich wieder in Verbindung stehe zu einem wichtigen Teil von mir selbst. Zu oft lässt man solche Fähigkeiten brachliegen, weil man denkt, sie sind fürs Überleben nicht so notwendig wie ein sauberes Bad oder Essen auf dem Tisch – auf Dauer sind sie es doch. Und wenn es mit der Balance im Alltag auch nicht immer klappt, gibt es doch die Aussicht auf die nächsten Ferien und das Bewusstsein: ich MUSS Klavier spielen. Ich bin auf die Welt gekommen, um das zu tun, und ich muss mir den Freiraum schaffen, damit es möglich ist. Und ich darf kein schlechtes Gewissen haben, wenn dadurch vielleicht andere Bereiche im Leben leiden. Männer sind da schliesslich auch schmerzfreier… In diesem Sinne: jedem sein „Zimmer für sich allein“ und die seelische und körperliche Bereitschaft, das auszuleben, was man am besten kann!