Wenn ich den ersten Rhabarber-Baiserkuchen des Jahres in den Ofen schiebe, frage ich mich, wer sich heuer melden wird. Spätestens, wenn die Akeleien in unserem Garten ihre hübschen Glöckchen in allen Lila- und Rosaschattierungen öffnen, stehen sie vor meiner Haustür, die charmanten Nebenfach-Aufnahmeprüfungs- Nachzügler, die ein paar Wochen vor dem grossen Tag merken, dass sie noch ein paar Tips brauchen können. Mir macht das gar nichts, im Gegenteil. Heimlich rechne ich schon mit einigen aus dem Landkreis, die ich von früher kenne oder bei „Jugend musiziert“ gehört habe und die langsam ins passende Alter kommen. Ich kann auch schon für die nächsten drei Jahre vorhersagen, wer das wahrscheinlich sein wird… Doch wenn der erwartete Anruf kommt, kann ich schlecht zu den Eltern sagen: „Ich wusste, dass Ihr anruft!“
Die meisten dieser Schüler kenne ich, wie gesagt, schon lange, und viele sind auch Kollegenkinder, die die Musik buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen haben und ihr Nebenfachinstrument schon seit Jahren pflegen. Am Gymnasium habe ich eine Schülerin, die immerhin ein Jahr vor der Prüfung begonnen hat, Unterricht bei mir zu nehmen. Sie ist eine tolle Musikerin und spielt eigentlich auf Hauptfach-Niveau. Diese Stunden sind das reinste Vergnügen und das Highlight meiner Woche! Für mich ist es sehr bequem: die ganze Basisarbeit hat mir jemand anderes netterweise abgenommen. Es geht nur noch um den letzten Feinschliff, und oft in so einer zeitlich begrenzten und konzentrierten Form, dass die Stunden einfach nur intensiv sind und wie im Flug vergehen. Die Abiturienten sind hochmotiviert, intelligent und zielstrebig – was gibt es Netteres, als mit Menschen in diesem Lebensabschnitt über ihre Pläne zu reden? Und sie sind zeitlich absolut flexibel und bereit, gleich am Morgen zu kommen. Anders könnte ich sie gar nicht in meinen vollen Stundenplan integrieren. Eigentlich fällt diese ganze Unternehmung schon wieder in die Kategorie: „was, für dieses Vergnügen soll ich auch noch Geld bekommen?“
Allerdings merke ich immer mehr, wie alt ich bin, wenn diese Schüler mit mir darüber reden, wie es ist, von zuhause auszuziehen oder wenn sie, mit elf Tagen Vorankündigung, ein Konzert mit mir als Begleiterin ansetzen. Danke, dass Ihr mich daran erinnert, wie spontan ich früher mal war, Ihr Süssen, und wie verknöchert ich heute bin! (Wer ähnlich spontan ist: am Di. dem 22. Mai gibt es um 19 Uhr im Erdinger Johannes-Haus ein sehr schön gespieltes Prüfungsprogramm zu hören – herzliche Einladung!). Und wenn um Weihnachten herum die ersten Briefe vom neuen Leben kommen, mit Berichten über WG- und lustige Kocherfahrungen, komme ich mir einerseits wie eine alte Tante vor, andererseits freue ich mich riesig, noch Kontakt zu diesen besonderen Menschen zu haben. Und wenn mich eine ehemalige Schülerin überraschend am Gymnasium besucht und mir spontan um den Hals fällt, bin ich nur noch gerührt.
Es ist einfach schön, Kinder in jedem Lebensalter zu begleiten. Ich mag meine Erstklässler, die mich ernsthaft fragen, ob ich das Seepferdchen-Schwimmabzeichen auch schon habe, ich mag meine grummeligen Pubertierenden, ich mag die Grossen, die grade Führerschein gemacht haben und flügge werden. Meine Grossen erinnern mich an unsere grade erblühten Gartenblumen, die noch frisch und zart sind und alle wunderbaren Anlagen in sich haben. Wenn ich unsere ersten Schwertlilien sehe oder die zarten Akeleien, wünsche ich ihnen von Herzen, dass kein Gewittersturm einer gnadenlosen Prüfungskommission sie knickt und auch keine scheusslichen Schnecken des Selbstzweifels ihr Fundament annagen und aushöhlen, sondern dass sie in Ruhe und unter perfekten Bedingungen sich entfalten und entwickeln können. Zu ihrer eigenen und zur Freude aller Menschen, die ihre Musik hören dürfen.