Archiv der Kategorie: am Klavier

Eine Auswahl

DSCF9134Wenn ich mich manchmal frage, warum mir im Alltag der Kopf wirbelt und ich den Wald vor Bäumen nicht sehe, liegt es oft daran, dass ich mich von zu vielen verlockenden Optionen umgeben sehe. Zu viel Auswahl, ein zu grosses Angebot an Ähnlichem, die bekannte Qual der Wahl. Dass das überhaupt ein Problem ist, zeigt, in welchem Wohlstand wir leben… Ich stelle schon seit längerem fest, dass ich den grossen Edeka, an dem ich auf dem Heimweg direkt dran vorbei fahre, lieber links liegen lasse und zu dem kleinen, altmodischen in unserer Siedlung gehe. Ich habe das Gefühl, ich brauche allein schon von der puren Laufstrecke durch den Laden länger, wenn ich in den gigantischen gehe, und ausserdem macht mich das Überangebot an gleichartigen Produkten leicht verrückt. (Und geht es nur mir so, aber – je mehr Joghurtsorten im Kühlregal, desto unauffindbarer die Hefe?)

Mit den Kleidern ist es ähnlich: wer kennt nicht das Gefühl vor dem vollen Kleiderschrank, nichts anzuziehen zu haben. Seit ich je nach Jahreszeit eine andere Auswahl aus meinem Schrank auf die Kleiderstange hänge und den Rest wegräume, tue ich mich leichter. Meine Sommergarderobe ist eher klein. Fünf Kleider, die ich schon beim Kaufen geliebt habe, zwei Röcke, eine Hose und ein paar Oberteile. Jedes Jahr freue ich mich, diese Sachen wieder zu sehen. Und weil man sie nur acht bis zehn Wochen tragen kann, sieht man sich auch nicht satt daran. Ganz anders als mit der Herbst/ Wintergarderobe, der man nach gefühlten 30 Wochen einfach nichts mehr abgewinnen kann. Im März neige ich zu den gefürchteten impulsiven Fehlkäufen… Aber das nur am Rande. Es tut gut und vereinfacht das Leben, sich auf ein paar Farben und gut kombinierbare Teile zu beschränken. Ich empfinde es nicht als Beschränkung, sondern eher als Befreiung, weil ich nicht viel über das, was ich anziehen will, nachdenken muss. Beziehungsweise: einmal intensiv nachgedacht spart später Zeit.

Und lässt einen mehr Zeit haben für andere Organisationsaufgaben nach dem gleichen Motto: jetzt dranbleiben mit Block und Stift und eine Auswahl treffen, um späteren Stress zu vermeiden. Die Idee, die ersten Stunden des neuen Schuljahrs in den letzten Wochen des alten zu planen, wenn man gedanklich noch mittendrin ist, habe ich von Frances Clark, einer geschätzten amerikanischen Klavierlehrerin. Wie genial das ist, habe ich erst kapiert, als ich es das erste Mal gemacht habe. Seit einigen Jahren verfahre ich nun so und freue mich schon direkt auf meine Planungsstunde. Völlig stressfrei breite ich meine ganzen Unterlagen und mögliche neue Hefte auf dem Tisch aus, natürlich mit (mehr als) einer Tasse Tee, und überlege Schüler für Schüler, wie es im neuen Jahr weitergeht, welche Noten eventuell angeschafft werden müssen (Extraliste auf einem anderen Block) und was wir in der ersten Stunde machen. Das ist das Geheimnis für Seelenruhe über die Ferien schlechthin: schon mal skizzieren, wie es losgeht und die entsprechenden Hefte einpacken. Meine Erdinger Schüler werde ich in der ersten Woche mit einhändigen Stücken beglücken – das ist ein lustiger Anfang, aussderdem klingt es so, als sei es leichter… Die Kekskrümel und Taschentücher von einem halben Jahr sind aus meiner Schultasche entfernt, die geplanten ersten Stunden und die Hefte dafür sind drin, und ich spüre schon jetzt einen wunderbaren Seelenfrieden, bevor ich die Kinderchen überhaupt in die Sommerferien verabschiedet habe. Nächste Woche plane ich die Stunden meiner Privatschüler, dann kommt die Mega- Notenbestellung, und dann – Cocktails, Strandparties, der weisse Raffaelo – Werbungs – Badeanzug, was man als Klavierlehrerin halt so macht in den Sommerferien. Nein, nicht wirklich. Aber gefühlt!

Aufgeblüht

DSCF8772Als gäbe es nicht genug zu tun zum Schuljahresende mit all seinen Sommerkonzerten und Schlusskonzerten und den Programmen, die man dafür tippen muss, hat mir das Schicksal für die letzte Vorspielklausur der Elftklässler eine Menge spannender Literatur zum Begleiten beschert. Als würde es mich ermahnen, nicht zu glauben, am 11. Juli seien schon Ferien oder so. Ganz im Gegenteil, da geht es noch mal richtig zur Sache für alle: vor meinem langen Unterrichtsnachmittag habe ich einen ähnlich langen Vormittag in der Schule vor mir. Und während die Begleitaufgaben im Herbst eher konventionell und zum Teil bekannt waren, flatterten mir jetzt drei moderne Stücke ins Fach, die ich tatsächlich noch nicht kenne. Das ist auch immer wieder wichtig und gut für die Demut – ich begleite seit Jahrzehnten Geiger in Prüfungen aller Niveaus, und es gibt immer noch Stücke, die ich noch nie gesehen habe. Und so sitze ich da, übe Schostakowitsch, Stravinsky und Genzmer, frage mich schon ein bisschen, warum nicht wenigstens zwei bitte das gleiche Stück spielen können, finde aber jedes so toll und interessant, dass es auch nichts macht. Für eklige Stellen notiere ich mir Fingersätze in der Hoffnung, dass das Stück vielleicht in einem anderen Jahrgang wieder rausgezerrt wird und ich es dann nur noch aufwärmen muss. Aber sonst hilft nur: Augen zu und durch. Der gewisse Zeitdruck tut gut und es gibt keine Ausreden, warum ich mich morgens nicht gleich als erstes ans Klavier setzen sollte. Was heisst sollte – ich muss einfach, um das Pensum zu schaffen. Die Mendelssohn-Sonate und der Sarasate zwischendurch sind die reinste Erholung, aber sonst wird gezählt und atonale Klänge eingebläut, was das Zeig hält.

Nach dem üblichen Unwillen wegen schon wieder unbezahlter Mehrarbeit komme ich, wie immer wieder, zu der Erkenntnis: es geht nicht um die Bezahlung in Geld. Es geht darum, es einfach zu tun. Was mich schlaucht und verdorren lässt wie eine schrumpelige Pflaume, ist das viele Drumrum, das nichts mit Musik oder Kunst zu tun hat: Stundenorganisation, Verlegungen, Diskussionen mit unwilligen Schülern, Diskussionen mit übereifrigen Eltern – der ganze Alltagskrempel. Das ist es, was einen auslaugt. Wenn ich dann tatsächlich mal am Klavier sitzen und spielen darf, ist alles gut und ich spüre mit jeder Minute, wie ich auflebe und aufblühe. Und diese Geigerinnen, die ich begleite, sind zum Teil sehr gut. Wir müssen nicht proben, um zusammenzusein, sondern können gleich einsteigen ins wirkliche Musikmachen. Können schöpferisch tätig sein und schauen, wie wir dem Werk am ehesten gerecht werden. In solchen Momenten fängt die Zeit an zu fliegen, man vergisst alles um sich, ignoriert die nicht existente Lüftung in den Überkämmerchen und ist einfach in seinem Element. Das tut enorm gut. Man fühlt sich lebendig und verjüngt wie durch kaum was anderes. Weiss wieder, warum man diesen Job macht mit allen seinen Schattenseiten. Deshalb: ja zur Mehrarbeit, wenn es kreative und lebensspendende Arbeit wie grade ist! Auch wenn meine eigenen Sachen mal wieder liegen bleiben – aber immerhin spiele ich.

Im Rückblick muss ich sagen: ich habe wahnsinnig viel gespielt dieses Schuljahr, bin viel aufgetreten, musste immer wieder gut präpariert auf irgendeine Bühne klettern. Aber es waren lauter ungeplante Sachen. Nicht meine Beethovensonate, nicht mein Bach. Die laufen so am Rande mit. Ich fürchte, das ist einfach das Leben, in dem ich jetzt angekommen bin. Grossartig Solospielen ist nur noch mit echter Disziplin drin, und wenn sich die anderen Aufgaben so häufen, werden da am ehesten Abstriche gemacht. Und zwar nicht aus körperlichen, sondern akustischen Gründen: man kann nur so und so viele Stunden am Tag ein so lautes Instrument wie meins spielen und hören. Irgendwann wird es selbst mir zu viel. Aber auch wenn es nicht meine Wunschstücke sind: immerhin spiele ich, bleibe lebendig und fit und bleibe in Verbindung mit dem, was mich ausmacht und was mir wichtig ist. Dass das ein Geschenk ist, erkennt man erst, wenn man sich genügend über Genzmer aufgeregt hat…

Die eigene Stimme

DSCF8792Was macht einen guten Klavierspieler, einen bemerkenswerten Musiker aus? Sofort fallen einem mehr oder weniger leicht vermittelbare, physikalisch erklärbare Parameter ein, die sich Interessierte mit der nötigen Disziplin aneignen können: gut trainierte, kräftige Finger, rhythmische Sicherheit, Klangschönheit, die stilsichere Interpretation von Werken unterschiedlicher Epochen, gekonnter Pedalgebrauch, souveränes und sicheres Auftreten auf der Bühne. Zu diesem letzten Punkt gehört ganz wesentlich ein anderer, wichtiger Begriff, der leicht schwammig wirken könnte – ohne den aber alles andere wertlos wäre: dass jemand eine eigene Stimme hat. Und sich auch traut, die hören zu lassen. Sofort wird aus einem guten oder sehr guten oder makellosen Klavierspieler einer, der im Gedächtnis bleibt, weil er einen auf eine ganz bestimmte und persönliche Art berührt hat. Weil er sich selber getraut hat, viel von sich preiszugeben, sich damit verletzlich gemacht hat und uns dadurch an Stellen trifft, an denen wir verletzlich sind.

Nur – wie bringt man das jemand bei? Wie stärkt man das Selbstbewusstsein von Schülern, die vielleicht eher zu den Stillen, Unauffälligen in einer Gruppe gehören? Oder von denen man über die Jahre mitkriegt, dass sie von Eltern systematisch kleingehalten werden? Äusserungen wie „ich hab’s ja gewusst“ oder „ich hab ja nur drauf gewartet, dass die Stelle schief geht“ tun mir im Herzen weh. Wie muss es da nur den Angesprochenen gehen, die möglicherweise rund um die Uhr solcher Kritik ausgesetzt sind.

Besonders schrillen die Alarmglocken bei mir, wenn jemand sein Kind nicht mal selber antworten lässt. Das kommt seltsamerweise häufiger vor, als man denkt – obwohl es an Unhöflichkeit kaum zu überbieten ist, wenn man jemand auf diese Art der eigenen Stimme beraubt. Und es signalisiert dem Kind: du bist es nicht wert, gehört zu werden. Ich kenne die Situation, dass ich, wenn die Eltern im Raum sind, das Kind etwas frage und die Eltern antworten. Einmal gab es an einem Tag der offenen Tür noch eine Steigerung: da kamen nicht nur Mutter und Kind, sondern die Grossmutter noch dazu. Das Kind sass stumm neben mir am Klavier und hat nicht ein einziges Mal den Mund aufgemacht. Meine Fragen hat grundsätzlich die Mutter beantwortet beziehungsweise die Grossmutter, oft noch mal in korrigierender Weise. Da wurde eindrucksvoll sichtbar, wie Unterdrücken und Kleinhalten von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Ignorieren der beiden war zwecklos, und es standen so viele Kinder an, dass ich das unselige Dreieck irgendwann wegschickte. Doch die paar Minuten hatten mich so mitgenommen, als hätte ich eine ausweglose griechische Tragödie hautnah miterlebt.

DSCF8793Glücklicherweise sind das schauerliche Ausnahmen. Und das Gegenteil gibt es schon auch – dass Kinder eine so ausgeprägte Meinung von sich und ein so grosses Selbstbewusstsein haben, dass der Unterricht deshalb schwierig wird. Aber jetzt die ganz „Normalen“, die ganz normal Lampenfieber haben oder lieber etwas leiser spielen, weil dann die eventuellen Fehler auch gleich leiser sind und weniger auffallen: wie kann man die stärken? Es geht wunderbar leicht so im Einzelunterricht und an einem Instrument. Und es erfordert sicher weniger Mut, da experimentierfreudig zu sein, als wenn man sich zum Beispiel vor der ganzen Klasse hervortun soll. Oft geht es ja nur darum, überhaupt hörbar seine Meinung zu äussern. Eine Linie in der rechten Hand nicht nur irgendwie zu spielen, sondern ganz klar und plastisch herauszubringen. Und dem ersten Versuch noch zehn weiter folgen zu lassen, denn ein bisschen mehr geht immer noch, und noch mal lauter, und noch strahlender… bis es ein Aha-Erlebnis gibt. Und man auch merkt: man darf ja viel, viel mehr, als man gedacht hat! Und in einem grösseren Raum oder Konzertsaal noch mal mehr! Das wäre ein Ansatzpunkt, erst mal über die ganz einfache messbare Lautstärke Selbstbewusstsein zu bekommen.

Wichtig ist auch, die Kinder im Rahmen der Möglichkeiten viel selber entscheiden zu lassen. Es gibt eine solche Bandbreite an Entscheidungen, die ein Stück anders und individueller klingen lassen, und die muss man erst mal vorstellen und durchprobieren lassen, bevor man dem Schüler die Wahl überlässt. Allein das Tempo kann ganz andere Welten eröffnen, oder, wenn es zum Komponisten passt, der freiere Umgang mit dem Tempo mitten im Stück. Es gibt so viele Möglichkeiten, ein Stück ganz zu seinem eigenen zu machen, und ich bin immer dankbar, wenn ich es ständig ein bisschen anders höre und vielleicht im Konzert mit einer noch mal anderen Version überrascht werde. Wenn man gewisse Regeln (naja, einen Wust von Regeln!) beachtet und sich einigermassen auskennt mit einzelnen Komponisten, gibt es quasi kein richtig oder falsch: was überzeugend rüberkommt, ist auf seine Art richtig. Das mag beliebig klingen oder Schluderigkeit Tür und Tor öffnen, aber so meine ich es nicht. Und ich fürchte, meine Schüler wissen inzwischen, wie ich es meine… Trotzdem gibt es in einem gewissen Umfang viel Freiheit, und ich bin froh um jeden, der Gebrauch von dieser Freiheit macht. Ich sage jedem, dass seine Stimme, sein Beitrag heute abend, wichtig ist. Enorm wichtig. Und dass wir das feiern durch besondere Kleidung, eine besondere Konzentration und Ruhe, und indem wir uns besonders reinlegen. Und – es wirkt.

DSCF8800Mein Schülerkonzert diese Woche war einfach nur beglückend. Einer der schönsten Abende, seit ich Schüler habe. Weil alle so frei, gelöst und angstfrei spielten. Das fand ich bemerkenswert. Manchmal gibt es doch Zitterpartien, nach denen man als Lehrer mindestens so schweissnass ist wie der, der vorne am Flügel sass. Gestern überhaupt nicht, es war klangvolle Freiheit pur. Das könnte auch daran gelegen haben, dass ich jeden sein Stück selber wählen liess. Ambitionierte Themenkonzerte sind gut und schön, aber vielleicht eher für den Lehrer schön. Meine armen Gymnasiumsschüler sind ohnehin einem rigiden Lehrplan unterworfen und müssen vier Mal im Jahr Pflichtstücke spielen, ob sie wollen oder nicht. Das Wunschkonzert gestern hat noch mal andere Energien freigesetzt und ich hab tatsächlich andere, bisher unbekannte Facetten der jeweiligen Stimmen gehört. Aber ich hab vor allem die Stimme von jedem gehört, hier in dem kleinen Bereich. Das heisst, sie sind sich bewusst, wer sie sind und was sie vermögen. Vielleicht erinnern sie sich bei anderen Gelegenheiten daran, wie stark sie sind.

Mein gechilltester Arbeitstag

DSCF1957Letzten Mittwoch wurde ich abgeordert, unsere Schüler auf der Busfahrt zur jährlichen Chor- und Orchesterprobenphase zu beaufsichtigen, da alle anderen Musiklehrer schon vor Ort waren. Aus rechtlichen Gründen kann man wohl nicht 108 Minderjährige allein den beiden Busfahrern aufs Auge drücken. Super, dachte ich bei mir. Das wird wieder eine Aktion der Marke „ich würd doch lieber den Sack Flöhe nehmen“. Ein Haufen aufgedrehter Schratzen, froh, der Schule entronnen zu sein – und ich soll einen Frühlingsvormittag im Bus verbringen, statt am Inn zu laufen. Meine Begeisterung war, vorsichtig gesagt, verhalten. Aber dann wurde es unversehens einer der entspanntesten Tage meiner Karriere… Weil unsere Kinderchen einfach so nett und ordentlich sind. Jeder hat ein Interesse daran, dass sein Instrument und das Übernachtungsgepäck mitkommt, also verlief das Be- und Entladen der Dinge reibungslos. Ich fuhr im Orchesterbus mit. Die Schüler unterhielten sich gedämpft und scheinbar nur über Musikalisches und das bevorstehende Abi – selten so eine ruhige Busfahrt erlebt! Und meinen einzig wichtigen Job hab ich delegiert: als ich die Anwesenheit kontrollieren wollte, schielte einer unserer Abiturienten sehnsuchtsvoll auf die Liste und den Stift in meiner Hand und meinte: „ich träum seit der Fünften davon, mal die Anwesenheit zu machen“ – worauf ich ihm alles in die Hand drückte und er, selig wie ein Honigkuchenpferd grinsend, zum Mikrofon griff.

Die Rückfahrt durch blühende Löwenzahnwiesen war ähnlich entspannt. Nach zwanzig Minuten auf Alteglofsheimer Boden, in denen die Busse ent- und wieder beladen und die Gruppen getauscht worden waren, waren jetzt hauptsächlich Fünftklässler in meinem Bus, die alle etwas platt vom Schlafmangel waren und unerwartet ruhig. Eine Erwachsene brauchten sie nur, um zu fragen, wann wir da sind. (Und um zu versuchen, sie mit Schokolade zu mästen – ständig hörte ich „gib das mal vor zur Frau Sommerer“, und wieder kam eine goldene Ferrero-Kugel zu mir – die ich diskret zum Busfahrer weiterleitete…) Alles harmlos und angenehm. Während wir so gemächlich durch Niederbayern zuckelten, vorbei an rosa und weiss blühenden Obstbäumen und Wiesen im ersten explosiven Frühlingsgrün, dachte ich, wie viel mehr man doch von den Kindern erwarten darf. Dass sie sich nur „kindisch“ benehmen, wenn man sie auch so behandelt. Zu viel Kontrolle kann schaden. Wenn man Verantwortung abgibt und delegiert, zeigen sie erst, wozu sie in der Lage sind. (Dazu muss man aber auch sagen, dass wir besonders ordentliche und „normale“ Schüler haben. Das merke ich im Schulalltag auch immer wieder, und das ist schon ein Privileg.)

Erst war ich wenig begeistert, den ganzen Vormittag lang unbezahlte Überstunden zu machen und dann direkt in meinen Unterrichtsalltag zu fallen. Als wir um zwei wieder an der Schule ankamen, war ich durch die vielen schönen Eindrücke auf der Fahrt und schon auch die Tatsache, dass ich nix zu tun hatte ausser anwesend zu sein, so gechillt, dass ich mich einfach nur aufs Unterrichten freute. So eine Arbeitszeit von 9 bis 14 Uhr hat schon was. Die vielen Abendstunden, die für uns Musiker Alltag sind, sind dagegen eine Qual. Ein paar Jahre lang hatten wir nach dem Montagskonzert immer Fachsitzung, also bis 22 Uhr – da wusste ich beim Heimfahren manchmal nicht mehr, wo die Gangschaltung ist. Vormittags bin ich für jede Mehrarbeit zu haben.

Und was definitiv toll war an diesem „Arbeitstag“: im Gegensatz zu meinen überlangen Donnerstagen zum Beispiel, an denen ich mich oft nur noch flach atmend durch den Tag schleppe und meine Sauerstoffzufuhr manchmal durch ein lautes Durchschnaufen optimieren muss, ist mir richtig aufgefallen, dass ich nichts tue ausser dasitzen und ruhig und meditativ atmen. Während ich blühende Kirschbäume angucke. Keine Rückrufe, Mailbeantworten, nebenbei Wäscheaufhängen und gleichzeitig kochen, wie das sonst oft an meinen Vormittagen aussieht. Ich wäre eine ausgeglichenere Lehrerin, wenn ich jeden Morgen vier Stunden meditieren würde… Aber auch eine mit nix mehr Anzuziehen und einem leeren Kühlschrank.

Zeit als Raum

DSCF2169Meine Erwachsenen halten mich auf Trab. Einmal zeitlich, weil sie einfach (fast) immer erscheinen und meine Unterrichtstage voller sind als geplant. Aber hauptsächlich gedanklich. Vor und nach dem Unterrichten beschäftigen mich ihre so komplett unterschiedlichen Bedürfnisse und Herangehensweisen mehr als erwartet und ich bin ständig am Überlegen, wie ich mich noch besser um sie kümmern kann. Die Anschaffung und Lektüre von „Erwachsene im Instrumentalunterricht“ von Reinhild Spiekermann hat sich schon wegen eines winzigen Abschnitts gelohnt:

„Musikalisches Lernen findet auf Umwegen statt, muss nicht immer zielgerichtet sein und enthält Phasen unterschiedlicher Intensität. Insofern kann der Lernprozess nicht als linearer angesehen werden, in dem „Zeit als Strecke“ verstanden wird, sondern sollte als „Raum“ begriffen werden. Der pädagogische Umgang mit der Zeit sollte dem Lernenden ermöglichen, seine „subjektive Zeit“ einzubringen in das Unterrichtsgeschehen.“ (Seite 82)

Natürlich gilt das auch für Kinder – je jünger sie sind, desto mehr „mäandert“ das Lernen, bewegt sich spiral – oder schleifenförmig vor und zurück. Aber das ist normal, keiner fühlt sich beunruhigt oder gestresst. Und je nach Fall geniesse ich es, das Gelernte zu unterfüttern mit Extrastücken, die grade hilfreich sind. Oder einfach Spass machen. Und systematische Wiederholungen von alten Stücken sind Teil des Unterrichtskonzepts. Sie könnten als Rückschritt empfunden werden, untermauern und festigen aber auf wunderbare Weise das Gelernte und helfen, „belesener“ zu werden. Oft werden diese Wiederholungen von den Kindern selber angeregt. Sie zeigen mir damit auf wunderbare Art, dass es nicht darum geht, Strecke zu machen, sondern einfach Klavier zu spielen. Und dass sie völlig mit dieser Tatsache zufrieden sind. Wie eine Sechstklässlerin, die letzte Woche mit dem Feenheft von Alec Rowley ankam und sagte, sie möchte mir mal wieder alle Stücke vorspielen, die wir da drin gemacht haben – wohlgemerkt, das war in der zweiten und dritten Klasse. Während sie loslegte und dabei auch erklärte, wer von den Geschwistern welches Bild damals ausgemalt hatte, ertappte ich mich dabei, dass ich überlegte, ob ich diese „Zeitverschwendung“ in der Stunde limitieren soll und ihr sagen soll, dass sie noch zwei Stücke spielen kann und den Rest zuhause machen soll. Aber ich spürte an ihrem Stolz über die gelungenen Stücke, dass sie eben auch mir zeigen wollte, wie sie sie jetzt spielt. Dass die Stücke und auch die mit meinem grossen Farbenkasten ausgemalten Bilder Teil unserer gemeinsamen Vergangenheit sind. Es war ein enormer Schritt rückwärts – und gleichzeitig wertvolle und wirklich beruhigend schöne zehn Minuten, die ihr Klavierspielen auf mehreren Ebenen gefestigt haben.

Von meinen Erwachsenen käme keiner auf die Idee, mit leuchtenden Augen die „Babystücke“ aus den allerersten Monaten spielen zu wollen. Ganz im Gegenteil: wir sind besessen davon, unsere Zeit so effektiv wie möglich zu verbringen, wollen messbare Fortschritte sehen und letztlich ist Zeit ja auch Geld (dafür haben Kinder noch kein Bewusstsein. Und sind deshalb wunderbar frei…) Und ich muss mich da durchaus an die eigene Nase fassen und fragen, wie sehr ich durch meine eigene Einstellung zu der übergrossen Erwartungshaltung mancher beitrage. Denn wenn es um mich und mein eigenes Lernen geht, denke ich auch erst mal, es muss Ergebnisse bringen, ich muss weiter kommen und besser werden und was vorzeigen können. Es wäre purer Luxus, etwas nur zu tun, weil man’s gerne tut und dabei Freude empfindet. Oder?! (Spricht die Frau, die so überdiszipliniert ihr Lauftraining begonnen hat, dass nach vier Wochen wahlweise Knie, Hüfte und Bandscheiben wehtaten und es eine Qual war, Treppen runterzusteigen. Jetzt bin ich dabei, Schritt für Schritt alles anders und langsamer aufzubauen und sage mir dabei minütlich vor: es kommt nicht darauf an, wie schnell ich wie weit laufe, sondern – DASS ich laufe. Dass ich draussen bin und es einfach tue. Ohne messbare Ergebnisse. Das ist vielleicht ein Umdenken!)

Viele Erwachsene kommen mit der ganz konkreten Frage, wann sie dieses oder jenes Stück spielen können. Oder allgemeiner: wie lange es braucht, um Klavier zu lernen. Ich versuche, von Anfang an klarzustellen, dass wir hier in Jahren denken müssen, nicht in Monaten. Trotzdem kann sich nach einem Jahr Ungeduld breit machen, auch Enttäuschung und Staunen, wie schwer und langwierig es doch ist. Vielleicht auch Frust und Gedanken, aufzugeben, weil man vielleicht doch zu alt ist. Kinder fragen so was gar nicht. Das ist ein Segen. So gut Selbstreflexion ist: sie kann einen auch hemmen, unbefangen und frei an eine Sache heranzugehen. Und Vergleiche mit anderen bringen einen auch nicht weiter: jeder hat sein ganz eigenes Lerntempo.

Vielleicht gelingt es mir, dieses „Zeit als Raum“-Konzept meinen Erwachsenen näher zu bringen. Meine erste Assoziation dabei war der Raum als eine riesengrosse, schillernde Seifenblase, die sich je nach Bedarf auch oval verformen kann, immer wabert und lebendig und dehnbar ist. Jeder hat seine eigene, schöne und schützende Seifenblase, in der er sich vor, zurück oder seitwärts bewegen kann. Sie verändert sich mit uns unser Leben lang, kann erweitert und vergrössert werden oder Geborgenheit geben, so wie sie ist. Es wäre eine echte Errungenschaft, sich überhaupt erst mal darüber zu freuen, dass man es geschafft hat, sich einen Klavier – Raum zu errichten. Wer hat das schon?

Noch eine Falle…

1930s Woman Receptionist Secretary Sitting At Desk In Office Talking On TelephoneVor ein paar Jahren habe ich über eine typische Falle von Selbständigen geschrieben: weiter arbeiten, auch wenn man krank ist. Inzwischen tappe ich munter in einer anderen herum: mehr Arbeit annehmen, als gut ist, denn es könnten ja mal schlechtere Zeiten kommen. Das Seltsame daran: ich bin mir bewusst, was ich tue, und spüre auch, dass es langsam nicht mehr gut ist, schaffe es aber nicht, die Bremse reinzuhauen aus einer Art (unberechtigter?) Zukunftsangst heraus. Bei allem Optimismus denke ich manchmal: das, was ich tue, ist derartig exotisch, und vielleicht ist es doch eine aussterbende Sache, Musik selber und aktiv zu machen – was, wenn es in zehn oder fünfzehn Jahren einfach keinen Bedarf an Klavierunterricht mehr gibt? Da muss ich mitnehmen, was geht, und noch so vielen Menschen wie möglich zeigen, wie schön es doch ist. Das ist das grundsätzliche Denkproblem. Und dann gibt es das ganz individuelle. Erst mal generell: wenn ich diesen Schüler abweise, dann aber drei plötzlich aufhören, dann würde ich mich ärgern. Und das spezielle (dem erliege ich immer): wenn man ein Kindchen mal kennengelernt hat, einen kleinen Einblick in seine Fähigkeiten gekriegt hat, denkt man immer wieder: was, wenn hier ein ganz spannendes Talent schlummert? Wie mühelos er die Hände koordiniert, wie toll er nachsingt, wie gern er verschiedene Klänge sucht – ich muss da dranbleiben! Jeder neue Schüler bringt so einen Schatz an Möglichkeiten und Fähigkeiten mit, und es fällt mir meistens sehr schwer, da „nein“ zu sagen. Denn es könnte ja der eine, der ganz besondere sein…

Ich bin froh und dankbar über den Zulauf, den ich grade erfahre. Auffallend ist, dass die neuen Schüler immer grüppchenweise aus einer bestimmten Ecke kommen: ein paar Wochen lang gab es nur Viertklässler, dann Fünfzigjährige, dann Adelige, immer in Dreier- oder Viererpacks. Das ist auch werbemässig interessant, wenn man sieht, welche Kreise die Mundpropaganda zieht. Aber ich schüttel auch den Kopf über mich selber. Eine typische Situation letzte Woche: zwei Zehnjährige rufen an wegen Stunden. Ich arrangiere so schnell wie möglich Schnupperstunden, weil ich mir generell vorgenommen habe, entweder gleich abzusagen oder Leute, die eh schon mit den Hufen scharren, nicht im Unklaren zu lassen. Nach dem Kennenlernen entscheiden sich beide für Stunden und ich freue mich, obwohl ich eigentlich keinen Platz mehr für sie habe. Aber – es könnten  ja zum neuen Schuljahr ältere Schüler aufhören oder ins Ausland gehen, und bald ist eh Ostern und langsam muss ich den  Herbst planen und vorbauen… Also wird eine abends drangehängt, die andere kommt in meiner Mittagspause. Keine 60 Minuten mehr zum Kochen und kurz die Stille geniessen, sondern 15 Minuten für Kaffee und Erdnussbutterbrot.

Buchstäblich am nächsten Tag riefen zwei Schülerinnen zurück, die wegen Konzentration auf die Schule für ein halbes Jahr Pause machen wollten. Ich hab sie nie aufgegeben, dachte aber, das halbe Jahr kann sich ja auch ausweiten, wer weiss, wann sie wiederkommen. Kaum haben sie das Zwischenzeugnis in den Pfötchen, greifen sie zum Hörer. Und weil sie vorher schon da waren, ältere Rechte haben, weise ich sie natürlich nicht zurück. Sondern hänge sie noch später abends dran, ohne viel nachzudenken. Und stelle erst danach fest: super, von einer Woche auf die andere hab ich vier Schüler mehr, ohne dass ich das vorhatte.

Und dann kommen auch meine Erwachsenen noch derartig regelmässig und diszipliniert! Da nehme ich ja auch immer mehr an, weil sie aus Erfahrung immer mal wieder absagen, wenn es im Job oder im Leben rund geht, und ich so eher die Formel habe, dass nur ein Drittel von ihnen pro Woche auch kommt. Denn alle stehen noch im Berufsleben und schaufeln sich diese Vormittagsstunden bewusst frei. Meine Rechenkünste waren noch nie erwähnenswert, und auch hier bin ich trotz vielleicht richtigen Lösungswegs aufs falsche Ergebnis gekommen. Denn: sie kommen begeistert alle. Jede Woche oder alle zwei, wie ausgemacht. Aber es wird einfach nicht abgesagt. Die 45 Minuten, die ich dann und wann fürs eigenen Üben vorgesehen hatte – die gibt’s zur Zeit einfach nicht.

Also: bringt mich Optimismus oder Pessimismus weiter? War es zu blauäugig, vom Schlimmsten auszugehen? Brauche ich irgendwann eine Sekretärin, wenn das so weitergeht? (Die ganzen Extra-Termine sind nicht nur organisationsmässig ein Horror, sondern auch von der Buchhaltung her.) (Kann die Sekretärin mir auch Tee machen?!)

Foto

(Und wie immer ein PS., weil sich die Ereignisse hier immer zu überlagern scheinen: während ich das Foto aussuchte, rief eine Dame an wegen Unterricht für ihre zwei Urenkelinnen. Weil sie so gern noch erleben würde, dass die Klavier spielen. Ist das moralischer Druck oder nicht? Was mach ich jetzt?!)

Spass mit Fünftonlagen

DSCF6884Es ist immer wieder erstaunlich, in welchem Zickzackkurs Lernen verläuft. Man erklärt, macht vor, lässt den Schüler nachspielen, wiederholt, beleuchtet die Sache von einem anderen Blickwinkel, wiederholt wieder, gibt für eine Woche die Hoffnung auf, erklärt noch mal, lässt noch mal vormachen, überlegt, ob man nicht doch noch Architektin werden soll, erklärt trotzdem noch mal die Fünftonlagen und bittet den Schüler, sich zu überlegen, was er in seinem zweiten Weihnachtskonzert spielen will. Und dann spaziert das Kindchen in der nächsten Woche zur Tür rein und sprudelt los: „Mein Thema fürs Weihnachtskonzert ist die D-Lage. (Wow, meine Schüler haben Themen fürs Vorspiel!) Ich hab zwei Lieder aus der Klavierschule ausgesucht, eins in Dur, eins in Moll, und wussten Sie, dass man „Jingle Bells“ auch in D-Dur spielen kann?!“ Und los geht’s, während ich noch mein Kinn hochklappe. Mit einer astreinen Präsentation, was kleine Finger mit der D-Lage anstellen können. Und ich schwebe über meinem Unterrichtststuhl und vergesse den steinigen Weg der letzten Monate.

Dieser Moment – dass jemand etwas wirklich begriffen und in den Finger  hat und so souverän damit umgeht, dass er damit quasi spielen kann  – das ist der schönste und lohnendste Augenblick beim Unterrichten. Wenn ich sehe, dass jemand einen Sachverhalt wirklich verstanden hat und ich in dem Bereich überflüssig bin, dann habe ich mein Ziel erreicht. Zwar lauert das nächste gleich um die Ecke, und das ist es ja auch, was Unterrichten so endlos spannend macht – aber zwischendurch kann man sich kurz zurücklehnen und den Erfolg feiern und geniessen.

Wenige Wochen nach dem Weihnachtserlebnis gab es den zweiten Instant-Erfolg mit Fünftonlagen – das Schicksal scheint es gut mit mir zu meinen! Ein anderes Kindchen, ein Jahr jünger als der von oben, fing in der Stunde spontan an, ein Stück zu transponieren. Ich hatte ihm „Big Chief“ aus Frances Clarks „Music Tree“ auswendig beigebracht, einfach aus Spass und zum Unterfüttern des Gelernten, und weil Jungen immer wieder mal Indianer- oder Ritterlieder brauchen, bei denen es richtig zur Sache geht. „Big Chief“ ist in einer klaren Fünftonlage geschrieben, die Begleitung ein simples Ostinato aus Quinten. Und ich durfte den Moment miterleben, als der Groschen fiel. Als die kleinen Fingerchen erkannten: aha, das ist ja hier der fünfte und der erste, und da auch, das kenn ich doch. Und aus eigenem Antrieb probierte mein Schüler, ob es nicht einen Ton tiefer auch geht. Und da auch in Dur und Moll. Und einen höher. Und noch einen höher. Nachdem er das Lied zwölf Mal von allen Tasten gespielt hatte, spielte er es sogar noch von h aus, und ungerührt in h vermindert… Und ich sass stumm daneben und liess ihn einfach entdecken. Und war dankbar: besser kann er mir nicht beweisen, dass er kapiert hat, was eine Fünftonlage bedeutet. Auf zu neuen Ufern! Und danke für die wahren „Spielstücke“, die so genial komponiert sind, dass sie solche Erlebnisse möglich machen!

(Für KlavierlehrerInnen: ich bin begeistert vom Konzept von Frances Clark’s „Music Tree“. Immer auf der Suche nach der perfekten Klavierschule, hatte ich mir diese amerikanische Schule aus den Sechzigerjahren bestellt. Ja, man glaubt es nicht – als es hier in der pädagogischen Landschaft relativ öde und streng zuging, gab es in Amerika eine wirklich ansprechende und unterhaltsame Schule, die Spass aufs Entdecken macht. Natürlich wurde sie mehrfach überarbeitet, aber Stücke wie „Big Chief“ sind eigentlich uralt. Nachdem mir der Unterrichtsband so gut gefallen hat, habe ich nach und  nach die Folgebände bestellt: Sammlungen von ausgesucht schönen und guten Einzelstücken, die ich zum Teil noch nie gehört habe, gruppiert nach 17. bis 19. Jahrhundert und Extrabände fürs 20., die auch voll von schönen Entdeckungen sind. Die Klavierschule hab ich noch mit niemand konsequent als Unterrichtswerk verwendet, weil die Texte zum Mitsingen englisch sind. Aber die Folgebände sind die allerbeliebtesten Geburtstagsgeschenke geworden. Wir haben so viel Spass dran, dass ich denke, am meisten beschenke ich damit mich selbst… So gern ich deutsche Verlage unterstützen würde: mir fallen keine Sammlungen ein, die so konsequent aufeinander aufbauen und auch so alltagstauglich sind. Das „Tastenkrokodil“ oder „Toll in Moll“, die Klassiker neben der Klavierschule hier, können da nicht mithalten, weil die Stücke oft zu gehaltvoll und schwierig sind. Es fehlen kleine Zwischenschritte, ein gewisses Unterfutter, damit man mühelos weiter kommt und dabei den Spass an der Sache nicht verliert. Die Tatsache, dass die Stücke des „Music Tree“ sehr gut aufeinander aufbauen und wirklich nicht zu kompliziert sind, führt auch dazu, dass man mehr Literatur kennenlernt, mehrere verschiedene Stücke in den Fingern hat, letztlich: belesener wird.

Nachteil neben der Sprache: das Bestellen der Hefte und die langen Lieferzeiten. Am besten selber einen Stoss bestellen, wenn man das Heft kennt und überzeugt ist, und bei sich lagern.)

Investitionen

DSCF7926Nachdem ich mit einem hauptsächlich cellospielenden Klavierschüler ein Saint-Saens – Konzertstück länger als geplant geprobt hatte, meinte seine Mutter beim Abholen: „Warum tun Sie das? Sie verschenken ihr Talent an die Kinder.“ Mit uns beiden, ihm, der nächsten Schülerin und dem Cellokasten ist unser Flur gestopft voll. Ich bin noch völlig eingehüllt in die herrliche Musik, die wir grade zusammen produziert haben, und fühle mich auch physisch so umgeben von Wohlwollen und Sympathie, dass meine spontane Antwort direkt aus dem Bauch kommt: „Ich verschenke nicht, ich investiere. Und es ist die beste Investition, die es überhaupt gibt.“

Es klingt mehr als kitschig, ich weiss. Aber es stimmt. Wo sonst bekommt man im Moment so viel zurück, wenn man etwas anlegt? Die Freude und Begeisterung meiner Schüler, ihre Fortschritte, ihr immer grösseres Können belohnen mich hundertfach für das bisschen an zusätzlicher Zeit, dass ich ihnen manchmal zukommen lasse. Manchmal sind es einfach die zehn Minuten extra, die einen weiterbringen, wenn man kurz vor dem Durchbruch steht. Oder die zehn Minuten, die man in ein Gespräch investiert.

Und das mit dem „Talent verschenken“: was soll ich denn sonst damit machen? Die Konzertbühnen der Welt kommen bestens ohne mich aus. Trotzdem will und muss ich Klavier spielen. Und wenn ich schon nicht ohne leben kann, ist es für mich logisch und sinnvoll, dieses Talent in der Provinz und für Kinder zu nutzen. Eben weil ich sehe, dass die Flamme am Leben gehalten wird und das, wovon ich überzeugt bin, in der nächsten Generation weitergeht. Ich finde, es gibt keine bessere Dividende. Und es trägt zur Seelenruhe bei, so im Einklang mit sich und seinen Werten leben zu können. In der Hinsicht führe ich ein wirklich reiches Leben.

Und was ist überhaupt die Währung, um die es geht? Auf jeden Fall etwas, das mehr wird, indem man es ausgibt. Etwas, bei dem es klüger ist, es nicht auf einem Konto zu horten und nur für sich zu behalten. Auch auf die Gefahr hin, dass es noch kitschiger wird, aber: eigentlich ist es Liebe. Oder Freundlichkeit. Oder Grosszügigkeit. Eine von den Eigenschaften, die den grossartigsten Ertrag abwerfen – weil sie auf jeden Fall mehr werden, je mehr man sie in sein Leben lässt. Ich habe so oft die Erfahrung gemacht, dass meine Umgebung das spiegelt, was ich aussende. Wenn ich will, dass meine Schüler höflich sind, behandle ich sie so. Wenn ich mir mehr Geduld von anderen wünsche, bin ich selber geduldig. Es ist eigentlich so leicht, die Welt ein bisschen angenehmer und menschlicher zu machen. Und ich bin froh, wenn ich in einer so entspannten Geistesverfassung bin, dass ich auch bewusst solche positiven Eigenschaften pflegen und einsetzen kann. Stress und Ärger übertragen sich genau so schnell.

Wunder

P1020880Manchmal werden Kinderchen zu mir gebracht, die schlapp und gummiartig am Arm ihrer Mutter hängen und sich kaum mehr auf eigenen Beinen halten können. Bilder des Jammers. (Fortgeschritten in der Kunst des Simulierens?) Während sie irgendwo in Nabelhöhe von Erwachsenen den Kopf hängen lassen, erklären mir die Mütter, dass es XY heute gar nicht gut geht und ob wir es einfach probieren können und wenn es gar nicht geht, soll ich anrufen. Wobei das Kind unsere stumme, aber intensive Augenkommunikatione nicht mitkriegt, die sich durchs ganze Spektrum „weiss auch nicht, was sie heute hat/ bin am Ende mit den Nerven, bitte nehmen Sie mir dieses Kind für eine halbe Stunde ab/ irgendwas stimmt nicht, aber ich hab einen dringenden Termin, bitte versuchen Sie es“ zieht. Hier handelt es sich um Grundschulkinder – wenn die älteren heftigen Weltschmerz oder ähnliches haben, sagen sie meistens ab. Worüber ich froh bin. An einen verschlossenen Pubertierenden ranzukommen ist ungleich schwerer…

Falscher Weg: Mitgefühl zeigen, das Kindchen bedauern, gar noch fragen, was denn los ist. Wird alles mit Schweigen und noch mehr ins Schneckenhaus- Zurückziehen quittiert.

Neuester, erfolgreicher Trick: Betriebsamkeit vortäuschen, erst mal in der Küche nach Glasreiniger und Mikrofasertuch kruschteln, dem Kindchen erklären, dass irgendwer heute klebrige Finger gehabt haben muss und wir kurz den Flügel putzen müssen. Kind kriegt die Sprayflasche und wird gebeten, auf die Tasten zu sprühen. Die meisten sind das grosse Ding nicht gewöhnt und sprühen so vorsichtig, dass es nur leicht senkrecht nach unten tropft. „Jetzt noch mal, baller drauf wie James Bond!“ Das gibt schon ein ganz anderes Ergebnis. Und da wir schon dabei sind, machen wir auch noch das Pult und den Deckel und die Seiten sauber, bis der Flügel strahlt wie am Tag seiner Auslieferung. Das vor ein paar Minuten noch unansprechbar schlappe Wesen hat grossen Spass, lacht sogar mal, möchte mal wieder in den Flügel reingucken und mit den Fingernägeln auf den Saiten Engelsmusik machen – und wird wieder ernst: „Hast du schon mal einen Engel gesehen?“ Kleines Pling an den Saiten, beiläufiges Gucken. Hm, nein, warum? Weil jeder von Engeln erzählt, aber seine Mama hat noch keinen gesehen und der Papa auch nicht. Und er selber auch nicht. Deshalb – ob ich glaube, ob es überhaupt Engel gibt. Wir reden lang über Engel oder Boten oder einfach gute Wesen, während er an den Saiten zupft und mich nicht anschaut. Aber ich bemerke die echte Verstörung, das Schwanken seines Weltbilds. Und dann – das Baby. Ob ich glaube, ob es das Baby gab. Welches Baby? Na, das an Weihnachten, ob ich glaube, dass da echt Könige mit Geschenken gekommen sind. Das geht doch eigentlich nicht. O wei. Wir reden, so lange er das möchte. Können die brennenden Fragen überhaupt nicht klären (Überraschung), und er ist ohnehin ein in sich gekehrter Grübler. Das wird ihn noch lange beschäftigen (Jahrzehnte?!), aber plötzlich: „Ich kann „Kommet ihr Hirten“ mit beiden Händen, willst du es hören?“ Und wir haben eine wunderbare restliche Klavierstunde, nach der er seiner Mutter entgegen rast und von einem Fuss auf den anderen hüpfend erzählt, dass wir noch ein Weihnachtslied angefangen haben. Und alles scheint wieder gut zu sein… Der Glasreiniger scheint mehr als das Klavier geklärt zu haben, oder zumindest äusserlich in Ordnung gebracht zu haben.

DSCF7916Wenn ich länger drüber nachdenke, fällt mir auf, dass kaum ein Alter statisch oder in zwei Worten fassbar ist. Irgendwie sind diese kleinen Seelen ständig im Übergang. Und schon wieder im nächsten. Bevor ich so viel mit jüngeren Kindern zu tun hatte, dachte ich, es gibt halt frühe Kindheit, Grundschulkindheit und dann die ganz grosse Umwälzung der Pubertät. Jetzt sehe ich, wie unendlich viele Abstufungen es gibt, die man berücksichtigen sollte. Und dass sie bei jedem Kind zu einer anderen Zeit beginnen. Und auch nicht unbedingt in der gleichen Reihenfolge auftreten. Ich muss meine Schüler fast monatlich neu „vermessen“, um zu verstehen, wo sie grade sind und was sie brauchen. Wenn Wackelzähne mitten in der Klavierstunde ausfallen, ist das ein Zeichen dafür, dass noch mehr im Übergang ist. Das bisschen Blut ist weniger schlimm als die Seelenqualen, wenn sie mich fragen, ob ich schon mal einen Engel gesehen habe. Und wenn mir das gleiche kleine Menschlein cool weismachen will, dass es den Nikolaus nicht gibt, sehe ich, dass grade das ganze Weltbild im Schwanken ist. Manche machen es mit sich selber aus, andere wollen fast die ganze Klavierstunde drüber reden und ich bin mir der Verantwortung bewusst, dass, was ich antworte, eine Wirkung haben kann.

Kinder merken sofort, wenn sie verschaukelt oder nicht ernst genommen werden. Da bleibt nur: aufrichtig und nach bestem Wissen und Gewissen zu antworten. Aber heimlich wünsche ich mir, dass jeder so lange wie möglich im Zustand des Wunderns bleiben kann. Oder sich irgendwo in seinem Herzen die Fähigkeit bewahrt, an eigentlich unglaubliche Dinge zu glauben. Das wäre doch das Schönste, was wir Kindern mitgeben können.

P.S.: Wie immer kommt der Knüller am Nachmittag, nachdem ich einen Blogartikel veröffentlicht habe: da hat mir tatsächlich eine Neunjährige erzählt, dass der Nikolaus letztes Jahr der Biobauer war. Zu erkennen an den Gummistiefeln.

Jetzt bin ich von uns allen die letzte, die an den Nikolaus glaubt.

Mittagstisch

DSCF2435Je länger ich unterrichte, desto mehr Ideen habe ich, wie man die Hochschulausbildung praxisnäher gestalten könnte. Vielleicht – hoffentlich – hat sich auch viel geändert seit meinen Studientagen. Oder möglicherweise sollen ehrgeizige Liszt-Nachfolger/innen, die nur aus Vernunftgründen das pädagogische Diplom dranhängen, nicht komplett abgeschreckt werden? Fakt ist aber, dass ein Praktikum im Kindergarten nicht schaden würde für das ganze Drumherum mit kleinen Menschen, das unversehens auf einen zukommt. Allein das Reinkommen und Jacken aufhängen und noch mehr: das Gegenteil. Wie viele eingeklemmte Reissverschlüsse habe ich schon befreit? Wie viele verhedderte Schuhbänder aufgedröselt, und wie viel Geduld aufgebracht, wenn der nächste schon auf dem Klavierstuhl sitzt, der Vorherige mir aber zeigen muss, dass er schon Schleifen binden kann (in Zeitlupe…). Wie viele vergessene Fahrradhelme hab ich schon durch Wasserburg getragen?! Wer allein von diesem Anblick auf meinen Job schliessen sollte, würde sicher nicht auf das kommen, was ich eigentlich tue. Eher Fahrradhelmvertreterin oder vierfache Mutter…

Mit den Grundschulkindern passiert es unversehens, dass man eine Art nette Tante wird, die Pflaster, Taschentücher und Hustenbonbons parat hat, bei akuten Hungeranfällen eine Banane oder ein Butterbrot herbeizaubert und sich manchmal auch die wirklich traurigen Geschichten aus einem Kinderleben anhören muss. Gestorbene Haustiere, Ungerechtigkeiten bei der Rollenverteilung im Krippenspiel, Treulosigkeiten von neunjährigen Klasskameraden, die so fest beteuert hatten, dass sie einen heiraten würden – da kann man nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen und Klavier spielen.

Manchmal fürchte ich aber doch, dass ich ein Problem habe, mich abzugrenzen. Mit den Grossen und Nachholstunden und solchen Sperenzchen habe ich es wirklich gut im Griff, seit ich erkannt habe, dass ich sonst kein bisschen Freizeit mehr haben würde. Aber wenn eine Drittklässlerin ihre Mutter beim Abholen fragt, wann sie hier einziehen kann – nicht etwa, ob –  , muss ich schon schlucken. Überhaupt wundere ich mich, wie oft Eltern ihre Kinder bei mir „vergessen“. Vielleicht wäre das nicht der Fall, wenn ich ein bisschen miesepetriger wäre. Nicht abgeholte Kinder werden gnadenlos zum Arbeiten eingesetzt, aber selbst das hat keinen abschreckenden Charakter. Im Gegenteil. Sie fragen, wann sie wieder mit mir Kartoffeln schälen, Erdbeeren pflücken, Algen aus dem Teich holen dürfen. (Das einzige Mittel, das hilft: solche Fälle nicht vor die Pause oder ans Unterrichtsende legen, wenn es möglich ist. Aber man muss erst mal rausfinden, wer so viele Kinder hat, dass er erst neunzig Minuten später merkt, wenn eins davon abgeht…)

DSCF2408Es gibt Zeiten, da denke ich, ich hab in der Hinsicht schon alles erlebt. Aber an den Punkt kommt man wohl nie… Als ich mit einer Mutter über den bevorstehenden Geburtstag ihres Sohnes redete und mehr konversationshalber fragte, was sie backen wird, stutzte sie und fragte tatsächlich: „Richten Sie eigentlich auch Kindergeburtstage aus? Ihre Parties sind immer so gelungen.“ Mit „Party“ meinte sie meine durchdacht und aufwendig gestalteten Konzerte, bei denen es danach halt auch Muffins gibt. Ist ja super, wenn es so ankommt, ich bin ja auch beruhigt, wenn es für meine Schüler eher Spass als Prüfungssituation ist, aber – ein bisschen mehr Respekt vor meiner Ausbildung, bitte!

Oder kürzlich, da fragte die Mutter eines Mädchens vom Gymnasium, das direkt von der Schule zu mir kommt und keine Möglichkeit zum Mittagessen hat, ob ich gegen Bezahlung auch einen Mittagstisch anbieten würde. Da dachte ich wirklich, ich habe mich verhört. Erstens: wieso denkt sie, dass ich kochen kann/ werktags überhaupt warm esse? Zweitens: nie würde ich auf meine einsamen Mittagessen, die mehr der Lektüre als der Nahrungsaufnahme dienen, verzichten. Dieses bisschen Ruhe vor dem Sturm ist für meine seelische Gesundheit enorm wichtig. Vielleicht hatte sie ja eine idyllische Vorstellung, dass ich selber Kinder habe, für die ich täglich koche, und der Mann womöglich auch noch dazu kommt und dann ein Kind mehr oder weniger nicht ins Gewicht fällt. Wahrscheinlich ist sie einfach von ihrem eigenen Leben ausgegangen, wie man das immer tut. Aber mich hat die Frage nachhaltig verstört. Ich lausche seither unauffällig, ob dem armen Kind in der Klavierstunde der Magen knurrt (dann würde ich wohl umkippen.) Grübele, ob ich zu asozial und einsiedlerisch lebe, wenn ich nicht mal spontan jemand zu einem existierenden Essen einladen könnte. Komme, wenn ich meinen Stundenlohn zugrunde lege, aber zu einem Preis, bei dem sich das Mädchen ein Menü vom besten Restaurant der Stadt direkt in die Schule liefern lassen könnte, inklusive Service.

Aber vielleicht wäre das eine neue Geschäftsidee. Platz genug hätten wir. Ich könnte französische Konversation, Tischmanieren, das stilvolle Beantworten von Briefen anbieten, zusätzlich zu den täglichen Klavierstunden. Und wäre endgültig im 19. Jahrhundert angekommen…