Als gäbe es nicht genug zu tun zum Schuljahresende mit all seinen Sommerkonzerten und Schlusskonzerten und den Programmen, die man dafür tippen muss, hat mir das Schicksal für die letzte Vorspielklausur der Elftklässler eine Menge spannender Literatur zum Begleiten beschert. Als würde es mich ermahnen, nicht zu glauben, am 11. Juli seien schon Ferien oder so. Ganz im Gegenteil, da geht es noch mal richtig zur Sache für alle: vor meinem langen Unterrichtsnachmittag habe ich einen ähnlich langen Vormittag in der Schule vor mir. Und während die Begleitaufgaben im Herbst eher konventionell und zum Teil bekannt waren, flatterten mir jetzt drei moderne Stücke ins Fach, die ich tatsächlich noch nicht kenne. Das ist auch immer wieder wichtig und gut für die Demut – ich begleite seit Jahrzehnten Geiger in Prüfungen aller Niveaus, und es gibt immer noch Stücke, die ich noch nie gesehen habe. Und so sitze ich da, übe Schostakowitsch, Stravinsky und Genzmer, frage mich schon ein bisschen, warum nicht wenigstens zwei bitte das gleiche Stück spielen können, finde aber jedes so toll und interessant, dass es auch nichts macht. Für eklige Stellen notiere ich mir Fingersätze in der Hoffnung, dass das Stück vielleicht in einem anderen Jahrgang wieder rausgezerrt wird und ich es dann nur noch aufwärmen muss. Aber sonst hilft nur: Augen zu und durch. Der gewisse Zeitdruck tut gut und es gibt keine Ausreden, warum ich mich morgens nicht gleich als erstes ans Klavier setzen sollte. Was heisst sollte – ich muss einfach, um das Pensum zu schaffen. Die Mendelssohn-Sonate und der Sarasate zwischendurch sind die reinste Erholung, aber sonst wird gezählt und atonale Klänge eingebläut, was das Zeig hält.
Nach dem üblichen Unwillen wegen schon wieder unbezahlter Mehrarbeit komme ich, wie immer wieder, zu der Erkenntnis: es geht nicht um die Bezahlung in Geld. Es geht darum, es einfach zu tun. Was mich schlaucht und verdorren lässt wie eine schrumpelige Pflaume, ist das viele Drumrum, das nichts mit Musik oder Kunst zu tun hat: Stundenorganisation, Verlegungen, Diskussionen mit unwilligen Schülern, Diskussionen mit übereifrigen Eltern – der ganze Alltagskrempel. Das ist es, was einen auslaugt. Wenn ich dann tatsächlich mal am Klavier sitzen und spielen darf, ist alles gut und ich spüre mit jeder Minute, wie ich auflebe und aufblühe. Und diese Geigerinnen, die ich begleite, sind zum Teil sehr gut. Wir müssen nicht proben, um zusammenzusein, sondern können gleich einsteigen ins wirkliche Musikmachen. Können schöpferisch tätig sein und schauen, wie wir dem Werk am ehesten gerecht werden. In solchen Momenten fängt die Zeit an zu fliegen, man vergisst alles um sich, ignoriert die nicht existente Lüftung in den Überkämmerchen und ist einfach in seinem Element. Das tut enorm gut. Man fühlt sich lebendig und verjüngt wie durch kaum was anderes. Weiss wieder, warum man diesen Job macht mit allen seinen Schattenseiten. Deshalb: ja zur Mehrarbeit, wenn es kreative und lebensspendende Arbeit wie grade ist! Auch wenn meine eigenen Sachen mal wieder liegen bleiben – aber immerhin spiele ich.
Im Rückblick muss ich sagen: ich habe wahnsinnig viel gespielt dieses Schuljahr, bin viel aufgetreten, musste immer wieder gut präpariert auf irgendeine Bühne klettern. Aber es waren lauter ungeplante Sachen. Nicht meine Beethovensonate, nicht mein Bach. Die laufen so am Rande mit. Ich fürchte, das ist einfach das Leben, in dem ich jetzt angekommen bin. Grossartig Solospielen ist nur noch mit echter Disziplin drin, und wenn sich die anderen Aufgaben so häufen, werden da am ehesten Abstriche gemacht. Und zwar nicht aus körperlichen, sondern akustischen Gründen: man kann nur so und so viele Stunden am Tag ein so lautes Instrument wie meins spielen und hören. Irgendwann wird es selbst mir zu viel. Aber auch wenn es nicht meine Wunschstücke sind: immerhin spiele ich, bleibe lebendig und fit und bleibe in Verbindung mit dem, was mich ausmacht und was mir wichtig ist. Dass das ein Geschenk ist, erkennt man erst, wenn man sich genügend über Genzmer aufgeregt hat…