Was macht einen guten Klavierspieler, einen bemerkenswerten Musiker aus? Sofort fallen einem mehr oder weniger leicht vermittelbare, physikalisch erklärbare Parameter ein, die sich Interessierte mit der nötigen Disziplin aneignen können: gut trainierte, kräftige Finger, rhythmische Sicherheit, Klangschönheit, die stilsichere Interpretation von Werken unterschiedlicher Epochen, gekonnter Pedalgebrauch, souveränes und sicheres Auftreten auf der Bühne. Zu diesem letzten Punkt gehört ganz wesentlich ein anderer, wichtiger Begriff, der leicht schwammig wirken könnte – ohne den aber alles andere wertlos wäre: dass jemand eine eigene Stimme hat. Und sich auch traut, die hören zu lassen. Sofort wird aus einem guten oder sehr guten oder makellosen Klavierspieler einer, der im Gedächtnis bleibt, weil er einen auf eine ganz bestimmte und persönliche Art berührt hat. Weil er sich selber getraut hat, viel von sich preiszugeben, sich damit verletzlich gemacht hat und uns dadurch an Stellen trifft, an denen wir verletzlich sind.
Nur – wie bringt man das jemand bei? Wie stärkt man das Selbstbewusstsein von Schülern, die vielleicht eher zu den Stillen, Unauffälligen in einer Gruppe gehören? Oder von denen man über die Jahre mitkriegt, dass sie von Eltern systematisch kleingehalten werden? Äusserungen wie „ich hab’s ja gewusst“ oder „ich hab ja nur drauf gewartet, dass die Stelle schief geht“ tun mir im Herzen weh. Wie muss es da nur den Angesprochenen gehen, die möglicherweise rund um die Uhr solcher Kritik ausgesetzt sind.
Besonders schrillen die Alarmglocken bei mir, wenn jemand sein Kind nicht mal selber antworten lässt. Das kommt seltsamerweise häufiger vor, als man denkt – obwohl es an Unhöflichkeit kaum zu überbieten ist, wenn man jemand auf diese Art der eigenen Stimme beraubt. Und es signalisiert dem Kind: du bist es nicht wert, gehört zu werden. Ich kenne die Situation, dass ich, wenn die Eltern im Raum sind, das Kind etwas frage und die Eltern antworten. Einmal gab es an einem Tag der offenen Tür noch eine Steigerung: da kamen nicht nur Mutter und Kind, sondern die Grossmutter noch dazu. Das Kind sass stumm neben mir am Klavier und hat nicht ein einziges Mal den Mund aufgemacht. Meine Fragen hat grundsätzlich die Mutter beantwortet beziehungsweise die Grossmutter, oft noch mal in korrigierender Weise. Da wurde eindrucksvoll sichtbar, wie Unterdrücken und Kleinhalten von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Ignorieren der beiden war zwecklos, und es standen so viele Kinder an, dass ich das unselige Dreieck irgendwann wegschickte. Doch die paar Minuten hatten mich so mitgenommen, als hätte ich eine ausweglose griechische Tragödie hautnah miterlebt.
Glücklicherweise sind das schauerliche Ausnahmen. Und das Gegenteil gibt es schon auch – dass Kinder eine so ausgeprägte Meinung von sich und ein so grosses Selbstbewusstsein haben, dass der Unterricht deshalb schwierig wird. Aber jetzt die ganz „Normalen“, die ganz normal Lampenfieber haben oder lieber etwas leiser spielen, weil dann die eventuellen Fehler auch gleich leiser sind und weniger auffallen: wie kann man die stärken? Es geht wunderbar leicht so im Einzelunterricht und an einem Instrument. Und es erfordert sicher weniger Mut, da experimentierfreudig zu sein, als wenn man sich zum Beispiel vor der ganzen Klasse hervortun soll. Oft geht es ja nur darum, überhaupt hörbar seine Meinung zu äussern. Eine Linie in der rechten Hand nicht nur irgendwie zu spielen, sondern ganz klar und plastisch herauszubringen. Und dem ersten Versuch noch zehn weiter folgen zu lassen, denn ein bisschen mehr geht immer noch, und noch mal lauter, und noch strahlender… bis es ein Aha-Erlebnis gibt. Und man auch merkt: man darf ja viel, viel mehr, als man gedacht hat! Und in einem grösseren Raum oder Konzertsaal noch mal mehr! Das wäre ein Ansatzpunkt, erst mal über die ganz einfache messbare Lautstärke Selbstbewusstsein zu bekommen.
Wichtig ist auch, die Kinder im Rahmen der Möglichkeiten viel selber entscheiden zu lassen. Es gibt eine solche Bandbreite an Entscheidungen, die ein Stück anders und individueller klingen lassen, und die muss man erst mal vorstellen und durchprobieren lassen, bevor man dem Schüler die Wahl überlässt. Allein das Tempo kann ganz andere Welten eröffnen, oder, wenn es zum Komponisten passt, der freiere Umgang mit dem Tempo mitten im Stück. Es gibt so viele Möglichkeiten, ein Stück ganz zu seinem eigenen zu machen, und ich bin immer dankbar, wenn ich es ständig ein bisschen anders höre und vielleicht im Konzert mit einer noch mal anderen Version überrascht werde. Wenn man gewisse Regeln (naja, einen Wust von Regeln!) beachtet und sich einigermassen auskennt mit einzelnen Komponisten, gibt es quasi kein richtig oder falsch: was überzeugend rüberkommt, ist auf seine Art richtig. Das mag beliebig klingen oder Schluderigkeit Tür und Tor öffnen, aber so meine ich es nicht. Und ich fürchte, meine Schüler wissen inzwischen, wie ich es meine… Trotzdem gibt es in einem gewissen Umfang viel Freiheit, und ich bin froh um jeden, der Gebrauch von dieser Freiheit macht. Ich sage jedem, dass seine Stimme, sein Beitrag heute abend, wichtig ist. Enorm wichtig. Und dass wir das feiern durch besondere Kleidung, eine besondere Konzentration und Ruhe, und indem wir uns besonders reinlegen. Und – es wirkt.
Mein Schülerkonzert diese Woche war einfach nur beglückend. Einer der schönsten Abende, seit ich Schüler habe. Weil alle so frei, gelöst und angstfrei spielten. Das fand ich bemerkenswert. Manchmal gibt es doch Zitterpartien, nach denen man als Lehrer mindestens so schweissnass ist wie der, der vorne am Flügel sass. Gestern überhaupt nicht, es war klangvolle Freiheit pur. Das könnte auch daran gelegen haben, dass ich jeden sein Stück selber wählen liess. Ambitionierte Themenkonzerte sind gut und schön, aber vielleicht eher für den Lehrer schön. Meine armen Gymnasiumsschüler sind ohnehin einem rigiden Lehrplan unterworfen und müssen vier Mal im Jahr Pflichtstücke spielen, ob sie wollen oder nicht. Das Wunschkonzert gestern hat noch mal andere Energien freigesetzt und ich hab tatsächlich andere, bisher unbekannte Facetten der jeweiligen Stimmen gehört. Aber ich hab vor allem die Stimme von jedem gehört, hier in dem kleinen Bereich. Das heisst, sie sind sich bewusst, wer sie sind und was sie vermögen. Vielleicht erinnern sie sich bei anderen Gelegenheiten daran, wie stark sie sind.