Zeit als Raum

DSCF2169Meine Erwachsenen halten mich auf Trab. Einmal zeitlich, weil sie einfach (fast) immer erscheinen und meine Unterrichtstage voller sind als geplant. Aber hauptsächlich gedanklich. Vor und nach dem Unterrichten beschäftigen mich ihre so komplett unterschiedlichen Bedürfnisse und Herangehensweisen mehr als erwartet und ich bin ständig am Überlegen, wie ich mich noch besser um sie kümmern kann. Die Anschaffung und Lektüre von „Erwachsene im Instrumentalunterricht“ von Reinhild Spiekermann hat sich schon wegen eines winzigen Abschnitts gelohnt:

„Musikalisches Lernen findet auf Umwegen statt, muss nicht immer zielgerichtet sein und enthält Phasen unterschiedlicher Intensität. Insofern kann der Lernprozess nicht als linearer angesehen werden, in dem „Zeit als Strecke“ verstanden wird, sondern sollte als „Raum“ begriffen werden. Der pädagogische Umgang mit der Zeit sollte dem Lernenden ermöglichen, seine „subjektive Zeit“ einzubringen in das Unterrichtsgeschehen.“ (Seite 82)

Natürlich gilt das auch für Kinder – je jünger sie sind, desto mehr „mäandert“ das Lernen, bewegt sich spiral – oder schleifenförmig vor und zurück. Aber das ist normal, keiner fühlt sich beunruhigt oder gestresst. Und je nach Fall geniesse ich es, das Gelernte zu unterfüttern mit Extrastücken, die grade hilfreich sind. Oder einfach Spass machen. Und systematische Wiederholungen von alten Stücken sind Teil des Unterrichtskonzepts. Sie könnten als Rückschritt empfunden werden, untermauern und festigen aber auf wunderbare Weise das Gelernte und helfen, „belesener“ zu werden. Oft werden diese Wiederholungen von den Kindern selber angeregt. Sie zeigen mir damit auf wunderbare Art, dass es nicht darum geht, Strecke zu machen, sondern einfach Klavier zu spielen. Und dass sie völlig mit dieser Tatsache zufrieden sind. Wie eine Sechstklässlerin, die letzte Woche mit dem Feenheft von Alec Rowley ankam und sagte, sie möchte mir mal wieder alle Stücke vorspielen, die wir da drin gemacht haben – wohlgemerkt, das war in der zweiten und dritten Klasse. Während sie loslegte und dabei auch erklärte, wer von den Geschwistern welches Bild damals ausgemalt hatte, ertappte ich mich dabei, dass ich überlegte, ob ich diese „Zeitverschwendung“ in der Stunde limitieren soll und ihr sagen soll, dass sie noch zwei Stücke spielen kann und den Rest zuhause machen soll. Aber ich spürte an ihrem Stolz über die gelungenen Stücke, dass sie eben auch mir zeigen wollte, wie sie sie jetzt spielt. Dass die Stücke und auch die mit meinem grossen Farbenkasten ausgemalten Bilder Teil unserer gemeinsamen Vergangenheit sind. Es war ein enormer Schritt rückwärts – und gleichzeitig wertvolle und wirklich beruhigend schöne zehn Minuten, die ihr Klavierspielen auf mehreren Ebenen gefestigt haben.

Von meinen Erwachsenen käme keiner auf die Idee, mit leuchtenden Augen die „Babystücke“ aus den allerersten Monaten spielen zu wollen. Ganz im Gegenteil: wir sind besessen davon, unsere Zeit so effektiv wie möglich zu verbringen, wollen messbare Fortschritte sehen und letztlich ist Zeit ja auch Geld (dafür haben Kinder noch kein Bewusstsein. Und sind deshalb wunderbar frei…) Und ich muss mich da durchaus an die eigene Nase fassen und fragen, wie sehr ich durch meine eigene Einstellung zu der übergrossen Erwartungshaltung mancher beitrage. Denn wenn es um mich und mein eigenes Lernen geht, denke ich auch erst mal, es muss Ergebnisse bringen, ich muss weiter kommen und besser werden und was vorzeigen können. Es wäre purer Luxus, etwas nur zu tun, weil man’s gerne tut und dabei Freude empfindet. Oder?! (Spricht die Frau, die so überdiszipliniert ihr Lauftraining begonnen hat, dass nach vier Wochen wahlweise Knie, Hüfte und Bandscheiben wehtaten und es eine Qual war, Treppen runterzusteigen. Jetzt bin ich dabei, Schritt für Schritt alles anders und langsamer aufzubauen und sage mir dabei minütlich vor: es kommt nicht darauf an, wie schnell ich wie weit laufe, sondern – DASS ich laufe. Dass ich draussen bin und es einfach tue. Ohne messbare Ergebnisse. Das ist vielleicht ein Umdenken!)

Viele Erwachsene kommen mit der ganz konkreten Frage, wann sie dieses oder jenes Stück spielen können. Oder allgemeiner: wie lange es braucht, um Klavier zu lernen. Ich versuche, von Anfang an klarzustellen, dass wir hier in Jahren denken müssen, nicht in Monaten. Trotzdem kann sich nach einem Jahr Ungeduld breit machen, auch Enttäuschung und Staunen, wie schwer und langwierig es doch ist. Vielleicht auch Frust und Gedanken, aufzugeben, weil man vielleicht doch zu alt ist. Kinder fragen so was gar nicht. Das ist ein Segen. So gut Selbstreflexion ist: sie kann einen auch hemmen, unbefangen und frei an eine Sache heranzugehen. Und Vergleiche mit anderen bringen einen auch nicht weiter: jeder hat sein ganz eigenes Lerntempo.

Vielleicht gelingt es mir, dieses „Zeit als Raum“-Konzept meinen Erwachsenen näher zu bringen. Meine erste Assoziation dabei war der Raum als eine riesengrosse, schillernde Seifenblase, die sich je nach Bedarf auch oval verformen kann, immer wabert und lebendig und dehnbar ist. Jeder hat seine eigene, schöne und schützende Seifenblase, in der er sich vor, zurück oder seitwärts bewegen kann. Sie verändert sich mit uns unser Leben lang, kann erweitert und vergrössert werden oder Geborgenheit geben, so wie sie ist. Es wäre eine echte Errungenschaft, sich überhaupt erst mal darüber zu freuen, dass man es geschafft hat, sich einen Klavier – Raum zu errichten. Wer hat das schon?

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