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Lila

DSCF7811In den Herbstferien beschliesse ich, mein Schreibzimmer neu zu streichen. Macken und Abriebspuren an den Wänden gehören längst übermalt, und als ich in den Baumarkt fahre, ist mir klar, dass ich einen Kompromiss zur bestehenden Farbe brauche. Die gleiche werde ich nicht mehr finden, und das ganze Zimmer will ich nicht streichen. Mit Dunkelrot oder einem hellen Beige im Sinn fahre ich los – mit einem Eimerchen Pflaumenlila komme ich wieder. Es hat mich magisch angezogen. Eigentlich ist es eine wunderschöne Farbe, aber nach dem ersten Pinselstrich bin ich bestürzt und schockiert und denke nur: was mache ich da?! Noch kann ich aufhören!

Aber dann fühle ich mich so eingehüllt und gewärmt von der Farbe, dass ich in den freien Tagen mehr vom Zimmer streiche, als ich vorhatte. Es wird viel dunkler, als ich denke. Aber ein Abend in der Oper in der opulenten Farbenpracht der „Ballets russes“ und ein Besuch in der Stuckvilla bestärken mich: es darf ruhig auch mal dämmrig sein, üppig  und kostbar. Kleine goldene byzantinische Kacheln verkneife ich mir (noch…), aber jetzt dürfen goldene Bilderrahmen her. Und natürlich andere Vorhänge.

Dieses verrückte Lila hat eine unerwartete Eigendynamik. Eines Abends setze ich mich an den Schreibtisch, zünde eine Kerze vor meiner in dunkler Farbfülle strahlenden Wand an, öffne den Laptop und schreibe wie eine Wilde. Fünf Tage lang hält dieser Zustand an, bis der Computer fast raucht. Ich kenne mich selbst nicht wieder, hatte gar keine Ahnung, dass diese Geschichten raus müssen, sehe am unablässigen Strom, dass genau jetzt die Zeit zum Schreiben ist. Und ich kann eindeutig sagen: daran ist das Lila schuld.

Spontane und für alle sichtbare Veränderungen wie ein neuer Haarschnitt oder eine neue Wandfarbe bedeuten oft, dass man etwas Altes zu Ende gebracht hat und Lust auf etwas ganz Neues hat. Bei mir gibt es keine konkreten Ereignisse, aber im Gewirr des immer verflochtener werdenden Lebens war es anscheinend nötig, dass ich durchs Schreiben einiges ordne und anerkenne. Akzeptiere und mich nicht mehr aufrege über Dinge, die ich für verkehrt oder veränderungswürdig gehalten habe.

Zum Beispiel das Durchschlafen. Ich schlafe seit Jahren nicht mehr durch – gefühlte 350 Tage im Jahr bin ich nachts hellwach, und es regt mich auf (und hindert mich am Wiedereinschlafen.) Vor einiger Zeit habe ich beschlossen: dann schlafe ich eben in Etappen. Und mein Schlafdefizit hole ich irgendwann nach, spätestens im Sarg. Seit ich mir gestatte, Licht zu machen und wach zu sein, ist alles einfacher. Entweder hole ich mir ein Glas Rotwein und den tragbaren CD-Spieler mit Rubinstein ins Bett, oder ich lese die richtig komplizierten Sachen. Zu keiner anderen Zeit scheint mein Geist so wach zu sein wie zwischen drei und fünf morgens, also nutze ich diese Zeit.

Oder komplexe, traurige oder aufwühlende Gefühle, die eine Konstante im Leben zu werden scheinen: ich kämpfe nicht mehr dagegen an. Ich verlange nicht mehr von mir, dass ich immer gutgelaunt, unbeschwert und sonnig bin, denn das bin ich nicht und kann es nicht sein, ohne mir Gewalt anzutun. Es gibt einfach Trauer in meinem Leben oder sonstige tiefsitzenden komplizierten Gefühle anderen Menschen gegenüber, mit denen man irgendwie klarkommen muss. Indem ich ihnen ins Gesicht schaue und sie anerkenne, nehme ich ihnen viel von ihrem Stachel. Und kann tatsächlich ein Stück unbeschwerter werden, auch wenn die Wolken nie ganz weggehen. Es ist leichter, diese Regungen ins Leben zu integrieren, als gegen sie anzukämpfen. Tatsächlich kann man sie wie alte Bekannte begrüssen, wenn sie wieder ihren strubbeligen, scheusslichen Kopf heben. Und sie sind einfach Teil von mir. Machen mich zu einem gewissen Grad auch aus. Vielleicht würde ich mich gar nicht mehr wiedererkennen ohne sie? Vielleicht gehört es zum Prozess des immer noch Erwachsenwerdens dazu?

Das Gute daran, seinen Geistern in die Augen zu schauen, ist auch, dass man versteht: ohne Dornen gibt es keine Schönheit. Manchmal geht es einem nicht so toll, aber wenn dann mal alles wirklich unbeschwert und schön ist, kann man das Leben ganz anders geniessen, weil man weiss: das ist grade die Kehrseite – was für ein Glück, dass ich da sein darf!

Was für ein Glück, dass ich ein lila Zimmer haben darf…

Wieder im Alltag (oder: vom Inn an den Inn)

DSCF7560Auch wenn viele dem vergangenen Sommer wettermässig kein gutes Zeugnis ausstellen – ich habe das Gefühl, er war lang und strahlend wie selten. Für mich begann er schon Anfang Juni mit wunderbaren Ausflügen ins schönste Wetter. Die Fotos zeigen, dass der Himmel dauerblau war. Ebenso im Juli, in dem auch jedes Schönwetterwochenende genutzt wurde. Und über den August in Rom muss man kaum sprechen. Ich hab meinem Autole viele Kilometer abverlangt und einfach bewusst das Draussensein und Wegsein gesucht und genossen. Dass mir der Sommer gefallen hat, ist sicher eine subjektive Wahrnehmung. Aber ich hab so viel Sommer pur erlebt, dass mein Herz jubiliert beim Anblick des feuchten Morgennebels im Garten. Und am Inn. Und dem ganzen nassen Grün um uns hier, der fast greifbar nassen Luft, dem ständigen leisen Geräusch von Nässe, die von Bäumen tropft. Und merke: das ist es. Das entspricht meiner Natur. Hier bin ich zuhause.

Besonders deutlich wurde diese Überzeugung, als ich am Wochenende vor Schulanfang die dreissig Kilometer flussabwärts nach Au am Inn fuhr. Ich hatte um 17 Uhr ein Konzert in der dortigen Klosterkirche, aber unversehens hatte sich Besuch angesagt. Und ich muss sagen: es fiel mir schwer, an diesem regnerischen Tag die nette Gesellschaft zu verlassen, die bei brennenden Kerzen, Pflaumenstreuselkuchen und dem ersten Gewürzkuchen des Jahres bei uns sass. Weil ich Angst hatte, dass vom Kuchen nichts für mich übrigbleibt. Und weil ich gar nicht gern Orgel spiele. Und weil es regnete…

Ich fuhr mit gemächlich winkendem Scheibenwischer durch den Nieselregen. Die Strasse schlängelte sich durch üppig grüne, nasse Wiesen und die Gegend wurde immer einsamer.  Als nur noch einzelne Bauernhöfe auf den Hügeln lagen, spürte ich, wie sich mein Herz regte. Und sich freute über den Regen, das Grün, die Stille und Ruhe um mich. Es war wirklich ein Ankommen und Nach-Hause-Kommen nach den vielen Fahrten des Sommers.

DSCF7569Und was auch nett war: in den letzten Wochen hatte ich so oft irgendeine wunderschöne Kirche als Ziel – als Touristin. Und kenne die Vorfreude, wenn man um die letzte Biegung fährt und vielleicht die Türme vor sich auftauchen sieht. Das Kloster Au liegt ja extrem malerisch am breiten Inn und die charakteristischen Türme heben sich deutlich von den Wiesen drumherum ab. Und diesmal war es so ein anderes Gefühl. Schon auch Vorfreude, was Schönes zu sehen, aber auch das Bewusstsein: da wird jetzt gearbeitet. In dem Raum, den andere besichtigen, darf ich mich jetzt aufhalten und spielen. Muss nicht wie in Admont fünf Euro für eine Fotoerlaubnis zahlen, obwohl die Kirche ein ähnliches helles Rokokojuwel ist. (Typisch, dass man dann keine Kamera dabeihat, oder?) Darf oben auf dem uralten Rotmarmorboden der umlaufenden Galerie wandeln, ohne dass ich zurückgepfiffen werde – weil es nur so zur Orgel geht. Darf den ganzen grossen Raum mit Musik erfüllen und so schon mal anfangen, die Fülle an Schönem, die noch auf meiner Netzhaut flimmert, zu verarbeiten. (Denn ich bin ein furchtbar optischer Mensch und kann Schönes nicht einfach ablegen und einsortieren – ich muss es in meiner Musik weiterverarbeiten. Und grade besteht hier ein Überhang. Das betrifft völlig verschiedene Eindrücke: die dämmrig-goldglänzende Schönheit von S. Andrea della Valle, die einen wie ein Vorgeschmack aufs Paradies einhüllt. Aber auch das Stück Himbeer-Schokotorte in einem Terrassencafé vor der grünen Salzach und den verschiedenen Kuppeln der Salzburger Altstadt – was für Farben!)

DSCF7557Und die Orgel in Au ist ein richtig feines Meisterinstrument. Nicht eins der furchtbaren Schlachtrösser, die ich auch schon kennenlernen durfte und die meine Motivation, mich näher damit zu beschäftigen, gedämpft haben. Ich hab selten so einen Farbenreichtum erlebt und so viele Möglichkeiten, durchs Registrieren fein abzuschattieren, und sie sprach hervorrragend an – das gibt es auch selten. Weil ich mir bei solchen Gelegenheiten extra viel Einspielzeit gönne, konnte ich einfach zum Vergnügen mein gesamtes Repertoire vom 2. Band Wohltemperiertes Klavier, den ich dabei hatte, auf diesem „Klavier“ ausprobieren, auch mit dem guten Gefühl: hier würde sich niemand im Grabe umdrehen – war er doch selber so ein Bearbeiter und Umwandler. Und das war mal wieder sehr spannend, wie auch auf dem Cembalo – dass Aktionen, die auf einem Manual viel Kopfzerbrechen bereiten, auf zweien praktisch ein Kinderspiel sind.

Die guten Vorsätze…

Januar ist eine gute Zeit, um Bilanz zu ziehen, wie und ob man seine Neujahrsvorsätze einhalten konnte. Ich wollte (praktisch…) keine Bücher kaufen und mehr aus der Bibliothek ausleihen. Natürlich heisst das nicht, dass sich die Bücherschar nicht doch durch unerwartete Geschenke vermehrt hat, das ist schon auch erstaunlich, wie da die besten Vorsätze nichts bringen… Aber aktiv habe ich wirklich kaum dazu beigetragen. Zwei Bücher übers Unterrichten für die Sommerferien mussten sein, aber das zählt ja als Weiterbildung. Und ganz aktuell noch eins, das ich sicher auch immer wieder zur Hand nehmen werde. Aber ansonsten war ich wirklich so brav, dass ich mich zu Weihnachten mit zwei wunderschönen antiquarischen Dickens-Ausgaben belohnt habe – den gibt es erstaunlicherweise weder in der Schulbibliothek noch in Wasserburg.

Und hat mir was gefehlt? Nein. Natürlich gibt es den Impuls, wenn man vielleicht frei hat und durch eine schöne Buchhandlung stromert, das ein oder andere Buch mitzunehmen, aber es hat direkt gut getan, solche spontanen Wünsche zu hinterfragen. Dabei konnte ich feststellen: wahrscheinlich sind die meisten Käufe aus so einer Gelegenheitslaune geboren. Würde man noch mal heimgehen und eine Nacht drüber schlafen, würde man sicher bei vielen Dingen feststellen, dass sie gar nicht sein müssen.

Und hab ich weniger gelesen? Nein, beileibe nicht, fast im Gegenteil! Ich hab die Wasserburger Bücherei abgegrast, so weit das interessant war. Orhan Pamuk entdeckt, was ganz toll ist, Alice Munro, die ich sehr schätze,  kurz vor der Bekanntgabe des Nobelpreises gelesen und mir gedacht, ob sie ihn wohl je noch bekommt und ob sie es erlebt, ein paar Autoren zum ersten Mal gelesen und festgestellt, dass ich die nicht kaufen muss, mal wieder einen Donna Leon-Krimi gelesen… Aber leider ist für mich nach einem Jahr so ziemlich das Ende der Fahnenstange erreicht. Es gibt kaum Klassiker oder das, was mich interessiert. Für eine Provinzbibliothek ist sie sicher sehr schön gestaltet und ausgestattet, wenn man Kinderbücher oder Reiseführer sucht, aber zum wirklichen Lesen werde ich den Ausweis nicht verlängern. Dafür gibt’s dann eher die Fernleihe in der Schule, auch wenn es immer etwas lang dauert. Aber das steigert die Vorfreude…

An der Qualität des Lesens hat sich allerdings was geändert. Ich bilde mir ein, dass ich langsamer und bewusster lese.  Ich erinnere mich besser an die einzelnen Bände, und erinnere mich auch daran, auf welchem Weg ich an sie gekommen bin. Es ist also schon eine Art Abwendung vom schnellen Konsum, vom atemlosen und schnellen Durchlesen. Das war auch etwas, was ich mir als Vielleserin schon lange gewünscht habe: einen sinnvolleren und erfüllteren Umgang mit der Materie. Und weil keine Stapel an ungelesenen neugekauften lauerten, hatte ich auch die Musse, lang geliebte Schätze aus meinen Regalen in Ruhe wieder zur Hand zu nehmen – auch etwas, was ich mir immer wünsche…

Oh, eine kritische Situation gab es doch, und da muss ich zugeben, dass ich schwach wurde, weil die Gelegenheit so perfekt war: als ich an einem kühlen, klaren  Herbstmorgen im September in Rosenheim in die Alexander – Ausstellung gehen wollte, bog ich auf den Hauptplatz und fand mich nichtsahnend in einem gigantischen Bücherflohmarkt wieder. Ich hatte Zeit, war allein – es wäre dumm gewesen, da nicht zu stöbern, und es hat einfach unglaublich Spass gemacht. Drei wirklich schmale Bändchen kamen mit nach Hause – darunter eins über Igelüberwinterung (sehr nötig hier!). Das Igelbuch ist das perfekte Wohnzimmertischbuch. Fast jeder meiner Schüler hat es angeschaut, im Wechsel mit den Originalen auf der Terrasse. Das war eine lohnende Anschaffung, auf jeden Fall.

Und – dieses weniger Bücherkaufen war keine einmalige Aktion, kein Experiment, das nur auf ein Jahr beschränkt ist. Ich möchte so weiter machen, also wirklich bewusst unterscheiden, wem ich wertvollen Regalplatz gewähre und was vielleicht nur ein Impulskauf wäre. Geht doch!

Genug

Dieses Jahr konnte ich mir einen langgehegten Traum erfüllen: am Freitag unterrichte ich nicht. Seit Jahren wünsche ich mir, einen Tag zu haben, an dem ich üben kann, ohne auf die Uhr zu schauen, in Ruhe Besorgungen erledigen kann, eventuell mit Freundinnen frühstücken kann – falls die genau so luxuriös wie ich leben – , im Garten was tun kann ohne Zeitlimit… Die Ideen sind da, und jetzt auch die freie Zeit.

Aber das seltsame ist: man scheint sich dafür rechtfertigen zu müssen, wenn man als gesunder und fitter Mensch bewusst die Arbeit zurückfahren will. Ich wurde mehrfach gefragt, warum ich nicht noch fünf neue Schüler annehme, dann würde ich doch auch mehr verdienen. Aber die Frage ist wirklich: Geld oder Leben. Muss es dauernd mehr sein? Und wie viel ist genug?

Das Spannende ist ja, dass das jeder für sich anders definiert und jeder andere Prioritäten setzt. Was für mich genug ist, ist für andere vielleicht nicht mal akzeptabel. Und ich finde es immer wieder wichtig, mir bewusst zu machen, dass es völlig andere Lebensstile gibt, sowohl in die eine als auch die andere Richtung. Und muss mir auch immer wieder vorsagen, dass der grösste Teil der Weltbevölkerung mit einem Bruchteil von dem lebt, was wir als Minimum erachten und sich dabei noch abmühen muss, an Trinkwasser zu kommen – eine Sache, die für uns so absolut selbstverständlich ist, dass wir nie drüber nachdenken.

Ich glaube nicht, dass es einen glücklich macht, viel oder noch mehr Geld zu haben. Oft ist es doch so, dass manche, die glauben, mit tausend Euro mehr im Monat wären alle ihre Probleme gelöst, diesen Betrag genau so schnell durchbringen wie den Rest. Oder der Wunsch, die Woche hätte einen Tag mehr, um alles unterzubringen – ich fürchte, oft würde das eben eine anstrengende Acht-Tage-Woche bedeuten und nicht den ersehnten Freiraum. Bei allem, was einem scheinbar begrenzt zur Verfügung steht, kommt es auf die bewusste Einteilung, die richtige Organisation oder, um gleich noch ein gruseliges Wort anzubringen, das richtige Management an. Nur eine Stunde zum Üben? Ein fester Betrag zum Verjubeln im Monat und drei Geburtstage, die anstehen? Alles nicht schlimm, wenn man vorher weiss, dass man planvoll vorgehen sollte.

Und zu der Frage nach dem „mehr“: mein Glücksbewusstsein hat nicht mit dem Kontostand zu tun. Eher mit dem Gefühl, genug für alles zu haben, was mir wichtig ist. Genug zu haben, um sich buchstäblich alles leisten zu können und auf nichts verzichten zu müssen. Möglicherweise ist es ein ganz geringer Betrag, den man dafür vorsieht, aber das Bewusstsein, sich jeden Monat überteuerten Milchkaffee in einem hübschen Kaffeehaus, einen Museumsbesuch und auch das Schwimmbad leisten zu können, genug für Geburtstagsgeschenke und gelegentlich Kleider zu haben und jeden Monat ein bisschen was für eine kleine Städtereise zurücklegen zu können, gibt mir das Gefühl, reich zu sein und wirklich nicht mehr zu brauchen. Wenn ich hingegen meinem Leben nur hinterherhetze, mit Bedauern feststelle, dass die monatelange Sonderausstellung schon wieder vorbei ist und ich vor lauter Unterrichten keine Zeit hatte, hinzugehen, der Garten schon mal bessere Zeiten gesehen hat – dann kommt mir mein Leben armselig vor, egal, wie’s auf dem Konto aussieht.

Septembersonne

Liegt der ganze Sommer vor einem, geht man gedankenlos und fast nachlässig mit seiner Zeit und den ganzen besonderen Gelegenheiten um: der Badeanzug wird gar nicht gross ausgewaschen, weil man sicher ist, ihn morgen wieder zu brauchen. Pfirsiche und Aprikosen sind so alltäglich, dass man kaum drüber nachdenkt. Die Lesestunden auf der Terrasse breiten sich so endlos vor einem aus, dass es nichts macht, wenn man zwischendurch einfach einschläft. Die Armbanduhr liegt seit sechs Wochen da, wo ich sie in den letzten Schultagen abgelegt habe.

Und immer noch ist so ein wunderbarer Sommer, aber die Tatsache, dass ich endlich einen Kalender fürs nächste Jahr gekauft habe – was ich traditionellerweise immer irgendwo auf Reisen tue, um mich dann das ganze Jahr dran zu erinnern – und auch mal wieder einen Blick in den aktuellen geworfen habe, hat mir bewusst gemacht, dass wir an den letzten wirklich warmen Tagen angekommen sind. Oder lieber den vorletzten… Wie viele Barfusstage wird es noch geben? Wie lange kann ich noch das terracottafarbene Leinenkleid tragen, in dem man gefahrlos Tomatensuppe kochen kann? Wie lange kann ich noch Tomaten, die hier gewachsen sind,  für sieben Euro kaufen und mich wundern, wie viele das sind? (Es sind sehr, sehr  viele!) Und so bekommt alles, was ich tue, einen anderen Anstrich. Ich erlebe diese ganzen Schönheiten und Annehmlichkeiten bewusster, koste sie wirklich aus, halte immer wieder inne, um mich zu freuen – sehe aber auch, dass die Sonne tiefer steht und die Schatten im Garten früher kommen. Trotzdem sind es noch wunderbar milde und sternklare Abende und Nächte. Kein Grund zur Melancholie! Eher ganz besonders schöner Sommergenuss.

So wie mein Kurzurlaub in einer wunderbar südlichen, warmen Stadt, an einem glitzernden Fluss gelegen, voll von Renaissancebauten und für meine Begriffe unfassbar intakten ganzen Strassenzügen mit Gründerzeit- und Jugendstilbauten. Die Menschen dort leben in Denkmälern und wissen es möglicherweise gar nicht. Und seltsam, was man danach bedauert: dass ich weder Schloss Eggenberg mit der Alten Galerie noch das Arnold-Schwarzenegger-Museum (!) gesehen habe, lässt mich ruhig schlafen. Aber was mich nachhaltig beschäftigt, ist das Birnen-Schokolade-Tartelette in einer Konditorei, das ich NICHT bestellt habe: ein zierliches Mürbteigtörtchen, völlig mit dunkler Schokolade gefüllt, auf der eine kleine pochierte Birnenhälfte liegt. Eine Kombination, die mich einfach verfolgt…

Und jetzt? Wird die verbleibende Ferienzeit ganz bewusst genutzt. Unser Violinabend im Oktober wird seriös vorbereitet – kein Durchspielen, weil’s so Spass macht, und nicht zwischendurch ein bisschen Rachmaninoff, vorgeblich zum Aufwärmen, sondern: konzentriert pro Tag ein Satz der Brahms-Sonate, und gleich mal an die komplizierten Stellen ran. Gelesen wird auch bewusster: wenn sich eines der Bibliotheksbücher doch als Flop erweist, bekommt es keine zweite Chance. Dafür lese ich langsam und aufmerksam „From the Stage to the Studio“, ein wirklich spannendes und umfassendes Werk übers Unterrichten, um zum Einstimmen vielleicht ein paar neue Ideen zu bekommen.

Und schaue zwischendurch den schlafenden Katzen zu, die die Nachmittage auf der Terrasse auskosten, wie es nur Katzen können, und unseren dieses Jahr leicht degenerierten, weil gar nicht scheuen und sehr tagaktiven Igeln, die es ebenfalls geniessen, ihre Bäuchlein vor dem langen Winterschlaf in die Sonne zu halten. In einer seltsam verdrehten Seitenlage, die mich erst glauben liess, das Tier sei gestorben… Und gucke auf meine lackierten Fussnägel auf der Gartenliege:  wie lange noch barfuss? Wie lange noch Nagellack, den man auch sieht? Jeder Moment ist kostbar.

P.S. ein kleines nachträgliches Foto zum Kommentar… damit mir bewusst wird, warum’s jetzt wieder losgehen muss mit dem Brötchen-Verdienen…

Im Blütenmeer

Da es etwas snobistisch und auf seine Art beschränkt klingt, ständig vom Botanischen Garten in London zu sprechen, den in München, also vor der Haustür, aber gar nicht zu kennen, wurde als Gegenmassnahme ein Sonntagsausflug dorthin beschlossen. Und das im Mai… Was kann es da anders als grosse Begeisterung geben? Und wer erwartet etwas anderes als ekstatische Rhapsodien über mit zarten Blüten übersäte Obstbäume, herrlich frühlingsgrüne Buchen mit hauchzarten Blättern, Teppiche voller Wiesenschaumkraut im lichten Laubwald, überbordend üppig blühende Rhododendren in kräftigen Farben, oder, gleich am Eingang, die einen fast überfordernde Vielfalt an Tulpenbeeten in allen denkbaren Farbkombinationen, die einen, von einer der Balustraden betrachtet, an einen persischen Teppichmarkt erinnern? Deshalb unternehme ich gar nicht den Versuch, die ganze unglaubliche und vielfältige Schönheit zu beschreiben, die man an einem der ersten Frühlingstage einfach selbst erleben sollte – inklusive Düften und Blütenstaub, der einem die Augen etwas brennen lässt, und den ersten warmen Sonnenstrahlen auf den Schultern.

Stattdessen versuche ich, die Unterschiede, die mir aufgefallen sind, in Worte zu kleiden. Falls so ein Unterfangen überhaupt sinnvoll ist… Was mir von London im Gedächtnis geblieben ist, ist die unglaubliche Ausdehnung des Gartens. Die schiere Grösse, auf die ich nicht vorbereitet war, hat mich fast erschlagen – doch selbst bei einem erneuten Besuch würde ich wieder nur einen Ausschnitt sehen können. Die Distanzen zwischen den Gewächshäusern allein sind beträchtlich, und will man unterwegs in Ruhe die zahlreichen majestätischen Baumriesen betrachten oder sich einfach auf einer der zahlreichen Bänke ausruhen, sieht man noch weniger Verschiedenes. Was aber nicht schlimm ist. Selbst hier, im absolut idyllischen Grün, hatte ich irgendwann das auf dieser Reise so oft auftretende Gefühl der Reizüberflutung und den Wunsch der bewussten Beschränkung. Im Gegensatz zu München, das an diesem sonnigen Sonntag äusserst überlaufen war, würden solche Menschenmassen in London aufgrund der Grösse des Gartens kaum auffallen. Es gab auch immer wieder Ecken, an denen ich ganz allein war und wirklich auch die Ruhe geniessen konnte.

Da der Garten in London älter ist, strahlt er eine ganz andere Art von Eleganz aus: noch mehr den Geist einer anderen, wirklich vergangenen Epoche. Die viktorianischen Gewächshäuser sind imposantere und filigranere Konstruktionen als die in München und sind durch die Fülle an Platz auch viel mehr auf äussere Wirkung angelegt – Teiche oder Wasserläufe bilden Sichtachsen mit Spiegelungen, und das durch die Distanzen langsamere Ankommen an einem der Palmenhäuser bietet aus verschiedenen Winkeln eindrucksvolle Ansichten. Überhaupt ist der Stil in London deutlich „royaler“ – man hat das Gefühl, sich in Gefilden und Dimensionen zu bewegen, die einem normalerweise nicht offenstehen. Und wirklich exotische, grandiose Bäume aus aller Welt wirken schon wie eine Demonstration der Grösse des britischen Empire – sehr selbstbewusst und etwas furchteinflössend. München trägt deutlich behäbigere Züge. Entstanden vor dem ersten Weltkrieg, erinnerten mich die Gebäude und vor allem die Kombination von bodenständig-heimisch blühenden Apfelbäumen und gehobenem späten Jugendstil an meine prägende Heile-Welt-Kindheitslektüre von „Pucki“ oder „Nesthäkchen“: hier würde ich mich unbefangen an die grossbürgerliche Kaffeetafel im Garten dazusetzen, zu Streusselkuchen mit Sahne und Gesprächsthemen wie den aufgeschlagenen Knien von Lenchen oder den Vergehen von Dackel Waldemar. Aber ich hätte keine Lust, ehrfuchtsvoll im Gefolge von Queen Victoria durch eines ihrer Gewächshäuser zu schreiten – nein, überhaupt nicht. München ist definitiv die bodenständigere Zeitreise…

Auch eine Zeitreise der anderen Art sind die typisch uncharmanten deutschen Verbots- oder Gebotsschilder, schätzungsweise aus den Sechzigerjahren. Dieser ruppige, deutliche Ton wird in Zeiten der political correctness wahrscheinlich bald der Vergangenheit angehören und ist schon deshalb sehenswert… Und ist es nicht bemerkenswert, dass es einem überhaupt auffällt? Inzwischen hat man sich schon so an den übermässig höflichen und beschönigenden Tonfall gewöhnt, in dem über Unangenehmes gesprochen wird, dass Schilder, die eine eindeutigere Sprache sprechen, tatsächlich herausstechen. (Nächstes Mal mach ich Fotos von solchen Schildern, bevor sie abmontiert werden!) Überhaupt strahlen die Serviceeinrichtungen in München diese typische „staatliche“, leicht lieblose Einfachheit aus, die in Zeiten der Privatisierung auch langsam aussterben werden. In London zahlt man ein atemberaubendes Vielfaches als Eintritt, bekommt aber auch das Gefühl, als „Sponsor“ für einen Tag privilegiert und zuvorkommend bedient zu werden, angefangen vom schönen Plan, den man überreicht bekommt, bis zu allen möglichen Einrichtungen, die den Aufenthalt dort angenehmer machen und die alle auf dem neuesten Stand sind.

Fazit? Ein Besuch im Botanischen Garten, am besten mit der Strassenbahn kommend, ist ein wunderbar altmodisches Sonntagsvergnügen. Absolut undigital, nicht interaktiv, ohne andere Geräuschberieselung als die, die von Natur aus da ist, ohne Bildschirme oder Touchscreens, und zu einem Preis, bei dem sich viele fragen werden, ob das überhaupt was wert sein kann. Und grade deshalb ungemein erholsam und bereichernd.

Erkenntnisse

… der letzten Woche:

Das berüchtigte Kleidungsstück, der Übergangsmantel, hat doch seine Berechtigung. Auch wenn man sich in eine unmögliche, bislang nie auch nur in Erwägung gezogene Farbe verliebt und im Verhältnis zu den Gelegenheiten, bei denen man ihn vom Wetter her tragen kann, zu viel Geld ausgibt, aber: die Lebensfreude an diesen Tagen wird enorm gesteigert!

Beim Einstudieren eines sechshändigen Stücks mit drei Schwestern stand durchaus die Frage im Raum, ob ich mit dem berühmten Sack Flöhe nicht besser dran gewesen wäre. Bis ich mich einfach aus der Sache zurückzog, nicht mal mehr den Einsatz gab und miterleben durfte, welche misteriöse schwesterliche Eigendynamik sich da entwickelte. Zugegeben: die Worte, die da fielen, waren weitaus drastischer und deutlicher als meine. Aber auch viel effektiver.

50 Osterglocken, 100 Traubenhyazinthen, 30 Tulpen im Herbst zu pflanzen, war absolut nicht zu viel, im Gegenteil: sie verlieren sich im Garten. Trotzdem sind es genug für wöchentliche Sträusse.

…wird benutzt, was da ist

Nachdem der Dezember in jeder Hinsicht ein übervoller Monat war, in dem alles im Überfluss auf mich einströmte, nutze ich den Anfang des neuen Jahres zu einem innerlichen Neuanfang. Nach den Einladungen und den damit verbundenen Lebensmittel-Einkaufsorgien geniesse ich es, nur mit einem kleinen Korb das Nötigste an frischen Sachen zu kaufen und mich sonst an die gut gefüllten Vorratsschränke zu halten. Und mich zu fragen, warum gewisse Lebensmittel ihr Verfallsdatum erreicht haben, ohne dass wir Lust darauf hatten. Jetzt wird konsequent verbraucht, was da ist. Auch das in den hinteren Reihen. Der Bestand ist teilweise lustig und regt meine Kreativität an: Spätzle mit Kraut hatten wir noch nie, aber es war gar nicht schlecht. Die Quarkknödel mit eingemachten Heidelbeeren und gerösteten Semmelbröseln waren direkt ein Gedicht, und die Graupensuppe perfekt für unser Dauerfrostwetter.

Mit Büchern, Kleidern, CDs ist es wie mit Lebensmitteln: man hat so viel im Schrank, oft, ohne es zu wissen. Statt einkaufen zu gehen, sollte man öfter die Zeit dazu nutzen, seine Schränke durchzusehen. Ich habe einige Wollsachen in die Reinigung gebracht, damit ich noch was davon habe, so lange es kalt ist. Dann die berühmten Knöpfe angenäht, die einen monatelang davon abhalten, ein bestimmtes Stück anzuziehen. Und ein paar ausgefranste Stellen ausgebessert. So habe ich ohne Einkaufen das Gefühl, eine neue Garderobe zu haben. Und ich habe mir angewöhnt, in die Schule Wolljackets anzuziehen. Ist vielleicht etwas zu fein, andererseits DIE Offenbarung in unserer kalten Burg. Zum ersten Mal seit acht Jahren beklage ich mich abends bei Johannes nicht, dass ich in Mantel und Pulswärmern unterrichtet habe. Dabei hingen die Jackets die ganze Zeit im Schrank (und in der Philharmonie über meiner Stuhllehne, weil es da viel zu warm ist!).

Mein E-Piano, das einige Monate bei zarten Händen verbringen durfte, wird in nächster Zeit zurückkommen – was gut ist, denn dann kann ich gleich morgens um sieben schon mal eine Stunde unhörbares Üben unterbringen, ohne andere zu stören. Es bekommt auch einen neuen Platz, und dafür haben der Gemahl und ich einiges umgeräumt. Was auch gut ist am Jahresanfang. Vor allem, wenn man es zu zweit tut und daran seine Diskussionskultur wieder, nun ja, weiterentwickelt. (Heute musste ich zugeben, dass er recht hatte. Ist aber gar nicht so schwer.) Jetzt steht ein Bücherregal neu in meinem Zimmer, das vorher wo anders war. Dafür musste der Schreibtisch in eine andere Ecke und schaut in eine andere Himmelsrichtung – ein unerwartet neues Lebensgefühl, das gleich Lust macht, sich hinzusetzen und loszulegen. Es ist so leicht, eine neue Perspektive zu erhalten. Warum macht man es nicht öfter?!

Im Regal waren ungefähr zwanzig leere Zentimeter vorgesehen für ausgeliehene Bücher und andere, die ich lesen will. Warum man sie auf dem Bild  nicht erkennen kann, also warum sie schon wieder völlig bewohnt aussehen, ist gruselig und unerklärlich. Ich versuche, dem Vermehrungstrieb unserer Bücher systematisch auf die Schliche zu kommen und habe deshalb im Januar mal mitgerechnet: ich habe sieben Bücher gelesen (fünf davon ausgeliehen – juchu Büchereiausweis!). Ich fürchte, das ist normal für mich. Nicht auszudenken, wie es hier aussehen würde, wenn ich sie alle gekauft hätte.

Manchmal werde ich gefragt, wann ich lese – eigentlich nur abends. Ich sehe halt nicht fern. Erstens ist es unsäglich, zweitens kann ich nicht mit der Fernbedienung umgehen. Seit Oktober hat sich noch mal was geändert. Ein viel zu junger Mann hat viel zu schnell irgendwas installiert und mir eine neue Fernbedienung in die Hand gedrückt. Ich hab noch nie ausprobiert, ob sie überhaupt funktioniert, und der Gemahl kommt eh nie zum Fernsehen. Im Januar hab ich also zwei Abende vor der Kiste verbracht mit vergnüglichen DVDs. An einem Abend war ich in einem Konzert. Eins hab ich selber gegeben, und einmal war ich in einer Lesung (und habe das vorgestellte Buch NICHT gekauft, obwohl es interessant klang!). Und die restlichen Abende habe ich eben gelesen. Bei diesen langen dunklen Abenden kommen da schnell einige Bücher zusammen.

Was ich u.a. gelesen habe: „Oliver Twist“, was sich als unerwartet grausam und generell düster erwiesen hat. Würde ich keiner zarten Seele empfehlen. Und „The Dark Island“ von Vita Sackville-West. Mein Januar-Roman von ihr. Um das Vergnügen auszubreiten, limitiere ich mich auf einen Roman pro Monat und bin leider schon im Jahr 1934 angelangt. Bei allem Respekt: ich würde auch dieses Buch nicht unbedingt empfehlen. Über sehr grosse Strecken merkt man zwar mit Vergnügen, was für eine begabte Schriftstellerin da am Werk ist, und psychologisch wird es zum Schluss zu immer interessanter und beklemmender. Aber es gibt eine unglaublich kitschige Schilderung einer Hochzeitsnacht, in der jemand im Nebenzimmer „Isoldes Liebestod“ auf der Orgel spielt. Hat denn das niemand verhindern können?! Leider ist es letzlich diese unsägliche Szene, die einem im Gedächtnis bleibt. Dann schon lieber ihre früheren Romane!

Ab jetzt…

Unsere Bücherregale haben dieses Jahr einen Zuwachs erfahren wie nie zuvor. Das muss anders werden, denn so kann es definitiv nicht weitergehen. Ich würde zwar liebend gern in einer Bibliothek wohnen, andererseits möchte ich nicht so viel um mich anhäufen, denn letzlich belastet Besitz doch nur. Und auch wenn ich regelmässig ausmiste und Bücher verschenke, steht das Lesevergnügen in keinem Verhältnis zum Aufwand an Gedankenenergie, Geld und Ressourcen, die man darauf verwendet.

Fatal für diese Entwicklung in unserem Haushalt hat sich in den letzten Jahren die extrem leichte Verfügbarkeit von gebrauchten Büchern über das Internet erwiesen. Über die einschlägigen antiquarischen Seiten, mit denen ich in Zukunft wirklich vorsichtig umgehen will, ist es erstaunlich einfach, mit einem Klick seltene Erstausgaben aus den 20er Jahren zu bestellen. Noch vor einigen Jahren musste man ihnen mühsam und persönlich auf der ganzen Welt nachjagen. Es ist zu verführerisch, sie jetzt so schnell auf einen Blick überhaupt lokalisieren zu können. Und wenn einem bewusst ist, dass manche der Werke nicht mehr gedruckt werden und möglicherweise nur noch in diesen fünf Exemplaren überhaupt existieren, fühlt man sich quasi verpflichtet, auf das Warenkorb-Symbol zu klicken. Und unversehens, und ohne sich ruiniert zu fühlen, hat man eine ansehnliche Sammlung beisammen.

Genau so gefährlich wie die Seiten mit antiquarischen Juwelen sind die bekannten anderen, die schnödere und neuere Taschenbuchausgaben anbieten. Auch hier gibt es immer wieder Titel, die nicht mehr gedruckt werden – und wieder sieht man es als seine moralische Pflicht an, sie zu kaufen, um sie vor dem gänzlichen Verschwinden zu bewahren. Finde ich dann noch eine Kundenrezension, die behauptet: „ein Text, der verwirrt, aber auch bereichert“, ist es für mich ein sicheres Zeichen, dass ich dieses Buch sofort lesen muss. Und – … nein, kein Klicken! Ab jetzt nicht mehr!

Ab jetzt habe ich ein weiteres überholtes und altmodisches Requisit wieder in mein Leben eingeführt: einen Leserausweis einer Bibliothek! Stolz steckt er neben meiner Telefonkarte, die man als handyloser Mensch manchmal braucht – viele meiner zwölfjährigen Schüler haben von beidem noch nie was gehört… Aber es fühlt sich gut an, dieser kleine Ausweis, ich fühle mich wieder komplett. Ich war fast mein Leben lang begeisterte Bibliotheksnutzerin, angefangen bei den zwei Regalen unserer Pfarrbibliothek im eiskalten Stübchen des alten Pfarrhauses.  Sonntags nach dem Gottesdienst durften wir die immer gleichen zerfledderten Abenteuerbücher aus der Nachkriegszeit ausleihen. Seit ich mehr auf dem Land wohne, bin ich allerdings von Büchereien abgekommen aus dem snobistischen Grund, dass die Literatur, für die ich mich interessiere, schlicht nicht erhältlich ist. Deswegen musste ich so viel kaufen, nur deshalb… Doch jetzt hat die Vernunft gesiegt – ich kann mir per Fernleihe aus München die absurdesten Titel kommen lassen, und falls ich wirklich was fünf Mal lesen will, könnte ich es immer noch anschaffen.

Der Vorgang birgt auch eine ungeahnte Vorfreude in sich. Gewöhnt an die sekundenschnelle Erfüllung aller Wünsche, ist es ein ganz seltsames und spannendes Gefühl, eben diese Instantbefriedigung nicht zu haben. Vor den Weihnachtsferien habe ich mir voll Freude und Stolz einen Ausweis unserer Schulbibliothek ausstellen lassen. Da die Fernleihe ein paar Tage dauert, war es sinnlos, die Bücher vor den Ferien zu bestellen. Jetzt kann ich in aller Ruhe überlegen, mit was ich anfangen will und meinen ersten Wunschzettel schreiben. Nach den Ferien bestelle ich es, und da ich immer nur zwei Tage in der Woche dort bin, muss ich noch mal eine Woche warten, bis ich die Bücher in der Hand halten kann. Ist das nicht wunderschön?! Eine nette Übung in Selbstdisziplin, die in sich schon eine Belohnung darstellt. Und dazu beiträgt, dass Bücher noch einen Wert haben. Die schnelle Verfügbarkeit trägt ja auch zu einer Entwertung bei.

Worauf ich mich freue (wenn ich’s bekomme…): ein wahrscheinlich kiloschwerer Bildband mit Photographien von Marianne Breslauer, der unserem Bücherregal gewichtsmässig den Rest geben würde. So gern ich ihn haben würde – so was wird in Zukunft ausgeliehen. Marianne Breslauer hält den Stil, die Eleganz und das Lebensgefühl einer vergangenen Epoche auf wunderbare Weise fest. Ich freue mich auf diese besondere Zeitreise.

Alles hat seine Zeit

In diesen feuchten Nebeltagen ist es die reinste Freude, morgens am Inn zu spazieren. Ich liebe es, wenn alles grau in grau ist, kristallene Wassertropfen an leicht mit Frost überzogenen Spinnennetzen hängen und man kaum unterscheiden kann, wo die Wasser- und die Nebelfläche sich treffen. Oder gehen sie in einem völlig aufgelösten feuchten Zustand ineinander über? Wenn die Konturen so unscharf sind, wirkt der Seitenarm des Inns mit seinen wild übereinander gestürzten Bäumen, die einfach liegen bleiben dürfen, und den sich schräg in den Himmel streckenden Ästen wie ein urzeitlicher Urwald, den seit Jahren kein Mensch mehr betreten hat.

Ich geniesse es, auf dem Hinweg in die Stadt die silbergraue Nebellandschaft nur mit ein paar Wasservögeln zu teilen. Nachdem ich meine Einkäufe erledigt habe und zurücklaufen will, freue ich mich aber genau so, unseren Nachbarn zu sehen, der am Stauwerk auf mich wartet. Normal laufen wir immer in entgegengesetzte Richtungen, wechseln ein paar Worte und bedauern es, dass wir nicht den gleichen Weg haben. Heute haben wir Glück und gehen beide stadtauswärts. Unser Nachbar ist eine Seele von Mensch. Ungefähr 35 Jahre älter als ich, strahlt er eine ruhige Gelassenheit und Lebensweisheit aus, die wohltuend ist. Kennengelernt haben wir uns, weil ich es nicht vermeiden konnte, meine Nase über seinen Gartenzaun zu stecken. Er hat weit und breit die üppigsten, gesündesten Rosen, und anfangs haben wir uns nur übers Gärtnern unterhalten und er hat mir in rührender Weise Ableger seiner Christrosen gebracht oder besondere Zwiebeln, die er auf einer Gartenschau gesehen hat. Dann hat sich herausgestellt, dass er sich sehr für klassische Musik interessiert. Seither gehen wir mit ihm und seiner Frau in Konzerte und einmal im Jahr in die Oper, und wenn wir beide uns sehen, nutzen wir das Fachwissen des jeweils anderen und quetschen ihn wieder über irgendwas aus. So auch heute: ich möchte von ihm wissen, mit was er seine Rosen angehäufelt hat und warum er alle so stark zurückgeschnitten hat und ob ich das mit meinen Kletterrosen lieber nicht machen soll, und er erzählt von einer Sendung zu Barenboims 70. und fragt, wie man im Rachmaninoff g-moll-Konzert so schnell spielen kann, bzw. an was man da noch denkt und auf welche Hand man schaut und wie das überhaupt möglich ist. Dann beginnt er, von neuen CDs zu erzählen, und allein vom Zuhören fühle ich mich überrollt und übersättigt und sage es ihm auch. Je länger ich lebe, desto mehr habe ich das Gefühl, die Zeit reicht nicht für alles, was ich noch lesen, anhören, spielen, kennenlernen und sehen will. Und wie gefährlich und anstrengend ich es in letzter Zeit finde, sich mehr in ein Thema zu vertiefen und immer weitere Kreise um einen Punkt zu ziehen, weil dabei anderes auf der Strecke bleibt und man beim Einkreisen schnell vom hundertsten ins tausendste kommt, wenn man nicht aufpasst. Allein wenn ich an mein privates Leseprojekt denke, englische Literatur kennenzulernen, die zwischen 1926 und 28 entstanden ist – meine Güte! Und wenn man es ausdehnen würde auf 1922 bis 28, hätte man Stoff für ein ganzes Semester. Oder ein ganzes Leben. Oder, wovon ich schon lang träume: Joyce, Proust und Woolf direkt gegenüberzustellen. Ich hab sie im Abstand von Jahren gelesen, aber mich juckt es in den Fingern,  bestimmte Passagen parallel zu lesen. Und dann kommt man irgendwann an den Punkt, an dem man spürt, dass man sich bewusst beschränken muss. Aldous Huxley muss einfach warten, und die fünf Mitford-Schwestern sind schon aufgrund ihrer Anzahl eine Art kleiner Zeitbombe, die den Rahmen sprengen würde. Und ich weiss: wenn ich mit einer anfange, führt das unweigerlich zur nächsten…

Harold Knight, A Window in St John's Wood / Persephone Books
Harold Knight, A Window in St John’s Wood / Persephone Books

Unserem Nachbarn erkläre ich meine Bedenken nicht so detailliert, aber er versteht, was ich meine, und sagt „Sie müssen sich das so vorstellen: Ihre Seele ist wie ein grosses Gefäss.“ Hier führt er mit beiden Händen ausufernde Bewegungen vor seinem Körper aus, die mich unwillkürlich an eine der schlammgrünen Komposttonnen denken lassen, die man jetzt immer in Gärten sieht. „Und Sie können nur in einem begrenzten Mass was reinfüllen, sonst quillt das Gefäss über. Wenn Sie an dem Punkt sind, müssen Sie den Deckel drauflegen und warten, bis sich alles setzt. Es hat keinen Sinn, dann noch mehr reinzustopfen.“

Wie recht er hat, und wie gut es tut, das in seinen Worten und mit diesem anschaulichen Bild zu hören. Ich fühle mich legitimiert, einfach nur aus dem Fenster zu starren und den Blättern beim Fallen zuzusehen. Oder abends, wenn ich wieder was gefunden habe, was ich nicht weiss, nicht noch mal den Computer hochzufahren, sondern kurz in mein Notizbuch zu schreiben, was so dringend ist, und dann nachzuschauen, wenn ich eh dabei bin. Und einfach mal auf dem Sofa liegenzubleiben und in die Kerzen zu schauen. Und alles in Ruhe sich setzen lassen. Egal, ob ich noch vier oder vierzig Jahre lebe – wahrscheinlich hat man nie das Gefühl, genug Zeit zu haben, also kann man gleich mal an einem entspannten Verhältnis dieser Tatsache gegenüber arbeiten.