Archiv der Kategorie: Zuhause

Eine Auswahl

DSCF9134Wenn ich mich manchmal frage, warum mir im Alltag der Kopf wirbelt und ich den Wald vor Bäumen nicht sehe, liegt es oft daran, dass ich mich von zu vielen verlockenden Optionen umgeben sehe. Zu viel Auswahl, ein zu grosses Angebot an Ähnlichem, die bekannte Qual der Wahl. Dass das überhaupt ein Problem ist, zeigt, in welchem Wohlstand wir leben… Ich stelle schon seit längerem fest, dass ich den grossen Edeka, an dem ich auf dem Heimweg direkt dran vorbei fahre, lieber links liegen lasse und zu dem kleinen, altmodischen in unserer Siedlung gehe. Ich habe das Gefühl, ich brauche allein schon von der puren Laufstrecke durch den Laden länger, wenn ich in den gigantischen gehe, und ausserdem macht mich das Überangebot an gleichartigen Produkten leicht verrückt. (Und geht es nur mir so, aber – je mehr Joghurtsorten im Kühlregal, desto unauffindbarer die Hefe?)

Mit den Kleidern ist es ähnlich: wer kennt nicht das Gefühl vor dem vollen Kleiderschrank, nichts anzuziehen zu haben. Seit ich je nach Jahreszeit eine andere Auswahl aus meinem Schrank auf die Kleiderstange hänge und den Rest wegräume, tue ich mich leichter. Meine Sommergarderobe ist eher klein. Fünf Kleider, die ich schon beim Kaufen geliebt habe, zwei Röcke, eine Hose und ein paar Oberteile. Jedes Jahr freue ich mich, diese Sachen wieder zu sehen. Und weil man sie nur acht bis zehn Wochen tragen kann, sieht man sich auch nicht satt daran. Ganz anders als mit der Herbst/ Wintergarderobe, der man nach gefühlten 30 Wochen einfach nichts mehr abgewinnen kann. Im März neige ich zu den gefürchteten impulsiven Fehlkäufen… Aber das nur am Rande. Es tut gut und vereinfacht das Leben, sich auf ein paar Farben und gut kombinierbare Teile zu beschränken. Ich empfinde es nicht als Beschränkung, sondern eher als Befreiung, weil ich nicht viel über das, was ich anziehen will, nachdenken muss. Beziehungsweise: einmal intensiv nachgedacht spart später Zeit.

Und lässt einen mehr Zeit haben für andere Organisationsaufgaben nach dem gleichen Motto: jetzt dranbleiben mit Block und Stift und eine Auswahl treffen, um späteren Stress zu vermeiden. Die Idee, die ersten Stunden des neuen Schuljahrs in den letzten Wochen des alten zu planen, wenn man gedanklich noch mittendrin ist, habe ich von Frances Clark, einer geschätzten amerikanischen Klavierlehrerin. Wie genial das ist, habe ich erst kapiert, als ich es das erste Mal gemacht habe. Seit einigen Jahren verfahre ich nun so und freue mich schon direkt auf meine Planungsstunde. Völlig stressfrei breite ich meine ganzen Unterlagen und mögliche neue Hefte auf dem Tisch aus, natürlich mit (mehr als) einer Tasse Tee, und überlege Schüler für Schüler, wie es im neuen Jahr weitergeht, welche Noten eventuell angeschafft werden müssen (Extraliste auf einem anderen Block) und was wir in der ersten Stunde machen. Das ist das Geheimnis für Seelenruhe über die Ferien schlechthin: schon mal skizzieren, wie es losgeht und die entsprechenden Hefte einpacken. Meine Erdinger Schüler werde ich in der ersten Woche mit einhändigen Stücken beglücken – das ist ein lustiger Anfang, aussderdem klingt es so, als sei es leichter… Die Kekskrümel und Taschentücher von einem halben Jahr sind aus meiner Schultasche entfernt, die geplanten ersten Stunden und die Hefte dafür sind drin, und ich spüre schon jetzt einen wunderbaren Seelenfrieden, bevor ich die Kinderchen überhaupt in die Sommerferien verabschiedet habe. Nächste Woche plane ich die Stunden meiner Privatschüler, dann kommt die Mega- Notenbestellung, und dann – Cocktails, Strandparties, der weisse Raffaelo – Werbungs – Badeanzug, was man als Klavierlehrerin halt so macht in den Sommerferien. Nein, nicht wirklich. Aber gefühlt!

Mehr Nebel, bitte!

WallFon.com_22601Meine Sonntagszeitung und ich haben eine besondere Beziehung: ich kann schwer ohne sie leben, aber manchmal muss sie sehr geduldig warten, bis sie zu Ende gelesen wird. Oft über den nächsten Sonntag hinaus. Aber ich will mir ja nichts entgehen lassen, also schlug ich heute morgen eine Seite im Wissenschaftsteil um und – hatte einen traumhaft bebilderten doppelseitigen Artikel zum Phänomen Nebel in den Händen. Und dachte: super, drei Tag, nachdem ich mich im Blog darüber ausgelassen habe, stosse ich auf den eine Woche alten Zeitungsartikel. Sehr originell von mir, werden meine Leser denken (falls sie auch der FAZ verfallen sind). Und wenn es schon so unoriginell ist, erlaube ich mir, die gleichen Bildmotive zu verwenden – die sind wirklich traumhaft schön.

Nebel-201020423867Was wirklich interessant ist: meine subjektive Wahrnehmung trügt leider nicht – es ist wissenschaftlich bewiesen , dass der Nebel auf der Welt abnimmt. Was möglicherweise mit dem Klimawandel zu tun hat. Offensichtlich lässt sich Nebel genau so schwer vorhersagen wie ein Sommergewitter – kein Wunder, es entspricht seinem Charakter, nicht leicht zu fassen zu sein. Trotzdem ist es ein spezieller Zweig der Meteorologie, und es gibt sogar Nebelkonferenzen (da wär ich gern mal dabei!). Und eine Karte der Nebelhäufigkeit in Deutschland war auch abgedruckt – wir im Süden, vor allem an der Donau, sind noch relativ begünstigt. Der nebelreichste Ort Deutschlands ist der Brocken, wobei hier die Nebeltage von 306 auf 234 im Jahr zurückgingen. Ein katastrophaler Rückgang – und manchmal denke ich, sind wir blind? Warum werden wir nicht aufmerksam auf solche signifikanten Veränderungen und Zeichen? Später will’s keiner gesehen haben.

aktuell_Nebel2011_01Gute andere Wohnorte für Fans der zarten Schwaden wären auch die Isle of Skye, Neufundland und San Francisco. Werd ich mir merken für die Urlaubsplanung… Trotzdem sehne ich mich nach dem guten alten Nebel hier. Der Inn war wirklich schon mal produktiver. Ich liebe die Tage, wenn man früh am Morgen zwischen Wasser oder Land nicht unterscheiden kann, weil alles in weiches Grau gehüllt ist. Und diese Bilder aus dem Artikel von schleierumwaberten Burgen oder den Hügelketten, von denen nur die Spitzen leicht aus dem Grau schauen – ich hör das gleich in Musik, stelle mir sanft verschwimmende Übergänge dar… Ich glaube, ab jetzt werd ich den Begriff „Pedalnebel“ nicht mehr in abwertender Weise verwenden, sondern gezielt mit meinen Schülern üben, wie man einen zarten Nebel hervorruft. Oder einen undurchdringlich dunklen. Oder einen, der sich langsam lichtet.

Ich kenne jemand, der mag Wolken und schaut sie immer bewusst an. Ich mag die Wolken, wenn sie bis zu uns runtersteigen und uns einhüllen. Es hat was Magisches, beunruhigt vielleicht auch ein bisschen, wenn auf einmal feste, grosse Strukturen wie besonders hohe Kirchtürme halb verschwinden. Und nicht als computeranimierter special effect, sondern so, dass wir tatsächlich keinen Einfluss darauf haben und eigentlich nur staunen können… Mehr Nebel, bitte!

(Fotos: wallfon.com, duden.de, burg-hohenzollern.com)

Wo bleibt der Nebel?

DSCF8630„Früher, als ihr noch lange nicht auf der Welt wart und die Tante noch jung, da gab es richtig dunkle, kalte Herbsttage, an denen man es sich zuhause gemütlich machte. Manchmal lag im November schon Schnee. Auf jeden Fall gab es viel, viel Nebel. Morgens über dem kleinen Fluss unten im Tal, oder abends, wenn es langsam dunkel wurde und wir noch im Wald waren zum Kastanien- und Eichensammeln. Dann zogen die Nebelschleier langsam von den Wiesen hoch, es wurde kälter und feuchter und wir wussten, dass wir bald nach Hause mussten. Blätter haben wir auch gesammelt und gepresst und zwischen Transparentpapier geklebt, um dann Martinslaternen zu basteln. Mit denen wir tatsächlich singend durchs Dorf gezogen sind – es gab dunkle Stellen, an denen unsere schwankenden Lichtchen die einzige Beleuchtung waren. Wir waren in eine gemütliche, heimelige Dunkelheit gehüllt, die nichts Schlimmes hatte, weil wir wussten, dass ganz in der Nähe ein warmes Zuhause wartet, in dem Kerzen angezündet waren, heisser Kakao und vielleicht Gewürzkuchen wartete und wir für Advent basteln würden. Wir waren voller Vorfreude auf die ganzen gemütlichen Erlebnisse der dunklen Jahreszeit – Vorlesen, Adventskalender öffnen, Weihnachtslieder auf der Flöte üben, der ganze märchenhafte und ersehnte Glanz der Weihnachtszeit…“

Ich komme mir tatsächlich vor wie die uralte, weisshaarige Tante im Lehnstuhl, wenn ich an die Novembertage meiner Kindheit zurückdenke. Jetzt gibt es Halloween und vorgefertigte Verkleidungssets im Plastikbeutel – nix mehr mit Basteln oder Selbermachen. Und überhaupt – Halloween… Und das Wetter: im Moment werden wir mit Nebel nicht grade verwöhnt, und es fehlt mir enorm. Meine Haut, meine Haare, mein ganzes Ich blühen auf und werden lebendiger, wenn die Luft schön feucht und undurchsichtig ist. Und was haben wir? Seit ungefähr zehn Tagen die reinsten Frühlingstemperaturen. Ständig Sonnenschein und dunkelblauer Himmel. Gestern hatte es 20 Grad, als ich am Inn lief. Ohne Jacke oder Schal. So angenehm und schön das auch sein mag – es passt nicht. Ich bin schon auf anderes eingestellt und habe mich nach dem zu langen und heissen Sommer auf Dunkelheit und Kerzenlicht gefreut.

DSCF8617Gestern gab es ein völlig unzeitgemässes abendliches Erlebnis, das ich festhalten muss, weil es so im November eigentlich nicht vorkommt: eine Schülermutter fragte, ob sie was von unserem Lavendel im Garten haben könnte, weil sie mit den Kindern Seifen als Weihnachtsgeschenke basteln wollte. Wir tappten also nach der Klavierstunde ihres Kleinen in den fast ganz dunklen Garten. Es war warm, und Amseln zischten laut schimpfend über unseren Köpfen, als wäre April. Wir schnitten einen Haufen Lavendel ab (gut, dass ich bisher noch nicht zum Zurückschneiden gekommen bin!), und der Kleine piepste immer wieder: „Mama, da ist ein ganz saftiger!“. Und dann hatte ich die Idee, dass Rosen in den Seifen sicher auch gut wären. Madame Knorr, die allersüsseste Duftrose aller Zeiten, überliess uns noch drei betörend duftende Blüten. Und Madame Alfred Carrière, die immer höher in den Kirschbaum klettert, hatte noch zwei nach Nelken und Aprikosen duftende Blüten für uns. Eine traumhafte Ausbeute. Meine Schülermutter hielt mir ihre beiden Hände hin, voll mit Rosen und Lavendel, und sagte: „Riechen Sie mal. Wir sind wieder im Sommer“. Und es war wahr. Ich hätte nie gedacht, dass so späte Blüten noch so süss und intensiv duften können.

Für mich als Kind roch der November nach Zimt und Kartoffelfeuer und man konnte ohne Schal nicht raus. Mein kleiner Schüler erzählt möglicherweise in 40 Jahren, dass man im November noch keine Jacke brauchte und Rosen und Lavendel im Garten schneiden konnte. Seltsam.

Mittagstisch

DSCF2435Je länger ich unterrichte, desto mehr Ideen habe ich, wie man die Hochschulausbildung praxisnäher gestalten könnte. Vielleicht – hoffentlich – hat sich auch viel geändert seit meinen Studientagen. Oder möglicherweise sollen ehrgeizige Liszt-Nachfolger/innen, die nur aus Vernunftgründen das pädagogische Diplom dranhängen, nicht komplett abgeschreckt werden? Fakt ist aber, dass ein Praktikum im Kindergarten nicht schaden würde für das ganze Drumherum mit kleinen Menschen, das unversehens auf einen zukommt. Allein das Reinkommen und Jacken aufhängen und noch mehr: das Gegenteil. Wie viele eingeklemmte Reissverschlüsse habe ich schon befreit? Wie viele verhedderte Schuhbänder aufgedröselt, und wie viel Geduld aufgebracht, wenn der nächste schon auf dem Klavierstuhl sitzt, der Vorherige mir aber zeigen muss, dass er schon Schleifen binden kann (in Zeitlupe…). Wie viele vergessene Fahrradhelme hab ich schon durch Wasserburg getragen?! Wer allein von diesem Anblick auf meinen Job schliessen sollte, würde sicher nicht auf das kommen, was ich eigentlich tue. Eher Fahrradhelmvertreterin oder vierfache Mutter…

Mit den Grundschulkindern passiert es unversehens, dass man eine Art nette Tante wird, die Pflaster, Taschentücher und Hustenbonbons parat hat, bei akuten Hungeranfällen eine Banane oder ein Butterbrot herbeizaubert und sich manchmal auch die wirklich traurigen Geschichten aus einem Kinderleben anhören muss. Gestorbene Haustiere, Ungerechtigkeiten bei der Rollenverteilung im Krippenspiel, Treulosigkeiten von neunjährigen Klasskameraden, die so fest beteuert hatten, dass sie einen heiraten würden – da kann man nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen und Klavier spielen.

Manchmal fürchte ich aber doch, dass ich ein Problem habe, mich abzugrenzen. Mit den Grossen und Nachholstunden und solchen Sperenzchen habe ich es wirklich gut im Griff, seit ich erkannt habe, dass ich sonst kein bisschen Freizeit mehr haben würde. Aber wenn eine Drittklässlerin ihre Mutter beim Abholen fragt, wann sie hier einziehen kann – nicht etwa, ob –  , muss ich schon schlucken. Überhaupt wundere ich mich, wie oft Eltern ihre Kinder bei mir „vergessen“. Vielleicht wäre das nicht der Fall, wenn ich ein bisschen miesepetriger wäre. Nicht abgeholte Kinder werden gnadenlos zum Arbeiten eingesetzt, aber selbst das hat keinen abschreckenden Charakter. Im Gegenteil. Sie fragen, wann sie wieder mit mir Kartoffeln schälen, Erdbeeren pflücken, Algen aus dem Teich holen dürfen. (Das einzige Mittel, das hilft: solche Fälle nicht vor die Pause oder ans Unterrichtsende legen, wenn es möglich ist. Aber man muss erst mal rausfinden, wer so viele Kinder hat, dass er erst neunzig Minuten später merkt, wenn eins davon abgeht…)

DSCF2408Es gibt Zeiten, da denke ich, ich hab in der Hinsicht schon alles erlebt. Aber an den Punkt kommt man wohl nie… Als ich mit einer Mutter über den bevorstehenden Geburtstag ihres Sohnes redete und mehr konversationshalber fragte, was sie backen wird, stutzte sie und fragte tatsächlich: „Richten Sie eigentlich auch Kindergeburtstage aus? Ihre Parties sind immer so gelungen.“ Mit „Party“ meinte sie meine durchdacht und aufwendig gestalteten Konzerte, bei denen es danach halt auch Muffins gibt. Ist ja super, wenn es so ankommt, ich bin ja auch beruhigt, wenn es für meine Schüler eher Spass als Prüfungssituation ist, aber – ein bisschen mehr Respekt vor meiner Ausbildung, bitte!

Oder kürzlich, da fragte die Mutter eines Mädchens vom Gymnasium, das direkt von der Schule zu mir kommt und keine Möglichkeit zum Mittagessen hat, ob ich gegen Bezahlung auch einen Mittagstisch anbieten würde. Da dachte ich wirklich, ich habe mich verhört. Erstens: wieso denkt sie, dass ich kochen kann/ werktags überhaupt warm esse? Zweitens: nie würde ich auf meine einsamen Mittagessen, die mehr der Lektüre als der Nahrungsaufnahme dienen, verzichten. Dieses bisschen Ruhe vor dem Sturm ist für meine seelische Gesundheit enorm wichtig. Vielleicht hatte sie ja eine idyllische Vorstellung, dass ich selber Kinder habe, für die ich täglich koche, und der Mann womöglich auch noch dazu kommt und dann ein Kind mehr oder weniger nicht ins Gewicht fällt. Wahrscheinlich ist sie einfach von ihrem eigenen Leben ausgegangen, wie man das immer tut. Aber mich hat die Frage nachhaltig verstört. Ich lausche seither unauffällig, ob dem armen Kind in der Klavierstunde der Magen knurrt (dann würde ich wohl umkippen.) Grübele, ob ich zu asozial und einsiedlerisch lebe, wenn ich nicht mal spontan jemand zu einem existierenden Essen einladen könnte. Komme, wenn ich meinen Stundenlohn zugrunde lege, aber zu einem Preis, bei dem sich das Mädchen ein Menü vom besten Restaurant der Stadt direkt in die Schule liefern lassen könnte, inklusive Service.

Aber vielleicht wäre das eine neue Geschäftsidee. Platz genug hätten wir. Ich könnte französische Konversation, Tischmanieren, das stilvolle Beantworten von Briefen anbieten, zusätzlich zu den täglichen Klavierstunden. Und wäre endgültig im 19. Jahrhundert angekommen…

Im Olymp

tumblr_mofev8gDYC1s6ikpgo3_r1_1280Dieses Schuljahr habe ich mir fest vorgenommen, mich bewusst um meine Seele und meine wirklichen Leidenschaften zu kümmern. Nicht nur ständig zu funktionieren und für andere da zu sein, sondern zwischendurch auch zu schauen, was mich eigentlich am Leben erhält. Was gibt es Besseres als einen Opernbesuch, um diesen Vorsatz umzusetzen? Da blühe ich wirklich auf und bin ganz und gar glücklich. Aber wie selten war ich die letzten Jahre in dieser grandios guten Oper quasi vor der Haustür? Das kann ich an zwei Händen aufzählen, inklusive der Opernbesuche mit der Schule. Da war ich als Begleitperson dabei und mehr damit beschäftigt, das Rudel Zehntklässler in Schach zu halten, als mich echtem Kunstgenuss hinzugeben.

Bevor allgemeine Erschöpfung oder widriges Wetter meine Pläne durchkreuzen können, hab ich mir gleich zu Beginn der Saison Karten für  „Madame Butterfly“ gesichert. Wie immer Stehplätze – erstens wegen der Münchner Preise, und hauptsächlich, weil ich immer so aufgeregt und beseligt bin, dass ich eh nicht still sitzen könnte. Ich merke wirklich nicht, dass ich drei Stunden stehe – ich schwebe die ganze Zeit. Und ich fühle mich wohl und einfach am richtigen Platz da ganz oben unter der Decke. Ausserdem sehen wir viel besser als die Leute im Parkett, wie der gigantische Kronleuchter kurz vor Beginn hochfährt, und das ist doch so ein köstliches Stückchen Vorfreude… Überhaupt, die Mitmenschen in der Oper: nach ein paar Tagen in einer Schickimicki-Umgebung in den Sommerferien, in der ich mich denkbar unwohl gefühlt habe, habe ich da oben einfach das Gefühl, richtig zu sein. Wir haben wahrscheinlich alle kein vorzeigbares Bankkonto, aber es ist uns ein Herzensanliegen, hier zu sein. Meine Mit-Stehplätzler schaffen es, sich nett anzuziehen, sie riechen gut, und vor allem: die Begeisterung schwappt über. Das sind glaube ich auch alles Typen, die vor Freude nicht stillsitzen könnten. Und wenn ich vor einer besonders schönen Phrase tief Luft hole, genau wie die Sängerin auf der Bühne, und merke, dass die beiden rechts und links von mir das Gleiche tun – dann ist das ein besonderes Kollektiverlebnis. Dann wird man auf samtigen Puccini-Wogen wirklich in andere Gefilde getragen. Und ich merke: das sind meine Leute. Genau hier will ich sein. Neben der Frau, die als erstes ihre hohen Schuhe auszieht und sagt, ich soll mich melden, wenn die mich am Boden stören. Oder dem Typ, der vor Butterflys Arie affenartig auf das Geländer vor uns klettert, auf dem man eigentlich eher die Ellenbogen abstützt. Weil er etwas wackelig da balanciert, stelle ich mich leicht hinter ihn und mache mich drauf gefasst, ihn eventuell etwas aufzufangen – in dem Bewusstsein, dass ich mich auch auf einen anderen Verrückten verlassen könnte, falls mir vor Entzücken mal anders wird. Ich bilde mir ein, dass hier eine andere Art der Solidarität herrscht als auf den teuren Plätzen.

Nach der Oper durfte ich allerdings schnell feststellen, dass ich wieder auf dem Boden der (Münchner) Tatsachen bin und hier ganz andere Klassenunterschiede herrschen: ich wollte mich schon am Nachmittag mit einer Freundin zum Essen treffen. Wir hatten zu spät realisiert, dass Wieseneröffnung war, und ich hatte mir im Kopf einige nette Parkmöglichkeiten zurechtgelegt, von denen ich mit Öffentlichen in die Innenstadt fahren wollte. Dann war gleich bei uns eine Mega-Umleitung wegen einer Baustelle bei Ebersberg, von der ich nichts wusste. Und noch ein Unfall und eine weitere Umleitung. Also ziemliches Chaos und ein drängend weiterrückender Uhrzeiger. Ich sah meine Felle davon schwimmen und dachte: jetzt hilft nur noch, die Sache mit Geld zu lösen. Ein Mal ist das schon drin. Also fuhr ich, was ich noch nie gemacht habe, in die Parkgarage der Oper – ein Bekannter hatte erzählt, dass es zehn Euro am Abend kostet, und zu Oktoberfestbeginn erschien mir das eine vernünftige Lösung. Mein Auto hatte wirklich Spass daran, langsam die Maximilianstrasse entlang zu fahren, und auch der Platz vor der Oper hat ihm sehr gefallen. Dass direkt vor mir ein schwarzer Rolls Royce in die Tiefgarage glitt, hätte mich etwas stutzig machen sollen… Aber ich dachte noch: was für ein Spass, so mitten in die Stadt reinzufahren. Und ich war spät dran.

Geneigte Leser, merkt Euch: die Tiefgarage kostet nur zehn Euro, wenn man nach 18 Uhr kommt. Als ich um halb elf mein Ticket bezahlen wollte, leuchtete da eine solche Unsumme auf, dass ich fast laut gelacht hätte. Ich hielt es für den besten Scherz seit langem. War aber keiner. Während ich hektisch in meiner Trasche kramte, ob ich solche Mengen an Geld überhaupt dabei hätte, schaute ich, ob der Automat auch Kreditkarten nehmen würde – aber nicht im Sinne von „Hab grad kein Bargeld“, sondern „Bitte geben Sie mir einen Monat Zeit, mein Konto mit den entsprechenden Summen aufzufüllen.“ Wie schnell man doch vom Olymp wieder unten sein kann…

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Kugelchen

DSCF2504Wir haben das Glück, einen sehr erfahrenen Gärtner zu haben. Er taucht höchstens ein, zwei Mal im Jahr auf, und es ist eigentlich übertrieben, ihn „unseren“ Gärtner zu nennen. Er ist eher ein Freund, der die Obstbäume schneidet. Für mich ist er die reinste Lichtgestalt. Dieses Unterfangen, allein den Garten in Zaum zu halten, überfordert mich manchmal. Aber wenn Alois da ist, ist alles gut. Selbst wenn seine Aktivität nur im Zuhören über Griessnockerlsuppe besteht und er mir beipflichtet, dass der Wald immer über den Gartenzaun wird kommen wollen. Mein Kampf mit der Wildnis scheint seltsamerweise nicht mehr so aussichtslos, wenn mir jemand wie er bescheinigt, dass er tatsächlich aussichtslos ist und ich voll Respekt meine Grenzen anerkennen muss.

Und Alois hat eine philosphische Ader, die mir sehr gefällt. Deshalb hab ich immer Suppe auf dem Herd für ihn, weil ich so gern was aus seinem Leben höre. Dieses Mal hat er mir zum Beispiel den Unterschied zwischen einem echten Grafen und einem eingeheirateten erklärt: der echte erwartet ihn in Gummistiefeln und  Hemdsärmeln vor der Tür und beginnt schon bei der Begrüssung, die Arbeit zu besprechen. An der er teilnimmt. Der eingeheiratete schaut mal kurz draussen vorbei, im Anzug und meistens mit Handy. Ich hab keine Erfahrung mit echten Grafen, aber ich fand das sehr treffend.

Alois ist im Alter meines Vaters, aber noch voll im Geschäft. Er legt Gärten in der Schweiz an und in Zweitwohnsitzen in Südfrankreich, und als er im Frühling zum Apfelbaumschneiden kam, war er vorher ein paar Wochen in Baden-Württemberg bei einem der Hohenzollern tätig. Hat 500 Apfelbäume gepflanzt, eine Fontäne gebaut, die mit der steigenden Tageszeit immer höher wird (so was macht er nämlich auch), ein Buchsrondell um den Brunnen und Buchsrabatten als Sichtachsen. Noch ganz beflügelt von seinen barocken Gartenphantasien, sagt er beim Rundgang in unserem Gärtchen: „Der Lavendel da, der hat keinen guten Platz. Der braucht mehr Sonne. Ich bring dir einen Buchs für hier.“ Vor der Terrasse? Ich kenne einen Buchs, der fast so hoch ist wie ich, und wende ein: „Aber wir wollen eigentlich von hier auf den Rasen sehen und keine Hecke vor der Terrasse haben.“ „Musst du ja nicht. Ich bring dir den Buchs, und dann schneidest du Kugelchen.“ (Alois spricht eigentlich das schönste Bayrisch, und „Kugelchen“ aus seinem Mund klingt irgendwie lustig.) Ich seufze innerlich: klar, ich hab ja sonst nichts zu tun, ich schneide Kugelchen. Und hoffe, dass er die ganze Sache vergisst.

DSCF6295Es wird Ende Mai, als der Alois -typische Anruf kommt: er wär in einer halben Stunde da, ob das passt? Und da tuckert sein Laster schon um die Ecke, und er steigt aus mit einer Kinderbadewanne voll Buchsbäumchen (und einem über-kniehohen Gewächs, von dem nicht die Rede war.) Alois möchte mir acht Buchsbäumchen vertickern, und ich bekomme es ehrlich mit der Angst zu tun. Wir feilschen und handeln, und ich kann ihn tatsächlich dazu bringen, nur drei zu pflanzen. Mit schön viel Abstand, damit die Katzen noch durchkönnen. (Solche Überlegungen versteht er.) Dann hievt er den anderen Busch aus der Wanne: „da, du magst doch weisse Blumen.“ Eine wunderbare, grosse und gesunde Hortensie! Dann berechnet er mir je sechs Euro für den Buchs – sein Einkaufspreis, schätze ich -, und die Hortensie, die sicher viel teurer ist, ist ein Geschenk.

In den folgenden Wochen schiele ich immer wieder auf die Buchsbäumchen vor dem Wohnzimmerfenster und denke, ich lass ihnen mal Zeit, anzuwachsen, bevor ich sie schneide. Und ehrlich gesagt, hab ich keine Lust, auf dem Boden zu knien und die Dinger in Form zu bringen.  Und dann wird es ganz typisch: je mehr Wochen vergehen, desto grösser und unüberwindlicher wird die Aufgabe. Wahrscheinlich dauert es eine Viertelstunde, aber ich kann mich nicht aufraffen und denke, ich mach es mal, wenn ich richtig viel Zeit habe. Einen ganzen Tag oder so.

Noch mal ein paar Wochen später: ich habe mein Ferienanfangsloch vom letzten Artikel glücklicherweise schnell überwunden. Die Überforderung, auf einmal zu viel Zeit zu haben, wurde gebremst durch ein Festhalten an ein bisschen Routine: eine gesunde Mischung aus Klavierbank, Staudhamer See und dem gestreiften Liegestuhl auf der Terrasse. Auf dem man es bei den Temperaturen allerdings nur in den Morgenstunden aushält. Aber dann ist es herrlich, und ich lese mit meinem ersten Tee ganz lange dort im grünen Schatten. Erst einen fesselnden Roman, bei dem ich den Blick nur auf den Seiten lasse. Dann ein wunderbares Buch zum Gedankenanregen, das ich vor Jahren schon mal gelesen habe: „Let Your Life Speak“ von Parker Palmer. Es geht um Berufung, darum, aus seinem Leben das zu machen, wofür man gemacht ist. Ein erfülltes Leben zu finden, weil man seiner inneren Stimme folgt (wenn man sie denn mal gehört hat). Ein Buch, das man immer wieder sinken lässt, um nachzudenken. Und dabei fiel mein Blick über den Buchrand auf die leicht strubbeligen Buchsbäumchen vor mir. Eigentlich könnte ich mal – und in Gedanken noch ganz im Buch, gehe ich ins Haus und hole die Küchenschere und fange, ohne recht zu wissen, was ich tue, im Nachthemd an, die Bäumchen ordentlich zu schneiden. Zwischendurch trinke ich Tee, begutachte mein Werk von allen Seiten und schnippele immer noch ein bisschen – aber in Wahrheit denke ich nur an das, was ich gelesen hab. Und wie in Trance hab ich auf einmal drei Kugelchen da vor mir im Beet. Und staune, wie wenig aufwendig es doch war. Dieser Schweinehund immer…

Und warum scheut man sich so vor dem Feinschliff? Aus Angst, was kaputt zu machen, oder tatsächlich aus Bequemlichkeit? Charakterlich und pianistisch bin ich so oft gar kein Kugelchen, aber vielleicht wäre es doch nicht so anstrengend, noch ein bisschen weiter zu gehen. Und meine Schüler sind leider auch im seltensten Fall perfekte Kugelchen. Vielleicht mal kurz vor dem Vorspiel, oder halt diejenigen, die von Natur aus perfektionistisch sind und hohe Ansprüche an sich selbst haben. Aber sonst – wie weit wäre es meine Aufgabe, sie behutsam „rund zu machen“? Vielleicht kann ich da mehr tun? Und sei es nur dadurch, dass ich mehr aufzeige, was möglich wäre. Dass ein Stück immer noch makelloser, ausdrucksvoller, vielleicht flotter geht.

Auf jeden Fall freue ich mich auf die von Alois prophezeiten Schneemützchen, die die Kugelchen zu einem Blickfang im Winter werden lassen!

Ein Geschenk

DSCF8105Der Blog beisst sich selber in den Schwanz und wird zum Selbstzweck, wenn ich darin über ein Buch schreibe, das ich geschenkt bekommen habe, weil ich im Blog über was Bestimmtes geschrieben habe… aber es muss sein, das Buch ist zu schön. Und ich freue mich immer noch so sehr darüber. Unerwartete Geschenke, und dann noch so spezielle und schöne, sind schon was Besonderes. Und wie oft beschert einem das Leben tatsächlich so was?

Weil ich doch kürzlich über Berufung und echten Lebensinshalt geschrieben habe, hat mir eine bloglesende Freundin ein kiloschweres Päckchen in Geschenkpapier überreicht – wegen des Artikels. Aufgrund ihrer Anmerkungen dachte ich beim Auspacken, es sei ein riesiges leeres Tagebuch, in das ich jetzt nach Herzenslust kritzeln könnte. Aber nein – ich hielt einen grossformatigen, wunderschön aufgemachten Bildband in Händen: „Pilgrimage“ von Annie Leibowitz. Ich hatte keine Ahnung, dass dieses Buch existiert, und es ist so schön und stimmungsvoll, dass ich darüber schreiben muss.

Annie Leibowitz unternahm ohne Auftrag und einfach aus eigenem Vergnügen jahrelang „Pilgerfahrten“ zu Wohnorten von Künstlern oder Persönlichkeiten, die ihr am Herzen liegen – Menschen, die für eine Idee oder ihre Leidenschaft lebten. Ihre Art, anscheinend unbedeutende oder nichtssagende Details von diesen Plätzen in Fotos festzuhalten, spricht mich sehr an. Die Bilder sind langsam, ruhig und unglaublich stimmungsvoll. Das Wohnzimmer von Emily Dickinsons Bruder zum Beispiel leuchtet in einem warmen Halbdunkel. Ihr karges Schlafzimmerchen, in dem sie auch schrieb, ist hell und spartanisch. Genau so viel Suggestivkraft hat der leere Schreibtisch von Virginia Woolf mit seiner völlig abgewetzten, tintenbefleckten Oberfläche, gesehen von aussen durch das Fenster ihres Schreibhäuschens. Oder was mich besonders berührt hat: Lincolns Zylinder, den er bei seiner Ermordung trug – an ihm ist immer noch das Trauerband für seinen drei Jahre vorher gestorbenen Sohn. Das sagt viel aus in einer Zeit, in der sterbende Kinder an der Tagesordnung waren.

DSCF8113Das Buch ist voll von berührenden, sehr speziellen Blicken auf das, was von uns bleibt. Das, was uns am Herzen liegt: Wohnräume, Besitztümer, Eigenheiten. Und aus einem so persönlichen Blickwinkel betrachtet, dass die Bilder einen nicht gleich loslassen. Auch wegen ihrer eigentümlichen Melancholie – nichts spricht so sehr von Vergänglichkeit, als wenn man sieht, was für fragile, kleine Erinnerungen letztlich von einem bleiben werden. Trotzdem ist genau das auch tröstlich: diese Art, eine Person festzuhalten, regt einen unwillkürlich an zu überlegen, wie man die Persönlichkeit von verstorbenden Verwandten in nur einem, aber ganz aussagekräftigen Foto festhalten würde. Vielleicht mit einem einzigen Gegenstand, den man für immer mit ihnen verbindet, der ihren Charakter perfekt erklärt. Oder mit einem Ort, an dem sie völlig in ihrem Element waren. Das Erstaunliche: mir fallen spontan und problemlos Bilder ein, mit denen ich jemand, der sie nicht gekannt hätte, umfassend erklären könnte, wer sie waren.

„Pilgrimage“ ist ein sanfter, langsamer Bildband, der einen vom ersten Augenblick an bannt. Nichts für den Sofatisch, vielleicht, denn man will ja keine sprachlosen und geistig abwesenden Gäste, aber perfekt fürs Abtauchen am ganz persönlichen Lieblingsleseplatz.

Trainingscamp im Sich-Was-Gönnen

DSCF7989Unvermutet finde ich mich in einem „Trainingscamp im Sich-Was-Gönnen“ wieder, in das mich eine wohlmeinende Freundin verbannt hat. Man muss dem Himmel dankbar sein für solche Freundinnen, die einen auf Dinge stossen, die man selber gar nicht sieht – nachdem man geschluckt hat, weil sich jemand traut, sich derartig in mein Leben einzumischen… Aber anscheinend haben andere eher als ich selber gesehen, dass ich mich besser um mich kümmern könnte. Und weil ich fürchte, dass ich nicht die einzige bin, die in der Hinsicht einen Schubs braucht, schreibe ich darüber. Wer war in letzter Zeit richtig lang erkältet, ohne sich eine Pause zu gönnen? Wer denkt nicht, für mich oder für zuhause tut’s die alte Jacke/ Bettwäsche/ Handtücher schon noch? Wer erliegt nicht ständig der Versuchung, erst an seine Mitmenschen, eigene oder fremde Kinder, sonstige Bedürftige zu denken, bevor man sich Zeit für sich selber nimmt? (Wer lässt jede Woche 44 SchülerInnen an sein Klavier, bevor sie endlich selber mal zwei Stunden am Tag für sich reserviert und nicht nur stumm nach den Tasten lechzt – so bin wahrscheinlich nur ich…)

Der diesmal tatsächlich ersehnte Ferienbeginn wurde genutzt für eine Gesinnungs- und Bewusstseinsänderung. Und wenn täglich per Mail oder Anruf geguckt wird, ob man auch dranbleibt, traut man sich kaum, zu schludern. Es klingt so einfach, ist aber tatsächlich nicht so leicht, immer wieder bewusst an sich und seine etwaigen Bedürfnisse zu denken. Ich könnte natürlich ohne den frisch gepressten Orangensaft und den Blick auf meinen grundlos und völlig für mich selbst gekauften orangen Tulpenstrauss in den Tag starten und würde auch überleben. Aber so bin ich in einer ganz anderen, beglückteren und irgendwie inspirierten Stimmung, die Energien frei macht für Anderes. Ebenso das luxuriös langsame und meditative Streichen meines Zimmers in einem hellen cremebeige – kein dramatisches Lila mehr, sondern eine harmonische und ruhige Farbe, die meiner Seele grade gut tut. Und seltsamerweise Kräfte freisetzt, um den wildesten, lilasten Beeethoven zu üben… Das war unerwartet, aber gut.

Und nach dem Streichen: ein genau so ungeplantes und unerwartetes Umräumen meines Schreibzimmers, in dem jetzt alles viel praktischer ist. Man kann  sich an Dachschrägen jahrelang den Kopf anhauen, oder man kann endlich ein zusätzliches Beistelltischchen kaufen, in das die Ordner kommen und auf dem der Drucker einen permanenten Platz (inklusive permanenten Stromanschluss!!) hat. Ich weiss, es klingt lächerlich für jemand, der so viel schreibt wie ich – aber ich fürchte, ich bin nicht die einzige, bei der die privaten Bereiche zu kurz kommen zugunsten von anderem, vermeintlich Wichtigeren.

Was ich mir noch gegönnt habe ausser Üben und Mittagsschlaf: eine Jahreskarte ins Lenbachhaus. Ist wirklich kein Hauskauf, macht mich aber enorm glücklich. Und ich fühle mich einfach reich, wenn ich mir vorstelle, dass ich jederzeit beim Herrn Lenbach oder dem Blauen Reiter vorbeischauen kann. (Hab zu meinem Mann schon gesagt: wenn ich 300 Mal reingehe, spare ich so richtig viel…) Und, auch längst fällig: zwei Henle-Einzelausgaben meiner aktuellen Beethoven-Sonaten. Mein Sammelband ist bald am Ende, wenn ich so weitermache. Ist aber durch die jahrzehntelange Bearbeitung mit Fingersätzen etc. derart wertvoll, dass er nicht einfach ersetzt werden kann. Also gibt es ab jetzt leichter transportierbare Einzelausgaben. Erstaunlich, wie spät man auf die wirklichen Erleichterungen im Leben kommt.

Erstaunlich, wie es die Batterien auflädt, wenn man eine Woche lang an sich denkt und sich was gönnt. Bin mal gespannt, ob ich den Schein fürs erfolgreiche Absolvieren dieses Camps bewilligt kriege…

Echtes Weihnachtsgeschenk

978-3-312-00632-8_2145716115-73Selten hat mich ein Buch so aufgerüttelt und schockiert wie Samar Yazbek’s „Die Fremde im Spiegel“. Es ist alles andere als schön – und trotzdem würde ich es sofort und fast jedem empfehlen. Weil es einen in unaufdringlicher Weise veranlasst, sein Heile-Welt-Dasein zu hinterfragen. Und es ist einfach immer wieder nötig, wenigstens auf diese Art zu verstehen, in was für einem Paradies wir leben. Das schmale Bändchen hat mich mehr beeindruckt als die schlimmsten Bilder in den Nachrichten, weil es eben Einzelschicksale sind von Menschen, denen man durch die Erzählung schon näher gekommen war. So was berührt mehr als Fotos von Anonymen.

Filtert man die Bilder von Gewalt, Abhängigkeiten, sexuellen Verstrickungen und daraus resultierend noch mal anderen Abhängigkeiten, finde ich als Kernbotschaft: in einer Gesellschaft, in einem Land, in dem es keine Freiheit gibt, kann es auch keine echte Liebe geben. Es gibt vielleicht Lust oder eine Illusion von Liebe, aber keine wirklich gesunde Beziehung. Das ist furchtbar deprimierend. Heisst es doch, dass es in so einem hoffnungslos düsteren Alltag nicht mal die Perspektive auf privates Glück geben kann.

Was das Buch noch in einem anrichtet: mit jeder weiteren Seite stieg meine Dankbarkeit, dass ich – völlig zufällig und unverdient – nicht so leben muss wie die Frauen in Syrien. Mit jedem neuen Detail ist man nur noch dankbar, dass man sich frei bewegen darf, anziehen darf, was man will, keinen grösseren äusseren Zwängen unterliegt, lieben oder heiraten darf, wen man will, oder eben nicht. Kurz: dass wir die Wahl haben. Und oft vergessen, was das für ein Privileg ist.

Ich fühle mich grade durchgeschüttelt und nur dankbar – aber auch aktionistisch. Ich muss meinen Mädchen mehr mitgeben als nur Wissen über richtige Fingersätze und schönes Pedalisieren. Grade habe ich das Gefühl, dass im luxuriösen Einzelunterricht bei gegebenem Anlass mein Erziehungsauftrag weitergehen sollte. Sollte sich mal wieder jemand über Eltern beklagen, die vermeintlich nichts erlauben, habe ich jetzt ein Wort zum Sonntag parat, das meine Mädchen dankbar sein lassen wird, „nur“ bei ihren Eltern zu leben. (Das hört sich jetzt besonders nervig an und noch unbeliebter als Eltern, aber ich habe tatsächlich Schülerinnen, die das Gespräch und die Diskussion mit mir suchen. Und auch, wenn es nicht so klingt: es bringt uns auch klaviermässig weiter. Und nach dem Buch kann ich es nicht zulassen, dass jemand fahrlässig mit seinen Möglichkeiten und Freiheiten umgeht.)

Und natürlich sitze ich da und denke: kann ich irgendwas für die Millionen Flüchtlinge aus Syrien tun? Und war froh, als ich über diese Webseite stolperte:

http://www.wir-helfen-fluechtlingen.de/

Es ist ein Tropfen auf den heissen Stein, aber besser als nichts.

Macht mit.

(Foto)

„Köstliches von der Müllerin“

DSCF7581Seit Jahren backe ich unser Brot selber, ein Sauerteigbrot aus Weizen- und Roggenvollkornmehl. Das Einkaufen in der idyllisch gelegenen Draxmühle, die ausschliesslich regionales Getreide verarbeitet, ist genau so Teil des Rituals wie das Verstauen der Einkäufe: in der Küche wurde extra ein grosses bodennahes Fach für die schweren Mehltüten reserviert. Ich backe immer gegen Ende der Woche. Nach dem Hausputz kommt der Seelen“putz“ dran, ein Nachkommen und Nachdenken über die vergangene Woche ganz in Einsamkeit und Stille. Diese paar Stunden gönne ich mir bewusst. Dazu gehört: Brotteig ansetzen, Badewanne, Tagebuchschreiben. Und ich bin überzeugt, dass die Kombination aus (Aggressionsabbau durch) Teigkneten, Entspannen und Nachdenken im warmen Wasser, Gedanken ordnen und zu Papier bringen mir jahrelang den Psychoanalytiker erspart hat. Und es gibt nichts Schöneres, als sich innerlich aufgeräumt zu fühlen und zu schnuppern, wenn der Duft von frischgebackenem Brot langsam durchs Haus zieht.

Ein Kastenbrot reicht für uns beide eine Woche lang. Die ersten drei Tage schlage ich es in zwei Geschirrtücher ein, dann kommt es in eine Plastiktüte. Ob frisch oder schon ein paar Tage alt, ich mag es am liebsten getoastet. Und wenn wir mal im Hotel oder so frühstücken, stelle ich immer wieder fest: eine Scheibe vom selbstgebackenen Brot macht nachhaltiger satt als zwei weisse Semmeln.

Seit Jahren verwende ich das gleiche Rezept und habe auch nicht vor, es zu ändern – weil es einfach gut ist. Trotzdem war ich ganz gespannt, als Franziska mir erzählte, dass sie mit der Müllerin der Drax-Mühle zusammen ein Backbuch veröffentlichen wird. Erst wirkte es surreal. „Meine“ Mühle? „Meine“ Franziska? Ein Buch? Aber jetzt, mit dem fertigen und wunderschön bebilderten grossformatigen Band in der Hand, sehe ich: das war absolut nötig! Es ist wirklich ein Vergnügen, schon allein wegen der liebevoll inszenierten Fotos. Die Kuchenrezepte sind vielleicht nicht die aller-unbekanntesten, aber es ist eine wertvolle Sammlung von Altbewährtem. Man findet manche Klassiker, die man vielleicht auf einer Einladung schon geniessen durfte und gern nachbacken möchte. Was für mich wirklich spannend und auch voller Neuentdeckungen ist, ist das ausführliche Kapitel über Brot. Auch wenn meins schon gut schmeckt – hier werde ich sicher experimentieren. Und ich hatte keine Ahnung, dass man Pumpernickel selber backen kann und dass es suchterzeugend köstlich schmeckt!

9783863620264Zusätzlich interessant und wichtig wird das Buch für Menschen, die sich genau über das, was sie zu sich nehmen, informieren wollen oder die durch Nahrungsunverträglichkeiten darauf angewiesen sind. Es gibt ausführliche Informationen zum Getreide inklusive einer schön bebilderten Kulturgeschichte. Ebenso erfährt man einiges über Alternativen zu Weizen. Hier war Franziska fleissig und hat ganze Arbeit geleistet – und es trotzdem geschafft, ihre ganz persönliche Note einzubringen. Ich war ja erstaunt und begeistert, wie poetisch ihr Reiseführer stellenweise ist. Ich hätte nicht gedacht, dass das beim Schreiben über Getreide auch möglich ist – aber sie schafft es. Wie mit zarten Pinselstrichen beschwört sie ein Bild vor unserem inneren Auge herauf, das noch lange nachwirkt. Wenn ich lese: „Vor hundert Jahren wogten zahlreiche Dinkelfelder rund um die Draxmühle im Wind.“, lasse ich das Buch sinken und denke an die vielen Fahrten zur Mühle, zu den verschiedensten Jahreszeiten, und wie schön das letzte Stück vor allem auf dem ungeteerten Schleichweg wird. Komme ins Träumen und freue mich, in so einer gesegneten Landschaft wohnen zu dürfen…

(Und Weihnachten? Wäre das nicht ein besonderes Geschenk?)

„Köstliches von der Müllerin“

Monika Drax & Franziska Lipp

Dort-Hagenhausen-Verlag, 19,95 Euro