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Dressur vs. Entwicklung

Eine Schülermutter lieh mir kürzlich Amy Chuas sehr konrovers diskutiertes Buch „Battle Hymn of the Tiger Mother“, der chinesisch-amerikanischen Juraprofessorin, die ihre Kinder mit zum Teil drakonischer Härte zu Bestleistungen trimmt. Wie meine Schülermutter sagte: es ist was ganz anderes, das Buch zu lesen als die vielen Feuilleton – und andere Artikel, die über die Frau erscheinen. Wenn man nur Auszüge liest, kann man sich leicht der vorherrschenden Meinung anschliessen, dass sie zu Recht die meistgehasste Mutter Amerikas ist. Das Buch liest sich überraschend gut – vieles von ihrer Selbstironie geht in der allgemeinen Diskussion unter.

Dennoch – ich muss viel über diesen Anspruch an sich selbst und seine Kinder nachgrübeln. (Und, ganz am Rand: ihr amerikanischer Mann muss ein Heiliger sein, um die beschriebenen häuslichen Szenen auszuhalten). Chua zeichnet ein plausibles Bild von ehrgeizigen Immigrantenfamilien, ihrem Erstaunen über den laschen westlichen Erziehungsstil und ihrer Angst, dass die Leistungen der Familie in der dritten Generation, also der ihrer Töchter, nachlassen könnten. In diesem grösseren Zusammenhang sollte man ihre Ausführungen auch lesen. Doch wenn sie sagt, dass chinesische Eltern für ihre Kinder als einzig mögliche Berufe Arzt, Anwalt oder Professor sehen, muss ich stutzen. Unsere Gesellschaft würde schnell aufs Schlimmste zerbröckeln, wenn wir nur noch höchst ausgebildete Nachkommen hätten. Genau so in der Musik: es kann einfach nicht jeder ein Spitzensolist werden, wir brauchen den ganzen Unterbau von „normalen“ Musikern, um überhaupt noch Orchester oder Musikschulen zunhaben.

Was ich wirklich kritisch sehe, ist, dass sie, die selbst kaum musikalische Vorbildung hat, die Musik als weitere Tummelfeld sieht, um den Charakter ihrer Töchter zu bilden und sie zu Spitzenleistungen zu bringen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es um die Sache an sich geht, oder Freude an der Musik, oder gar eine Nische zur Selbstentfaltung. Es geht nur darum, dass ihre Töchter möglichst früh möglichst schwere Stücke spielen, Wettbewerbe gewinnen, Gehorsam und Disziplin auf einer weiteren Ebene lernen, nachmittags nicht rumhängen oder sich gar mit anderen Kindern treffen. So traumhaft es für mich als Lehrerin wäre, wenn meine Schüler jede Woche perfekt vorbereitet wären, und das jahrelang – erst mal würde ich erschrecken und mich fragen, was da schiefläuft und ob mein Schüler kein anderes Leben hat, und wenn ich die Hintergründe wüsste, würde ich denken: nicht um den Preis. Auf gar keinen Fall. Mir würde es keinen Spass machen,, mich mit hervorragenden Schülern zu brüsten, die unverhältnismässig viele Opfer für diese Leistung bringen müssen. Wozu? Man muss nicht mit zehn Jahren schon alles gespielt haben. Mir ist es viel lieber, die Ausbildung läuft moderat langsam, aber solide, und die Kinder haben Gelegenheit, sich emotional auch ausserhalb des Musikunterrichts zu entwickeln,
damit sie ihre Stücke mit Leben erfüllen und glaubhaft spielen können. Es muss Raum und Gelegenheit geben, dieses Leben kennenzulernen. Chua schirmt ihre Töchter ziemlich ab – zwischen Schule, Musikschule und Familie scheint es nicht viel zu geben. Ich hätte Angst, dass da Defizite entstehen, die viel schlimmer sind als etwaige technische Defizite in der musikalischen Ausbildung. Wenn ein Kind gern und mit Freude vier Stunden am Tag übt, freue ich mich. Wenn man es unter Androhung von Strafen und unter Aufbringung von unheimlich viel Energie dazu bringt, jeden Tag seines Lebens, egal ob krank oder Ferien oder Geburtstag, unter Aufsicht vier Stunden zu üben, dann stimmt für mich was nicht.

Ich möchte auch keine Schüler, die kritiklos alles übernehmen, was ich ihnen anbiete. Ich liebe Diskussionen mit meinen Schülern (naja, meistens…!), egal, welches Alter, weil ich ihnen damit helfen kann, ihren eigenen Geschmack und eine eigene Meinung zu entwickeln. Wenn das Resultat ist, dass ein Komponist erst mal jahrelang abgelehnt wird – auch in Ordnung, es gibt genug andere, und meistens kommt man in seinem Entwicklungsprozess irgendwann an den Punkt, an dem man alte Meinungen revidiert. Wichtig ist mir, dass sie überhaupt einen Standpunkt haben und sich auch trauen, den zu vertreten. Und, wenn sie nach einem Schülerkonzert gefragt werden, warum sie dieses Stück gewählt haben, nicht stammeln und stottern, sondern selbstbewusst ihren persönlichen Bezug zu dem Stück erklären können.

Wir brauchen keine weiteren Tausend Wunderkinder, die uns verblüffen. Wir brauchen Kinder, die gern und von ganzem Herzen Musik machen, die ihre Seele in die Musik legen können und dadurch zu innerem Gleichgewicht kommen, die ein Leben lang Freude an der Musik haben werden, egal, ob sie weiterhin selber spielen oder die Konzertbesucher von morgen werden. Würde Amy Chua auf der Suche nach einem Lehrer meinen Lebenslauf lesen, würde sie mir ihre Tochter sicher nicht anvertrauen: meine Schüler haben nur bescheidene Erfolge in bescheidenen regionalen Wettbewerben und sind nur ganz normale Kinder. In dem Sinne bin ich keine erfolgreiche Lehrerin. Doch wenn mich ehemalige Schüler Jahre nach dem Abitur anrufen, mich aus Gewohnheit mit meinem Mädchennamen ansprechen und erzählen, dass sie in einem tollen Klavierabend waren oder mal wieder Zeit hatten, jene Beethovensonate zu spielen – dann fühle ich mich enorm erfolgreich und beglückt!

(veröffentlicht in „Pianonews“ 6/2011)

 

„Was machen Sie eigentlich beruflich?“

Mit dieser Frage sah sich eine Kollegin konfrontiert, nachdem sie mit neuen Schülereltern ausführlich am Telephon über den etwaigen Unterricht des Sprösslings gesprochen hatte. Ich wurde zwischen zwei Schülern schon mal gefragt, was ich „später mal“ machen wollte. Eine verwirrende Frage, auf die es viele Antworten gibt – Klavier unterrichten will ich trotzdem immer noch! Sehr beliebt ist auch die Nachfrage, was man eigentlich tagsüber mache. Letztes Mal wurde sie an mich herangetragen, als ich nach einem Konzert im Abendkleid hinter der Bühne stand. Ich hätte so viele schöne Antworten parat, traue mich aber nicht, auf eine so ernsthafte Nachfrage frech zu antworten. Wenn ich sagen würde: „Was ich so mache? Zeitunglesen, Spazierengehen, ein bisschen Haushalt, Klavierspielen…“ wird das womöglich ernst genommen. Wenn ich, der Wahrheit entsprechend, sage, dass ich in den letzten Monaten täglich mehrere Stunden am Konzertprogramm gearbeitet habe, lachen Nicht-Musiker oft darüber, als hätte ich einen besonders gelungenen Witz gemacht.

Auch was das Ausmass unserer Arbeit betrifft, hat mein Umfeld oft seltsame Vorstellungen. Vielen ist es suspekt, dass ich vormittags tatsächlich spazierengehe oder zeitunglesend in
einem Café sitze. Und kürzlich sassen wir mit Bekannten zusammen, die wir mehr als zehn  Jahre kennen. Da fragte einer tatsächlich, ob ich von meinem Unterrichten leben könnte. Was heisst hier könnte, ich tue es ja die ganze Zeit! Er wollte wissen, wie viele Schüler ich denn habe. „Was, 38? Die jede Woche kommen? Da musst du ja jeden Tag unterrichten?“ Ganz recht, und das an fünf Tagen in der Woche. Er war aufrichtig erstaunt. Anscheinend hatte er es für eine nette Freizeitbeschäftigung gehalten, weil ich Kinder so gerne mag. Nächste
Bemerkung: „Na, dann musst du ja ganz ordentlich verdienen!“ In zwei Minuten gewann unser Berufsstand rapide an Ansehen – von „kann man davon leben?“ bis „da musst du ja gut verdienen!“. Wäre die Aufklärungsarbeit nur immer so leicht! Und am meisten wünsche ich mir, sie wäre gar nicht nötig!

Seit dem 19. Jahrhundert spuken folgende Bilder durch unsere Köpfe, wenn wir an private Instrumentallehrer denken: meistens handelt es sich um gescheiterte und frustrierte Solisten, deren hartes Los es ist, uninteressierten und aufmüpfigen Kindern etwas beizubringen. Finanziell kommt man damit mehr schlecht als recht über die Runden, was sich in ärmlicher Kleidung und allgemein einem bescheidenen Lebensstil bemerkbar macht. Ganz typisch ist auch die alte Jungfer, die, doppelt frustriert, ihr Leben mit Klavierunterricht fristen muss. (Ich denke mit Grausen an eine Erzählung von Arthur Schnitzler, in der eine ärmliche Klavierlehrerin zu einem Essen eingeladen wird und sich ein Stück Fleisch mit nach Hause nimmt, da sie sonst selten zu so einem Genuss kommt. Auch wenn man das nur unbewusst aufnimmt – es prägt das Bild, das man von einem ganzen Berufsstand bekommt.) Eine pädagogisch fundierte Ausbildung haben die wenigsten der beschriebenen Exemplare, geschweige denn eine musikalisch solide oder gar einen Studienabschluss. Entsprechend ist auch der Erfolg der Schüler. In „Flucht in die Finsternis“ von Schnitzler heisst es: „(Sie machte) in ihrer Eigenschaft als Klavierlehrerin eben nur von den zufälligen Kenntnissen Gebrauch, die sie sich früher einmal, in besseren Lebensumständen als heute, zu erwerben Gelegenheit gehabt hatte.“

Inzwischen sind wir weit entfernt von solchen traurigen Existenzen. Seit es pädagogische Studiengänge für den Instrumentalunterricht gibt, entscheiden sich immer mehr Musiker bewusst fürs Unterrichten und betrachten es nicht als Notlösung, falls es mit der Karriere nicht klappen sollte. Der Methodik- und Didaktikunterricht der letzten Jahrzehnte wurde immer vielschichtiger. Parallel dazu kamen eine Menge neuer, kindgerechter Klavierschulen auf den Markt, die mit ihren bunten Illustrationen auf den ersten Blick wie ein Bilderbuch wirken. Stand früher die Musik und technischer Drill im Mittelpunkt, werden heute viel mehr die unterschiedlichen Entwicklungsphasen und Bedürfnisse der Schüler berücksichtigt, in denen dann adäquat auf die einzelnen Lerninhalte eingegangen wird. Die Ausbildung ist fundierter, die Erwartungen, die wir an unseren Beruf haben, klarer. Seit dem Aufkommen der Musikschulen haben Instrumentallehrer auch endlich die Möglichkeit, ganz bürgerlich und abgesichert mit einem festen Vertrag im öffentlichen Dienst angestellt zu sein. Die Musikschulen ihrerseits können sich aus der Fülle der Absolventen die motiviertesten herauspicken. Mir ist klar, dass nicht jeder so eine angenehme Stelle ergattern kann, aber ist
man mal in dieser Position, ist man meilenweit von der ärmlichen Lehrerfigur entfernt und kann sich wirklich nicht beklagen. Obwohl es nicht leicht ist, eine ganze Stelle an einer Musikschule zu bekommen, kann man auch als Teilzeit-Angestellter mit einer entsprechenden Schar an Privatschülern komfortabel leben, oder ausschliesslich von Privatschülern, wie meine eigenen Lehrer.

Was können wir also tun, damit unser Berufsstand die Achtung bekommt, die er verdient?

Durch freundliche, aber knappe Gespräche mit Eltern, die ihre Kinder abholen, vermittelt man ihnen und den Schülern, dass der Nachmittag Arbeitszeit ist, in der jede Minute kostbar
ist. Auch wenn einem manche Eltern sehr sympathisch sind und man sich gern über etwas austauschen möchte, sollte man dafür andere Gelegenheiten wahrnehmen. Wenn man mit Eltern zu tun hat, sollte man immer daran denken, dass sie den Eindruck, den sie dabei von uns bekommen, in die Öffentlichkeit weitertragen. Durch unser Verhalten können wir also das Bild, das andere von uns haben, massgeblich beeinflussen.

Auch die Kleidung spielt dabei eine grosse Rolle. Vor allem, wenn man hauptsächlich zuhause unterrichtet, sollte man auch äusserlich signalisieren, dass jetzt Zeit fürs Lernen und für die Kunst ist und man nicht noch fünf Minuten vorher in alten Klamotten Fernster geputzt hat.

Wenn man zuhause unterrichtet, ist es wichtig, passende Räume dafür zu haben oder, falls das nicht möglich ist, eine Nische in einem Zimmer, die nur dem Unterrichten vorbehalten ist. Für mich muss das eine Umgebung sein, die auf den ersten Blick zeigt, dass wir uns hier mit Kunst beschäftigen – inspirierende Bilder und Zweige oder Blumen aus dem Garten schaffen eine Atmosphäre, die uns den Alltag vergessen lässt. Die jeweiligen Noten, Stifte und Spiele habe ich in leicht zugänglichen Körben. Während ich telephoniere, staube ich oft mit der anderen Hand meinen Flügel ab. Auch sonst sorge ich dafür, dass das Zimmer, in dem wir so viel Zeit verbringen, möglichst wenig kreatives Chaos ausstrahlt.

Auch die Öffentlichkeitsarbeit sollte nicht unterschätzt werden. Natürlich ist es für Eltern und Schüler schön, ein gelungenes internes Schülervorspiel anzuhören. Noch besser wäre es, diese Situation dafür zu nutzen, auf sich und die Qualität seiner Arbeit aufmerksam zu machen. Wenn möglich, sollte man seineSchülerkonzerte im Veranstaltungskalender der Zeitung ankündigen lassen. An der Saalmiete für passende Räumlichkeiten sollte man auch nicht sparen. Ein Konzert im Rathaus oder im Biedermeier-Salon eines Schlösschens wird allen viel länger im Gedächtnis bleiben als eines in einem nüchternen Pfarrsaal. (Das ist übrigens auch eine der Sachen, die man als Musiker tagsüber macht – telefonieren, organisieren, Programme schreiben und drucken…)

Der wichtigste und schwierigste Punkt für mich war es, Unbekannten in einem Wort zu beschreiben, was ich beruflich mache – also jetzt wirklich, nicht neben dem Unterrichten. Zu
oft hatte ich schon einschlägige, mitleidige Reaktionen auf meine Antwort, so dass ich oft versuchte, um die Sache herumzureden: „Ich bin Musikerin.“ – zieht
unweigerlich weitere Fragen nach sich. „Eigentlich bin ich Pianistin, aber ich verdiene mein Geld mit Unterrichten.“ Führt auch zu längerem Nachfragen und Vorschlägen, unter anderem, dass ich ja immer noch heiraten könnte. Warum ist es so schwer, mit Selbstbewusstsein zu sagen: „Ich bin Klavierlehrer/in.“? Inzwischen tue ich es und geniesse es auch, dass man damit sofort in medias res gehen kann und über seine Schüler oder Konzertprojekte sprechen kann. Vielleicht sollten wir das alle tun, um unserem Beruf zu der Anerkennung zu verhelfen, die er verdient.

Es gibt noch Aufklärungsarbeit zu leisten, nicht nur, was das Unterrichten betrifft. Es ist amüsant, wenn Angela Hewitt auf ihrer Webseite schreibt, dass sie von einer Taxifahrerin gefragt wurde, was sie mache, und auf ihre Antwort, dass sie Pianistin sei, die Bemerkung kam: “Sounds relaxing“. Gleichzeitig ist es traurig, was für ein Bild die Öffentlichkeit von uns hat. Also – arbeiten wir täglich daran, das zu ändern!

(veröffentlicht in „Pianonews“ 1/2012)

 

Stärken und Schwächen

Manchmal denke ich mir bei einem Schüler „warum nicht
gleich?!“ und merke, dass wir über Umwege ans erwünschte Ziel gekommen
sind – und zwar ganz anders, als ich geplant hatte oder als ich aus Erfahrung
für gut befunden hätte… Manchmal, wenn etwas nicht so läuft wie man will,
bringt es nichts, auf diesem Problem rumzureiten. Oft ist es Zeitverschwendung,
weil der Schüler aus irgendeinem Grund noch nicht bereit oder fähig ist, die
Aufgabe ohne gigantische Kraftaufwendung auszuführen. Dann ist der Umweg der
bessere Weg. Warum scheut man sich so davor, den Weg des geringsten Widerstands
zu gehen? Muss mein Klavierunterricht wirklich so arg Charakterbildung und
Disziplinübung sein, dass sowohl der Schüler als auch ich ganz ermattet sind?
Nein, und schon gar nicht bei sommerlichen Temperaturen!!

Warum erlauben wir uns selber manchmal nicht den einfacheren Weg,
wenn der andere unmöglich erscheint. Und nach ein paar Wochen einfach ist man
auf einmal auch ein Stück weiter, und plötzlich geht das vorher Unmögliche wie
von selbst. Und scheint so selbstverständlich, dass man kurz innehalten muss,
zum sich klarzumachen, dass man einen grossen Schritt weiter gekommen ist. Wie
letzte Woche: ich habe letzten Herbst einen sehr begabten Schüler übernommen,
der sich unbedingt musikalisch ausdrücken muss, aber in seinem Alter schon viel
weiter sein könnte. Die Ideen quellen nur so über, aber seine katastrophale
Weigerung, Noten zu lesen, hat ihn gehindert, wirklich weiterzukommen. Es war
nichts zu machen, nach zwei, drei Mal hören konnte er alles auswendig.
Irgendwann – noch im Herbst – dachte ich entnervt, dann soll er halt auswendig
spielen. Und er spielt. Und spielt. Ich habe ihn einfach mit Literatur
überschüttet. Und er hat solche Fortschritte gemacht und so ein tolles Niveau
erreicht. Letzte Woche legte ich ihm neue Noten aufs Pult und er fing an, zu
spielen. Den Kopf nicht wie üblich auf die Tasten gesenkt, sondern Blick nach
oben. Er las einfach die Noten. Bis ich ihn unterbrach und sagte: „Du
liest die Noten?!“ Er: „Ja.“

Und jetzt liest er, und spielt so viel besser als im Herbst. Wenn
ich ihn vor ein paar Monaten gewzungen hätte, hätte er vielleicht die Lust
verloren – was man einem Dreizehnjährigen nicht verübeln könnte.

Statt über meine eigenen Schwächen zu grübeln, versuche ich auch,
den Umweg über meine Stärken zu nehmen. Schliesslich sollt man irgendwann so
weit sein, dass man es versteht, wann man sich das Leben leichter machen darf,
oder?

 

Demut

Langsam beginne ich, meine „Zeugnisse“ zu schreiben – ein schriftlicher Rückblick über das vergangene Schuljahr, in dem ich festhalte, was für Literatur verwendet wurde, was gut gelaufen ist, und als Ausblick: woran wir im nächsten Schuljahr besonders arbeiten müssen. Ich muss mich sehr anstrengen, um pro Schüler eine DinA4-Seite nicht zu überschreiten, denn schliesslich haben die Eltern mehr zu tun, als Beobachtungen, die für mich so bedeutsam sind, zu lesen…

Natürlich bleibt es nicht aus, dass man im Kopf Quervergleiche zieht, auf Erfahrungswerte zurückgreift oder einfach die aktuellen Schüler miteinander vergleicht. In diesem Fall, und wenn es nur in meinem Kopf bleibt, hat es ja nichts Destruktives. Und ich bin jedes Jahr wieder auf der Suche nach DEM Rezept, nach DEM Wundermittel, um Kinder möglichst schnell und effektiv fit zu machen auf dem Klavier. Ich glaube, dieses Jahr bin ich ihm ein bisschen auf
die Spur gekommen. Allerdings ist es kein Zaubertrank, den man den Kindern auf die Finger sprühen könnte, sondern es ist eine in der heutigen Zeit seltene Eigenschaft, die die Schüler schon in sich haben müssen: Demut.

Letzten Herbst haben zwei Siebzehnjährige bei mir angefangen. Das ist extrem spät. Bis auf wenige noch später berufene Erwachsene hatte ich noch nie so „alte“ Anfänger, doch beide schienen sehr motiviert und hatten so sehr den Wunsch, Klavier zu spielen, dass ich zustimmen musste. Natürlich habe ich mir den Kopf zerbrochen, mit welcher Literatur wir beginnen. Auch wenn sie vielleicht schon Noten im Violinschlüssel lesen konnten und sich generell mehr auskannten als Sechsjährige, wollte ich nicht zu viel voraussetzen und vor allem keine wichtigen Schritte auslassen. Und so entschied ich mich mit halb schlechtem Gewissen für Kinder- Klavierschulen – einmal für „Mein erstes Jahr Klavierunterricht“, weil es von einer Freundin vorhanden war, einmal für die „Klavierboutique“, weil die immerhin etwas schneller vorangeht. Wie gesagt, ich kam mir selbst etwas komisch dabei vor, ausgewachsene Jugendliche, die Führerschein machen und leider noch nicht erwachsen genug sind, um nicht zu rauchen, mit diesen Babyschulen mit bunten Bildchen zu konfrontieren. Aber es war ein guter Weg, und beide haben sich mit sehr wenig Grummeln diesem Vorschlag unterworfen und ganz ernsthaft die Grundlagen gelernt und geübt. Zusammen mit den Burnam-Übungen, meinen eigenen Fünfton-Übungen und später Tonleitern hatten wir nach drei, vier Monaten eine gute Basis, um begleitend zur Klavierschule mit etwas spannenderen kleinen Stücken zu beginnen. Inzwischen sind sie bei leichteren Chopin-Walzern und Préludes angelangt, spielen Satie und Burgmüller, natürlich „River flows in you“ und Yann Tiersen rauf und runter. Der eine hat beim Sommerkonzert wunderschön den ersten Satz der Mondscheinsonate gespielt, aber so, als würde er schon mehrere Jahre spielen und nicht nur Monate. Und ich bin überzeugt: das Geheimnis liegt bei beiden in ihrer demütigen Grundhaltung. Darin, zu beschliessen: ich durchlauf im Schnelldurchgang, aber Schritt für Schritt und ohne was auszulassen, diese ganze Prozedur und bin nicht zu cool für Babystücke. Ich verlass mich drauf, dass die Lehrerin weiss, was gut für mich ist, und mach das einfach, egal, wie blöd es im Moment klingt.

Das andere Extrem hatte ich leider viel, viel öfter, seit ich unterrichte: Schüler, die sich zu gut sind für eine Klavierschule. Die nach kürzester Zeit mit eselsohrigen Raubkopien ankommen und nach einem Jahr Für Elise, die Sonata facile oder gleich ein Chopin-Nocturne spielen wollen und alle Zwischenschritte oder technischen Übungen als sinnlose Zeitverschwendung ansehen. Eltern, die mir vorrechnen, dass eine Freundin der Kleinen nach vier Jahren aber dieses oder jenes Stück gespielt habe und ihr Kind jetzt gefälligst auch soll. Eltern, die ungebeten gleich mal Noten kaufen und erwarten, dass es so funktioniert. Kurz: Leute, die pushen und denken, dass man mit Gewalt schneller vorankommt und Klavierspielen an einem einzigen Stück lernen kann.

Ich merke erst jetzt, wie „erwachsen“ und reif meine grade noch nicht volljährigen Anfänger dieses Jahr sind. Wieviel Weisheit sie zeigen, indem sie demütig alles gemacht haben, was ich verlangte. Dass sie, frei nach Pascal Mercier, nicht tanzen wollten, bevor sie laufen konnten. Und wie viel Energie freigesetzt wird, wenn sie eine gutgelaunte Lehrerin haben, die zufrieden ist, weil alles nach ihrer Pfeife tanzt und keine kräfteraubenden Grundsatzdiskussionen stattfinden müssen… So eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Unterrichtssituation ist sicher der Idealfall. Doch wenn ich im Rückblick feststelle, dass das Lernen wie im Zeitraffer stattfinden kann und man im Lauf eines Jahres dahin kommen kann, wofür andere sieben Jahre benötigen, dann frage ich mich: warum sollte man sich mit weniger zufrieden geben?

(veröffentlicht in „Pianonews“ 5/2011)

Körpergedächtnis Teil II

Wir Pianisten reisen ja in den seltensten Fällen mit dem eigenen Flügel zum Konzert und müssen daher in der Lage sein, uns blitzschnell auf das jeweilige Instrument und seine Eigenarten einzustellen. Daher sollte man zumindestens sein eigenes, qualitativ möglichst hochwertiges Klavier so gut wie möglich kennen, um sich dann reibungslos auf ein ähnliches umzustellen. Ich stelle mir vor, dass für Schüler die Umgewöhnung von einem E-Piano auf einen Flügel, auf dem vielleicht das Sommerkonzert stattfindet, sehr schwierig bis verheerend sein kann. Und hier könnten auch Weichen fürs Leben gestellt werden – sollte der Schüler das andere Tastengefühl als unangenehm empfinden, weil er es bisher kaum kannte und das Vorspiel dann misslingt, hat das negative Auswirkungen auf sein Selbstbewusstsein und seine Lust, überhaupt wieder aufzutreten. Deshalb lege ich allen Schülern, die im Moment auf einem Digitalpiano spielen müssen, sehr ans Herz, regelmässig auf einem akustischen zu üben, vielleicht in einem Pfarrsaal oder bei Bekannten.

Besser wäre es natürlich, sich von vornherein ganz auf die Sache einzulassen und ein richtiges Klavier zu kaufen. Viele Klavierhäuser bieten auch einen Mietkauf an, bei dem nach einem Jahr die bereits entrichtete Miete auf den Kaufpreis angerechnet wird, falls man sich für das Klavier entscheidet. Sollte man das Möbel doch lieber wieder loswerden wollen, hat man weniger fürs Leihen gezahlt als ein Digitalpiano kosten würde, das überdies in dieser Zeit einen rapiden Wertverlust erfahren würde. Ich bemerke aber immer mehr die Tendenz zum „nur mal ausprobieren wollen“, „nur mal schauen, ob es Maxi Spass macht“, und wundere mich darüber. Man entscheidet sich ja auch für eine Schulart oder eine Fremdsprache, ohne das zu ändern, wenn es keinen Spass mehr macht. Normalerweise. Bevor es zur Quälerei für alle wird, bin ich in Einzelfällen auch dafür, den Unterricht zu beenden, wenn man sieht, dass es gar nicht läuft. Aber die Kinder gehen sicher mit einer anderen Einstellung ran, wenn ihnen von Eltern und Lehrer signalisiert wird, dass das Vorhaben keine Spielerei ist, sondern ein Projekt, das uns mehrere Jahre begleiten wird. Und mir kommt es natürlich entgegen, wenn die Eltern bereit waren, Geld und Wohnraum für das Instrument zu investieren und dann von sich aus etwas Druck auf die Kinder ausüben.

Und noch mal zu der Gänseei-Erfahrung: ich kann mich noch ganz deutlich daran erinnern, wie sich die Tasten meines ersten Sauter-Klaviers angefühlt haben. Sooo gut! Richtig schön schwer, und es hatte einen wunderbaren, sehr modulationsfähigen Klang in allen Lagen. Auch wenn wir das Klavier inzwischen nicht mehr besitzen, haben mir meine Eltern damit wirklich ein Geschenk fürs Leben gemacht und meine Vorstellung von dem, was Klavierspielen ist, sehr geprägt. Auch wenn der Vergleich hinkt, weil ein Klavier viel mehr kostet, aber: genau so, wie man bei der Ernährung oder der Literaturauswahl seiner Kinder darauf achtet, sie mit Qualität zu umgeben, sollte man das bei einem Instrument auch tun.

(veröffentlicht in „Pianonews“ 3/2011)

Körpergedächtnis Teil I

Eine Freundin hat uns Gänseeier mitgebracht von ihren eigenen Gänsen. Ich habe zum ersten Mal im Leben eines in der Hand und wundere mich, wie überdimensioniert und schwer es ist. Man staunt über die veränderten Proportionen – als würde man nur Geigen kennen und plötzlich ein Cello sehen. Wir freuen uns auf ein grosses Rührei zum Frühstück. Doch als ich das Ei am Pfannenrand aufschlagen will mit der üblichen, jahrzehntelang an Hühnereiern praktizierten kurzen Handgelenksbewegung, tut sich ÜBERHAUPT nichts. Wirklich gar nichts! Ich versuche es noch mal, und noch mal, mit immer zunehmender Kraft, und ich wundere mich, wie unglaublich stabil und hart die Schale ist. Bald hämmere ich mit Gewalt auf die Pfanne ein und komme mir vor wie der Vogel im Fernsehen, der mit einem Stein im Schnabel ausdauernd ein Straussenei attackiert. Irgendwann habe ich es geschafft. Doch beim zweiten Ei ist es wieder dasselbe. Mein Körper hat einfach die Bewegung gespeichert, die man zum Eieraufschlagen braucht, gleichzeitig mit der Information „Vorsicht, nicht zu schnell, es könnte eine Sauerei geben!“, und ich muss mich richtig überwinden, fest auf die Pfanne zu hauen. Wenn ich morgen mit den restlichen Eiern den geplanten Napfkuchen backe, wird wieder alles anders sein, da sich die Eierschalen am Rand der Rührschüssel wieder unterschiedlich verhalten werden. Und wahrscheinlich müsste ich Hunderte von Gänseeiern aufschlagen, um ein Gefühl für die Schnelligkeit und Stärke der Bewegung ins Handgelenk zu bekommen, die es dazu braucht.

Als der riesige Dotter endlich in der Pfanne brutzelt, bin ich mal wieder verblüfft, wie gut sich der Körper selbst feinste Bewegungen merkt. Mir fallen Schüler ein, die aus welchen Gründen auch immer nur ein E-Piano haben und hier im Unterricht immer zu leise und zaghaft spielen. Kein Wunder! Unsere Finger speichern das Tastengewicht und die Schnelligkeit, die es für eine bestimmte Lautstärke oder Anschlagsart braucht, ab, und zwar jedes Mal wieder, wenn wir diese Tasten berühren. Deshalb spiele ich auch vor Konzerten nicht mehr auf einem anderen Klavier in irgendeinem Einspielraum, wenn ich mich vorher auf dem Flügel im Saal einspielen konnte, denn es gibt auch ein ganz kurzfristiges Fingergedächtnis. Und kleine Fingerchen, die noch formbar und beeinflussbar sind, sollten für ihr tägliches Üben nur „richtige“ Tasten kennen mit einem bestimmten Gewicht und einem echten Hammer am anderen Ende. Man spart wirklich am falschen Ende, wenn man denkt, dass für Anfänger irgendein ausgeleiertes altes Klavier oder gar ein E-Piano schon passt. Gerade die Kleinsten sollten den besten Unterricht und angemessene Instrumente haben, denn hier wird der Grundstein gelegt für das ganze spätere Verhalten. Was man hier versäumt, kann nur schwer und mühsam nachgeholt werden. Hat man Bewegungen und Gewohnheiten erst mal anders verinnerlicht – ich will nicht sagen, dass sie falsch sind, aber sie führen einfach nicht zum gewünschten Ergebnis – ist es extrem schwer, sie zu ändern. Das kann jeder ausprobieren, indem er sich einmal mit der anderen als der üblichen Hand die Zähne putzt. Es ist erstaunlich, was hier schon feinmotorisch abläuft. Und wie viel mehr noch beim Klavierspielen passiert, wo man jahrelang geduldig gewisse Bewegungen einübt und immer wiederholt.

(Teil II folgt nächste Woche)

Weihnachtsfeier mit meinen Schülern

Kurz bevor meine Schüler zum Adventskonzert kommen, drehe ich eine letzte Runde durchs Wohnzimmer. Die zusätzlichen Stühle passen wunderbar – wir werden alle bequem Platz haben. Die Lichterketten an den Fenstern sind an, ich zünde die letzten Kerzen auf dem Kamin und dem Wohnzimmertisch an, habe es geschafft, mich umzuziehen, bunte Teller, drei Thermoskannen mit Tee und den dazu nötigen Tassen herzurichten, und während ich zufrieden den grossen goldenen Teller betrachte, auf dem rote Kugeln und Mandarinen im Schein der Teelichter leuchten, durchfährt mich schon wieder so ein Angstblitz: wohin mit den siebzehn Jacken?! Über die Schuhe hatte ich mir ja schon hinreichend Gedanken gemacht, ohne zu einer Lösung zu kommen. Wie konnte ich die Jacken ausblenden? Da klingelt es, und die ersten Kinder trappeln freudestrahlend herein, mit Schnee an den Füssen und Eishauchwolken vor den Gesichtern.

Hätte mir jemand gesagt, dass ich mich im gefürchteten Garderobenmoment auch noch um vier wunderschöne Wintersträusse kümmern muss, hätte ich vielleicht über ein Hausmädchen nachgedacht… Aber so nimmt alles seinen natürlichen Lauf. Durch die Enge im Flur ist das Eis schnell gebrochen, die Stiefelchen häufen sich und die Oberbekleidung organisiert sich planlos zu einem immer höheren Jackengebirge, aus dem einzelne Schals und Mützen purzeln. Es sah noch nie so chaotisch aus bei uns. Trotzdem ist alles gut.

Mir fällt immer wieder auf, wie anders meine Schüler sich verhalten, wenn die Eltern nicht dabei sind. Wenn sie allein sind, ist es natürlich eklatant, aber auch jetzt in der Gruppe ist alles ein bisschen – hm, inoffizieller, entspannter, lustiger? Ich tue mich schwer, es zu beschreiben, denn natürlich sind die Kinder zuhause am „inoffiziellsten“, und so kenne ich sie ja gar nicht. Aber jetzt herrscht sofort eine fröhliche Atmosphäre, die fast etwas komplizenhaftes hat, obwohl die Kinder vom Alter her sehr unterschiedlich sind. Von fünf bis sechzehn ist alles vertreten, und oft nur ein Kind pro Jahrgangsstufe. Wirklich sehr unterschiedlich, aber eigentlich so, wie es früher in den grossen Familien war. Ach so, und die meisten kannten sich noch nicht! Doch die ersten Kichermomente vereinten uns bald, spätestens nachdem eine der Kleineren kläglich meinte: „das wird so flüssig!“ und mir ihre Hand mit der total verformten, schmelzenden Lindorkugel hinhielt, die sie vorher beim Rätselraten gewonnen hatte. Zwischen den Stücken gab es kleine Rätselfragen zur Musik oder zu Theorie, und die Prämie in Form von Lindor war so begehrt, dass selbst Geschwister, während sie spielten, sich die Kugeln nicht gegenseitig zur Aufbewahrung überliessen, sondern sie lieber mit zum Flügel nahmen… Ich liebe es, meine Schüler von dieser Seite kennenzulernen!

Und es ist wunderschön für mich, ihnen an so einem besonderen Tag, auf den wir lange hingearbeitet haben, zuzuhören. Ich bin froh, dass dieses Vorspiel ohne Eltern war, denn auch für mich war es das erste Mal, dass ich viele von ihnen in so einer Situation erlebt habe. Es ist immer wieder erstaunlich, wie eigentlich selbstbewusste und forsche Kinder dann auf einmal verzagt und sehr, sehr dezent spielen – alles ist richtig und wunderbar, aber sie trauen sich nicht so recht, das auch für alle hörbar zu machen. Das sind dann so Sachen, die wir vor dem nächsten Konzert ausbügeln können. Normalerweise bin ich penibel mit meiner Zeitplanung, aber durch die vielen Weihnachtslieder und eine eher freiwillige Gestaltung des Programms kamen wir gestern auf 90 Minuten – viiiel zu lang! Dennoch herrschte bis zum Schluss Ruhe und Aufmerksamkeit. Und nach meiner Einladung, oben im Esszimmer noch was zu sich zu nehmen, gingen wir auch in Sekundenschnelle in ruhiger, geordneter Prozession die Treppe hinauf – keiner blieb zurück, keiner kasperte und ich fand es nur lustig, wie die Aussicht auf eine Kleinigkeit zu essen die Massen beruhigen kann. Da die Stühle noch unten waren, standen wir zu achtzehnt um unseren grossen Esstisch. So wie vorher der Flügel die Hauptperson war, war es jetzt der Tisch und die Speisen darauf. Ich stand an einem Ende, schenkte immer wieder Tee nach und amüsierte mich darüber, dass sich die Keksteller nur langsam leerten, am anderen Ende mit den Chips aber ziemliche Stille und unentwegtes Knurpsen herrschte. Irgendwann im Advent ist man einfach abgefüllt mit Süssem! Diese Minuten, als wir stehend vor uns hin assen und tranken, waren für mich die schönsten des Tages – diese Einigkeit und Harmonie, die vielen kleinen Köpfe, die sich über Teller beugten, die Becher, die immer wieder zu mir gestreckt wurden. Der Fotoapparat lag hinter mir, und es wäre sicher ein ganz goldiges Bild geworden, aber ich entschied mich bewusst dagegen. Ich spürte, dass der Moment viel zu schön zum fotografieren ist und ohnehin unvergesslich.

Nach und nach kamen die Eltern dazu und blieben auch noch auf einen Tee. Unser Esszimmer war noch nie so voll, und es war selten so lustig! Und nachdem der Jackenberg sich auf natürliche Weise wieder abgebaut hatte und die letzten gegangen waren, räumte ich nur schnell die Tassen in die Spülmaschine, die übrigen Kekse in ihre Dosen, fütterte das Katerchen, zog meinen Lippenstift nach und machte mich auf zur nächsten Weihnachtsfeier. Als ich die Haustür hinter mir zuzog, dachte ich: Glückwunsch, das habe ich noch nie gemacht! Krümel auf dem Boden, Schneepfützen im Flur, leichteres Chaos in der Küche, und ich dreh allem nur den Rücken und es ist in Ordnung! Vielleicht werde ich doch noch zur entspannten Hausfrau, das wäre gut. Und noch was habe ich heute gelernt: verschämt habe ich eine Packung Dominosteine zwischen meine eigenen Kekse verteilt und – keiner hats beanstandet oder kommentiert! Vielleicht darf man manchmal auch was Gekauftes anbieten?

Jugend musiziert

Wenn meine Schüler und ich Mitte November die Anmeldungen für „Jugend musiziert“ abgeben, liegt der grösste Teil der Arbeit schon hinter uns. Wir haben alle Stücke noch mal mit Stoppuhr kontrolliert, die Angaben sorgfältig ausgefüllt, zusammen mit den Eltern unterschrieben. Der Anmeldebogen sieht so übersichtlich aus! Obwohl er alle Informationen enthält, sagt er so gar nichts über die Musik aus. Es ist immer wieder erstaunlich, wie man so viele Noten, Emotionen und Spiellust in ein flaches, eindimensionales Stück Papier quetschen kann. Und da die fertige Anmeldung einen wichtigen Zwischenstand unserer Vorbereitung bedeutet, lassen wir unsere Augen eine Weile darauf ruhen und überlegen, welches Stück am meisten Spass macht, welches eher heikel ist, was für den Anfang am besten wäre… Die paar Minuten Ruhe und Rückblick haben wir uns nach der intensiven Arbeit der letzten Monate verdient! Was in den Wochen bis zum Wettbewerb noch kommt, ist Feinabstimmung und so viele Auftritte wie möglich. Doch den eigentlichen Lernprozess, eben das, was „Jugend musiziert“ für uns so wertvoll macht, haben wir in den letzten Monaten durchlaufen.

Meistens beginnt alles ungefähr ein Jahr vor dem Wettbewerb, indem ich mir geeignete Teilnehmer aussuche. Manche sind schon erfahren in Wettbewerben und werden vielleicht von sich aus an mich herantreten, andere wissen gar nicht, dass es so eine Einrichtung überhaupt gibt. Damit der Wettbewerb nicht nur ein Tummelplatz ehrgeiziger Eltern wird, spreche ich auch gezielt Schüler an, die von sich aus nie auf die Idee kommen würden, bei denen ich aber ahne, dass es ihrer Entwicklung guttun würde. Orientiert an den Anforderungen erarbeiten wir zwei, drei Stücke, die passen würden. Idealerweise werden sie auch schon mal öffentlich vorgespielt und für gut befunden. Zu dem Zeitpunkt habe ich den Wettbewerb noch mit keinem Wort erwähnt! Wenn ich es dann tue, ist die zweite Frage meiner Schüler meistens „und was soll ich da spielen?“ Wird ihnen klar, dass sie ungefähr die Hälfte des Programms schon gut kennen, fällt die Entscheidung, teilzunehmen, viel leichter.

Gleich von Anfang an erkläre ich meinen Schülern, dass sich bei „Jugend musiziert“ sehr, sehr viele Pianisten anmelden und dass in manchen Altersstufen Jungstudenten dabei sind, die auf einem ganz anderen Niveau spielen. Um Enttäuschungen zu vermeiden, ist es wichtig, frühzeitig klar zu stellen, dass nicht eine bestimmte Punktzahl unser Ziel ist, sondern das Mitmachen an sich. Das bedeutet: sich ein interessantes, dem Alter angemessenes Programm zu suchen und zu erarbeiten (wenn sich ein Schüler lerntechnisch gerade in einer Übergangsphase befindet, muss man sorgfältig abwägen, ob es ihm gut tut, seinen Ehrgeiz mit einem anspruchsvolleren Stück zu wecken oder ob er es aushält, monatelang ein eher leichtes Stück schön und gern zu spielen. Ein Lehrer sollte nie aus persönlicher Eitelkeit seinen Schülern ein abgehobenes, zu schweres Programm aufbürden, nur um den Kollegen seine herausragenden Literaturkenntnisse zu beweisen!), die Stücke monatelang liebevoll und mit immer neuem Interesse zu spielen und letzlich auf den im Moment besten erreichbaren Stand zu bringen. Und natürlich bedeutet es in den Wochen vor dem Wettbewerb, das Programm möglichst oft vor anderen zu spielen. Für die Bereitschaft, zusätzliche Stunden am Abend oder Wochenende zu investieren, werden die Schüler damit belohnt, dass sie neue Literatur live kennenlernen und sich vielleicht auftrittstechnisch von den anderen noch etwas abschauen können. Ganz zu schweigen vom Gemeinschaftserlebnis und Zusammengehörigkeitsgefühl, dass sich in der Gruppe entwickeln kann – wir Pianisten sind ja meistens einsame Menschen, die stundenlang allein an ihrem Instrument sitzen, und es kann hilfreich sein und manche Perspektiven zurechtrücken, wenn man feststellt, es gibt noch andere von der Sorte. Und sie haben ähnliche Probleme!

Sind die Schüler und ich uns einig, ist es Zeit für ein ausführliches Gespräch mit den Eltern. Das ist überhaupt immer gut! Viel zu selten kommt man dazu, in entspannter Atmosphäre über die Fortschritte des Kindes zu reden, und jetzt ist ein guter Augenblick, um so einen Termin anzuberaumen. Ich lege meine Haltung zum Wettbewerb noch mal dar und erläutere vor allem, was auf die Eltern zukommt an zusätzlichen Chauffeursdiensten zu Unterrichtsstunden und Vorspielen. Zusammen überlegen wir auch, ob es schulisch für das Kind im Moment möglich ist, so viel Zeit mit einem zusätzlichen Projekt zu verbringen. Die meisten Eltern stimmen einer Teilnahme gern zu, weil sie den grossen Nutzen für die Persönlichkeitsentwicklung sehen. Ich bitte sie aber auch, in ihren Worten dem Kind noch mal zu erklären, dass das Mitmachen im Vordergrund steht, nicht die Weiterleitung zum Landeswettbewerb. Wenn dann doch so ein Ergebnis verkündet wird, ist die Freude so überwältigend, dass ich und die Schüler schnell ein Taschentuch brauchen… Aber das sollte nicht unser Ziel sein – das wäre die Kirsche auf dem Sahnehäubchen!

Ich bin immer wieder erstaunt, was für einen Kick meine Schüler bekommen, wenn sie merken, dass ich an sie glaube und ihnen mehr zutraue als sie sich selbst. Alle haben meine Erwartungen schon jetzt übertroffen, und ich bin einfach glücklich, wenn ich sehe, was für eine solide Übehaltung sie sich mit dem  umfangreichen Programm angewöhnt haben. Das ist für uns der eigentliche Gewinn.

Wenn wir jetzt langsam über den Stücken stehen, hoffe ich, dass ich meinen Schülern noch das gewisse Etwas mitgeben kann und hoffe auch, dass sie es sich trotz Aufregung am Wettbewerbstag bewahren können – Phantasie und Persönlichkeit in ihrem Spiel. Wenn ich Jurorin bei „Jugend musiziert“ oder anderen Wettbewerben bin und einen ganzen Tag lang gute bis sehr gute Beiträge bewerten muss, horche ich langsam nur noch auf, wenn wirklich etwas Besonderes passiert. Letztes Jahr habe ich bei 80 Prozent der Vortragenden „mehr Phantasie!“ auf den Bewertungsbogen gekritzelt und das auch in den Beratungsgesprächen verbalisiert. Jetzt sollte ich es bei meinen eigenen Schülern auch beherzigen!

„Schilderndes Element“

Letzte Woche erarbeitete ich mit zwei Schülerinnen ein Stück von Daniel Hellbach, „Solitude“. Eins der Mädchen spielte es ordentlich vor – Noten stimmten, Rhythmus stimmte, aber sonst war nicht viel passiert. Ich versuchte, ihr die Stimmung des Stücks besser verständlich zu machen, indem wir uns zusammen eine Filmsequenz überlegten, die den Titel „Einsamkeit“ veranschaulichen sollte. Wir waren uns klar, dass wir in der melancholischen und ruhigen Szene eine Frau sehen, denn einsame Männer gehen joggen oder ins Internet. (Nun ja…) Die Frau steht im Dämmerlicht am Fenster eines leeren Zimmers, der Dauerregen läuft an den Fensterscheiben hinunter – das waren die Ideen der Mädchen, die offenbar viel Spass am Erfinden hatten.

Ich fügte mit dunkler Stimme hinzu: „Die Scheinwerfer eines Autos spiegeln sich im Asphalt der menschenleeren Fahrbahn.“

Loulou juchzte vor Freude: „Super, Frau Sommerer, schilderndes Element!“

„Wie bitte?“

„Wir machen in Deutsch grade Erlebniserzählung, und man braucht immer ein schilderndes Element!“

Jetzt war ein Damm gebrochen und immer skurrilere „schildernde Elemente“ breitete sich vor uns aus, bis ich die Phantasie der Mädchen wieder in geordnetere Bahnen und zurück zum Klavier lenkte. Und als Loulou das Stück jetzt spielte, war es so trübsinnig und hoffnungslos, dass uns anderen ganz kalt wurde. Sie sah vor ihrem inneren Auge die dämmrige Szene in Grautönen und schaffte es auch, uns diese Stimmung  zu vermitteln.

Die grosse Frage beim Unterrichten ist ja immer, wie man Musikalität und Ausdruck vermittelt. Oft stecken wir so in Bewegungs- oder Verständnisdetails fest, dass man von einer künstlerisch ausgereiften und wirklich persönlichen Interpretation nur träumen kann. Wobei man so etwas leicht erreichen kann, wenn man hier ein crescendo beachtet, hier sich ein wenig Zeit lässt, hier kurz Luft holt… Doch vielleicht sollten wir im Klavierunterricht auch so technisch vorgehen wie im Deutschunterricht der 6. Klasse? Davon ausgehen, dass ein Stück aus einer Aneinanderreihung von mehreren Elementen besteht? Richtige Töne, richtiger Rhythmus, richtige Lautstärken, Klangfarben, Artikulation, Pedal, Haltung, „schildernde Elemente“? Eigentlich unterrichte und übe ich nicht so. Ich versuche, meinen Schülern zu erklären, wie wichtig es ist, von Anfang an alle dieser Bausteine zu berücksichtigen. Es ist wenig sinnvoll, wie im obigen Beispiel die Stimmung erst am Schluss drüberzugiessen wie Zuckerguss – das ganze Stück sollte davon durchdrungen sein, damit es glaubhaft wirkt. Vielleicht gibt es aber Schüler, die eher analytisch an die Sache herangehen und am Schluss die Aufforderung brauchen, jetzt ein paar farbige Elemente einzubauen. Ich werde es ausprobieren!

Immerhin bin ich froh, eine Schülerin wie Loulou zu haben, die überhaupt in der Lage ist, so viele Gefühle zu zeigen. Und ich bin richtig selig über Schüler, die so etwas selber hören: am selben Tag spielte ich einem Dreizehnjährigen, der neu bei mir ist, vor, wie er eine Stelle von Tschaikowsky auch spielen könnte. Seine Reaktion: „Sie spielen das mit voll viel Gefühl! Wie macht man das??“ Sind das nicht die allerbesten Voraussetzungen?!

Notenlesen

Manche Schüler lernen quasi nebenbei Noten zu lesen, ohne lange darüber nachzudenken oder es überhaupt zu thematisieren. Dann gibt es solche, die sich etwas anstrengen müssen und regelmässig ein paar Minuten zum Notenschreiben oder Abfragen brauchen. Und dann gibt es die ganz genialen, die sofort alles nach Gehör spielen, den Sinn des Notenlesens überhaupt nicht einsehen und sich monatelang weigern, den schwarzen Gebilden auf dem Papier auch nur einen Blick zu schenken. Die fürchte ich! Es ist ein Geschenk, Schüler zu haben, die einen
natürlichen Zugang zur Musik haben, kreativ sind und sich mit was für haarsträubenden Fingersätzen auch immer selbst Melodien auf dem Klavier zusammensuchen. Doch dieses Talent muss richtig genutzt werden, um über ein nettes Dilettantenmass hinauszukommen. Es geht am Anfang vor allem darum, sich die unterschiedlichen Vorgänge in der Musik bewusst zu machen und dem Alter entsprechend etwas analytisch an die Sache heranzugehen. Dieser Schritt ist erfahrungsgemäss schmerzhaft und schwierig, deshalb versuche ich, so behutsam und langsam wie möglich Fragen zu stellen und nicht locker zu lassen. Ich weiss, dass dieser Denkprozess leicht in Frustration umschlagen kann. Aber ich will, dass meine Schüler schnell von irgendwelchen Hilfestellungen unabhängig werden, dass sie sich alle Fragen selber beantworten können und nicht zu lange zuhause jemand brauchen, der mit ihnen übt. Und der erste und ganz wichtige Schritt in diese Unabhängigkeit ist es eben, sich den Notentext eigenständig zu erschliessen.

Eigentlich ist es sehr logisch und einfach, jemanden die Noten anhand der Klaviatur zu erklären. Bei keinem anderen Instrument sieht man die Töne so anschaulich vor sich. Deshalb wird das schwarz-weiss-Muster der Tasten auch in allen fünften Klassen verwendet, um die Abfolge der Ganz- und Halbtöne zu erklären. Viele Lehrer drucken auch in den ersten Stegreifaufgaben noch ein Bild der Klaviatur ab oder erlauben ihren Schülern, sich die Tasten als Hilfestellung zu skizzieren. Auch Kinder, die kein Instrument spielen, finden so einen leichten Zugang zum Notenlesen. Dann sollte es für Schüler, die tatsächlich dieses Instrument lernen, doch wohl möglich sein, schnell und ohne Komplikationen Noten zu lernen! In der Realität braucht es doch oft Geduld, um die Transferleistung „von den Tasten zu den gedruckten Noten, und dann noch mit den richtigen Fingern“ zu begleiten, und vor allem den umgekehrten Weg…

Meine Methode ist äusserst konventionell, unkreativ und wahrscheinlich nicht sehr lustig – aber effektiv. Es gibt keine farbigen Aufkleber auf den Tasten. Die Noten heissen auch nicht „Dromedar“ und „Elefant“, sondern werden von Anfang an mit ihren richtigen Namen benannt. (Ich weiss, dass ich mich damit auf dünnes Eis begebe und womöglich eine Diskussion entfache. Aber genau so verfahre ich auch mit den Dur- und Molldreiklängen oder Intervallen. Auch kleine Kinder sind fähig, diese Phänomene richtig zu benennen. Ich finde, es ist Zeitverschwendung, erst nette kindgerechte Namen dafür zu finden und sie später verwirrenderweise anders zu nennen.) Ich beginne damit, dass wir ab der ersten Stunde die Namen der weissen Tasten lernen. Erst das C, dann D und E, dann im Bassschlüssel H und A. Wir spielen die Noten mit einem Finger und fragen uns gegenseitig ab, wobei ich Fehler machen darf, die der Schüler erkennen soll (für manche Kinder ist das am Anfang etwas verstörend und sie reagieren ganz verdutzt und ungläubig, wenn ich tatsächlich eine Note falsch benenne. Aber das gibt sich schnell!). Sobald die Namen der Tasten bekannt sind, beginne ich, die geschriebenen Noten in den allerersten Stücken, die wir spielen, zu benennen und frage auch die Schüler danach. Parallel dazu schreiben wir die Noten – ganz langsam, in einer Stunde nur lauter Cs, in der nächsten Woche eine Note dazu, und dann Kombinationen aus den schon gelernten Noten. Wir bleiben auf dem Niveau „das ist ein…“ oder „schreibe ein…“, bis die Schüler die Noten sicher erkennen. Die nächste Stufe ist, dass ich nach einzelnen Noten frage („wie heisst…?“) oder ansage: „schreibe ein E“.  Dafür lassen wir uns auch wieder zwei, drei Wochen Zeit, bis ich zur dritten Stufe übergehe „zeig mal auf ein E“ oder „wie viele Ds siehst du auf der Seite?“. Jetzt, kurz vor Weihnachten, sollten vom C aus je fünf Töne nach oben und unten bekannt sein, und wenn die Kinder motorisch schon fitter sind, haben wir auch etliche Violin- und Bassschlüssel gezeichnet (manche Schulanfänger schaffen das im September einfach noch nicht!). Da wir immer mit unterschiedlichen Farbstiften schreiben, sehen
die Notenhefte jetzt schon sehr bunt aus. Ich bilde mir ein, dass es motivierender ist – ob es sein muss, weiss ich nicht. Ich erinnere mich an die zarten Bleistiftstriche, mit denen meine erste Lehrerin die ersten Noten aufgeschrieben hat. Obwohl alles etwas eintöniger aussieht, habe ich die Noten auch gelernt!

In diesen ersten Wochen ist es wichtig, Notenlesen konsequent in jede Stunde zu integrieren und möglichst auch kleine Hausaufgaben dazu aufzugeben. Ich bitte die Eltern, jeden
Tag eine Minute mit ihren Kindern Noten zu lesen. Falls die Eltern selbst keine Noten lesen können, ist das kein Problem – ich lade sie ein, in einer Stunde anwesend zu sein, und normalerweise sind sie dann fit in den ersten fünf Noten, lernen in den nächsten Tagen mit ihren Kindern mit und können sie ganz anders unterstützen.

Bis Weihnachten lernen meine Schüler die Noten sozusagen auf die „harte Tour“, nur anhand der Stücke, die wir spielen,  und durch eigenes Schreiben. In den folgenden Wochen erlaube ich uns aber doch, ein bisschen mehr zu spielen, um die Kenntnisse und die neu dazukommenden Töne zu festigen. Sehr beliebt ist ein Kartenspiel[1] mit zwei identischen Sätzen Noten, auf deren Rückseite passende Tiere oder Symbole sind. (Jetzt doch…Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es in dieser Reihenfolge einfach schneller und sicherer geht.) Zuerst legen wir die Noten in eine zufällige Reihe, lesen sie und singen sie. Auch wenn die Kinderstimmen kein tiefes a singen können, ist dieser Aspekt ganz wichtig. Wenn wir das am Klavier machen und die Noten aufs Pult gestellt haben, werden sie nach dem Singen auch gespielt, aber normalerweise sitzen wir am Boden. Nach einigen Durchgängen bitte ich den Schüler, die Noten in der Reihenfolge, in der sie auf dem Klavier vorkommen, auszulegen und dann umzudrehen, so dass die Bilder nach oben liegen. Dann gebe ich ihm einzelne Karten aus dem zweiten Satz des Spiels mit der Notenseite nach oben, und er soll sie zum passenden Symbol legen. Das ist noch mal eine gute Transferübung und zeigt mir, wie gut der Schüler die Töne kennt.

Fast noch beliebter ist meine Magnettafel mit Notenlinien, Schlüsseln und kleinen Notenmagneten von Lucy Chu[2] – es ist Plastik, es ist bunt und leicht, und Kinder fassen so was anscheinend gern an und erkennen es sofort als Spielzeug. Es ist ideal für Kinder, die noch nicht so schnell schreiben können. Ein Notendiktat, bei dem man mit einem leisen „plopp“ den Magnet sofort auf die richtige Zeile setzen kann, macht offensichtlich mehr Spass. Entweder sage ich an, was der Schüler „schreiben“ soll, oder ich lege eine Melodie, die wir dann lesen und singen. Der Vorteil der Tafel ist, dass sie so klein und handlich ist, dass man sie schnell aufs Notenpult stellen kann und die Melodie spielen kann. Und ich muss noch hinzufügen, dass sie generell eine grosse Faszination auch auf wartende Schüler und sogar Eltern ausübt. Wenn ich sie ausgepackt habe, sind die Kinderbücher, die ich sonst für solche Zwecke auf dem Wohnzimmertisch habe, uninteressant. Und sie eignet sich auch perfekt, um später Intervalle, Dreiklangsumkehrungen oder Tonleitern zu üben und im wahrsten Sinn des Wortes zu „begreifen“.

Dann habe ich noch ein ganz winziges Spielzeug, das ich leicht in meiner Schreibmappe mitnehmen kann. Mein Kollege Martin Klinger experimentiert immer mit neuen Spielideen für seine Gitarrenschüler und hat mir einen achtseitigen Würfel geschenkt, der mit Notennamen beklebt ist. Die Schüler dürfen würfeln und in der Schnellfassung einfach den Ton spielen oder, wenn wir am Tisch sitzen und Noten schreiben, die entstehende Melodie aufschreiben. Mit interessanten Ergebnissen, die ganz ernsthaft nachgespielt werden!

Zusätzlich zu der ganzen spielerischen Theorie ist es natürlich wichtig, die Notenkenntnisse  in Echtzeit anwenden zu könne. Für diese Zwecke lasse ich meine Schüler kurze und leichte Stücke aus anderen Klavierschulen vom Blatt spielen. Immer nur eins, man muss nicht viel Zeit dafür einplanen. Oder wir spielen vierhändig, die ganz leichten Klassiker von Jessie Blake[3], die in diesen Wochen einfach perfekt sind, oder aus dem ersten Band der vierhändigen Tastenträume von Anne Terzibaschitsch[4]. Spätestens jetzt fällt bei den meisten der Groschen, warum wir uns so lang mit diesen Noten abgequält haben – um ohne Hindernisse allein oder mit anderen Musik zu machen und mit Freude neue und unbekannte Stücke zu entdecken.

Auch wenn alles so einfach und durchstrukturiert klingt, habe ich doch regelmässig Schüler, die sich als direkt lernresistent erweisen oder sich mit Händen und Füssen gegen das Notenlernen wehren. Ich erinnere mich an eine Zweitklässlerin, die sich zwei Jahre lang standhaft geweigert hat, Noten zu lesen. Inzwischen ist sie 17, spielt hervorragend vom Blatt, ist deswegen eine gesuchte Begleiterin und mit ihren Solobeiträgen das sichere Highlight des Konzerts. Also sollte man auch bei hartnäckigen Fällen die Hoffnung nicht zu schnell aufgeben!


[1] Horst
Hoffmann, Logo-note, Horo-Vertrieb

[2] Lucy Chu, www.e-znotes.com

[3] Jessie Blake, 8 Duets for
Beginners, Boosey & Hawkes

[4] Anne
Terzibaschitsch, Vierhändige Tastenträume Band 1, Holzschuh-Verlag

(veröffentlicht in „Pianonews“ 4/2011)