Manche Schüler lernen quasi nebenbei Noten zu lesen, ohne lange darüber nachzudenken oder es überhaupt zu thematisieren. Dann gibt es solche, die sich etwas anstrengen müssen und regelmässig ein paar Minuten zum Notenschreiben oder Abfragen brauchen. Und dann gibt es die ganz genialen, die sofort alles nach Gehör spielen, den Sinn des Notenlesens überhaupt nicht einsehen und sich monatelang weigern, den schwarzen Gebilden auf dem Papier auch nur einen Blick zu schenken. Die fürchte ich! Es ist ein Geschenk, Schüler zu haben, die einen
natürlichen Zugang zur Musik haben, kreativ sind und sich mit was für haarsträubenden Fingersätzen auch immer selbst Melodien auf dem Klavier zusammensuchen. Doch dieses Talent muss richtig genutzt werden, um über ein nettes Dilettantenmass hinauszukommen. Es geht am Anfang vor allem darum, sich die unterschiedlichen Vorgänge in der Musik bewusst zu machen und dem Alter entsprechend etwas analytisch an die Sache heranzugehen. Dieser Schritt ist erfahrungsgemäss schmerzhaft und schwierig, deshalb versuche ich, so behutsam und langsam wie möglich Fragen zu stellen und nicht locker zu lassen. Ich weiss, dass dieser Denkprozess leicht in Frustration umschlagen kann. Aber ich will, dass meine Schüler schnell von irgendwelchen Hilfestellungen unabhängig werden, dass sie sich alle Fragen selber beantworten können und nicht zu lange zuhause jemand brauchen, der mit ihnen übt. Und der erste und ganz wichtige Schritt in diese Unabhängigkeit ist es eben, sich den Notentext eigenständig zu erschliessen.
Eigentlich ist es sehr logisch und einfach, jemanden die Noten anhand der Klaviatur zu erklären. Bei keinem anderen Instrument sieht man die Töne so anschaulich vor sich. Deshalb wird das schwarz-weiss-Muster der Tasten auch in allen fünften Klassen verwendet, um die Abfolge der Ganz- und Halbtöne zu erklären. Viele Lehrer drucken auch in den ersten Stegreifaufgaben noch ein Bild der Klaviatur ab oder erlauben ihren Schülern, sich die Tasten als Hilfestellung zu skizzieren. Auch Kinder, die kein Instrument spielen, finden so einen leichten Zugang zum Notenlesen. Dann sollte es für Schüler, die tatsächlich dieses Instrument lernen, doch wohl möglich sein, schnell und ohne Komplikationen Noten zu lernen! In der Realität braucht es doch oft Geduld, um die Transferleistung „von den Tasten zu den gedruckten Noten, und dann noch mit den richtigen Fingern“ zu begleiten, und vor allem den umgekehrten Weg…
Meine Methode ist äusserst konventionell, unkreativ und wahrscheinlich nicht sehr lustig – aber effektiv. Es gibt keine farbigen Aufkleber auf den Tasten. Die Noten heissen auch nicht „Dromedar“ und „Elefant“, sondern werden von Anfang an mit ihren richtigen Namen benannt. (Ich weiss, dass ich mich damit auf dünnes Eis begebe und womöglich eine Diskussion entfache. Aber genau so verfahre ich auch mit den Dur- und Molldreiklängen oder Intervallen. Auch kleine Kinder sind fähig, diese Phänomene richtig zu benennen. Ich finde, es ist Zeitverschwendung, erst nette kindgerechte Namen dafür zu finden und sie später verwirrenderweise anders zu nennen.) Ich beginne damit, dass wir ab der ersten Stunde die Namen der weissen Tasten lernen. Erst das C, dann D und E, dann im Bassschlüssel H und A. Wir spielen die Noten mit einem Finger und fragen uns gegenseitig ab, wobei ich Fehler machen darf, die der Schüler erkennen soll (für manche Kinder ist das am Anfang etwas verstörend und sie reagieren ganz verdutzt und ungläubig, wenn ich tatsächlich eine Note falsch benenne. Aber das gibt sich schnell!). Sobald die Namen der Tasten bekannt sind, beginne ich, die geschriebenen Noten in den allerersten Stücken, die wir spielen, zu benennen und frage auch die Schüler danach. Parallel dazu schreiben wir die Noten – ganz langsam, in einer Stunde nur lauter Cs, in der nächsten Woche eine Note dazu, und dann Kombinationen aus den schon gelernten Noten. Wir bleiben auf dem Niveau „das ist ein…“ oder „schreibe ein…“, bis die Schüler die Noten sicher erkennen. Die nächste Stufe ist, dass ich nach einzelnen Noten frage („wie heisst…?“) oder ansage: „schreibe ein E“. Dafür lassen wir uns auch wieder zwei, drei Wochen Zeit, bis ich zur dritten Stufe übergehe „zeig mal auf ein E“ oder „wie viele Ds siehst du auf der Seite?“. Jetzt, kurz vor Weihnachten, sollten vom C aus je fünf Töne nach oben und unten bekannt sein, und wenn die Kinder motorisch schon fitter sind, haben wir auch etliche Violin- und Bassschlüssel gezeichnet (manche Schulanfänger schaffen das im September einfach noch nicht!). Da wir immer mit unterschiedlichen Farbstiften schreiben, sehen
die Notenhefte jetzt schon sehr bunt aus. Ich bilde mir ein, dass es motivierender ist – ob es sein muss, weiss ich nicht. Ich erinnere mich an die zarten Bleistiftstriche, mit denen meine erste Lehrerin die ersten Noten aufgeschrieben hat. Obwohl alles etwas eintöniger aussieht, habe ich die Noten auch gelernt!
In diesen ersten Wochen ist es wichtig, Notenlesen konsequent in jede Stunde zu integrieren und möglichst auch kleine Hausaufgaben dazu aufzugeben. Ich bitte die Eltern, jeden
Tag eine Minute mit ihren Kindern Noten zu lesen. Falls die Eltern selbst keine Noten lesen können, ist das kein Problem – ich lade sie ein, in einer Stunde anwesend zu sein, und normalerweise sind sie dann fit in den ersten fünf Noten, lernen in den nächsten Tagen mit ihren Kindern mit und können sie ganz anders unterstützen.
Bis Weihnachten lernen meine Schüler die Noten sozusagen auf die „harte Tour“, nur anhand der Stücke, die wir spielen, und durch eigenes Schreiben. In den folgenden Wochen erlaube ich uns aber doch, ein bisschen mehr zu spielen, um die Kenntnisse und die neu dazukommenden Töne zu festigen. Sehr beliebt ist ein Kartenspiel[1] mit zwei identischen Sätzen Noten, auf deren Rückseite passende Tiere oder Symbole sind. (Jetzt doch…Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es in dieser Reihenfolge einfach schneller und sicherer geht.) Zuerst legen wir die Noten in eine zufällige Reihe, lesen sie und singen sie. Auch wenn die Kinderstimmen kein tiefes a singen können, ist dieser Aspekt ganz wichtig. Wenn wir das am Klavier machen und die Noten aufs Pult gestellt haben, werden sie nach dem Singen auch gespielt, aber normalerweise sitzen wir am Boden. Nach einigen Durchgängen bitte ich den Schüler, die Noten in der Reihenfolge, in der sie auf dem Klavier vorkommen, auszulegen und dann umzudrehen, so dass die Bilder nach oben liegen. Dann gebe ich ihm einzelne Karten aus dem zweiten Satz des Spiels mit der Notenseite nach oben, und er soll sie zum passenden Symbol legen. Das ist noch mal eine gute Transferübung und zeigt mir, wie gut der Schüler die Töne kennt.
Fast noch beliebter ist meine Magnettafel mit Notenlinien, Schlüsseln und kleinen Notenmagneten von Lucy Chu[2] – es ist Plastik, es ist bunt und leicht, und Kinder fassen so was anscheinend gern an und erkennen es sofort als Spielzeug. Es ist ideal für Kinder, die noch nicht so schnell schreiben können. Ein Notendiktat, bei dem man mit einem leisen „plopp“ den Magnet sofort auf die richtige Zeile setzen kann, macht offensichtlich mehr Spass. Entweder sage ich an, was der Schüler „schreiben“ soll, oder ich lege eine Melodie, die wir dann lesen und singen. Der Vorteil der Tafel ist, dass sie so klein und handlich ist, dass man sie schnell aufs Notenpult stellen kann und die Melodie spielen kann. Und ich muss noch hinzufügen, dass sie generell eine grosse Faszination auch auf wartende Schüler und sogar Eltern ausübt. Wenn ich sie ausgepackt habe, sind die Kinderbücher, die ich sonst für solche Zwecke auf dem Wohnzimmertisch habe, uninteressant. Und sie eignet sich auch perfekt, um später Intervalle, Dreiklangsumkehrungen oder Tonleitern zu üben und im wahrsten Sinn des Wortes zu „begreifen“.
Dann habe ich noch ein ganz winziges Spielzeug, das ich leicht in meiner Schreibmappe mitnehmen kann. Mein Kollege Martin Klinger experimentiert immer mit neuen Spielideen für seine Gitarrenschüler und hat mir einen achtseitigen Würfel geschenkt, der mit Notennamen beklebt ist. Die Schüler dürfen würfeln und in der Schnellfassung einfach den Ton spielen oder, wenn wir am Tisch sitzen und Noten schreiben, die entstehende Melodie aufschreiben. Mit interessanten Ergebnissen, die ganz ernsthaft nachgespielt werden!
Zusätzlich zu der ganzen spielerischen Theorie ist es natürlich wichtig, die Notenkenntnisse in Echtzeit anwenden zu könne. Für diese Zwecke lasse ich meine Schüler kurze und leichte Stücke aus anderen Klavierschulen vom Blatt spielen. Immer nur eins, man muss nicht viel Zeit dafür einplanen. Oder wir spielen vierhändig, die ganz leichten Klassiker von Jessie Blake[3], die in diesen Wochen einfach perfekt sind, oder aus dem ersten Band der vierhändigen Tastenträume von Anne Terzibaschitsch[4]. Spätestens jetzt fällt bei den meisten der Groschen, warum wir uns so lang mit diesen Noten abgequält haben – um ohne Hindernisse allein oder mit anderen Musik zu machen und mit Freude neue und unbekannte Stücke zu entdecken.
Auch wenn alles so einfach und durchstrukturiert klingt, habe ich doch regelmässig Schüler, die sich als direkt lernresistent erweisen oder sich mit Händen und Füssen gegen das Notenlernen wehren. Ich erinnere mich an eine Zweitklässlerin, die sich zwei Jahre lang standhaft geweigert hat, Noten zu lesen. Inzwischen ist sie 17, spielt hervorragend vom Blatt, ist deswegen eine gesuchte Begleiterin und mit ihren Solobeiträgen das sichere Highlight des Konzerts. Also sollte man auch bei hartnäckigen Fällen die Hoffnung nicht zu schnell aufgeben!
[1] Horst
Hoffmann, Logo-note, Horo-Vertrieb
[2] Lucy Chu, www.e-znotes.com
[3] Jessie Blake, 8 Duets for
Beginners, Boosey & Hawkes
[4] Anne
Terzibaschitsch, Vierhändige Tastenträume Band 1, Holzschuh-Verlag
(veröffentlicht in „Pianonews“ 4/2011)