Eine Freundin hat uns Gänseeier mitgebracht von ihren eigenen Gänsen. Ich habe zum ersten Mal im Leben eines in der Hand und wundere mich, wie überdimensioniert und schwer es ist. Man staunt über die veränderten Proportionen – als würde man nur Geigen kennen und plötzlich ein Cello sehen. Wir freuen uns auf ein grosses Rührei zum Frühstück. Doch als ich das Ei am Pfannenrand aufschlagen will mit der üblichen, jahrzehntelang an Hühnereiern praktizierten kurzen Handgelenksbewegung, tut sich ÜBERHAUPT nichts. Wirklich gar nichts! Ich versuche es noch mal, und noch mal, mit immer zunehmender Kraft, und ich wundere mich, wie unglaublich stabil und hart die Schale ist. Bald hämmere ich mit Gewalt auf die Pfanne ein und komme mir vor wie der Vogel im Fernsehen, der mit einem Stein im Schnabel ausdauernd ein Straussenei attackiert. Irgendwann habe ich es geschafft. Doch beim zweiten Ei ist es wieder dasselbe. Mein Körper hat einfach die Bewegung gespeichert, die man zum Eieraufschlagen braucht, gleichzeitig mit der Information „Vorsicht, nicht zu schnell, es könnte eine Sauerei geben!“, und ich muss mich richtig überwinden, fest auf die Pfanne zu hauen. Wenn ich morgen mit den restlichen Eiern den geplanten Napfkuchen backe, wird wieder alles anders sein, da sich die Eierschalen am Rand der Rührschüssel wieder unterschiedlich verhalten werden. Und wahrscheinlich müsste ich Hunderte von Gänseeiern aufschlagen, um ein Gefühl für die Schnelligkeit und Stärke der Bewegung ins Handgelenk zu bekommen, die es dazu braucht.
Als der riesige Dotter endlich in der Pfanne brutzelt, bin ich mal wieder verblüfft, wie gut sich der Körper selbst feinste Bewegungen merkt. Mir fallen Schüler ein, die aus welchen Gründen auch immer nur ein E-Piano haben und hier im Unterricht immer zu leise und zaghaft spielen. Kein Wunder! Unsere Finger speichern das Tastengewicht und die Schnelligkeit, die es für eine bestimmte Lautstärke oder Anschlagsart braucht, ab, und zwar jedes Mal wieder, wenn wir diese Tasten berühren. Deshalb spiele ich auch vor Konzerten nicht mehr auf einem anderen Klavier in irgendeinem Einspielraum, wenn ich mich vorher auf dem Flügel im Saal einspielen konnte, denn es gibt auch ein ganz kurzfristiges Fingergedächtnis. Und kleine Fingerchen, die noch formbar und beeinflussbar sind, sollten für ihr tägliches Üben nur „richtige“ Tasten kennen mit einem bestimmten Gewicht und einem echten Hammer am anderen Ende. Man spart wirklich am falschen Ende, wenn man denkt, dass für Anfänger irgendein ausgeleiertes altes Klavier oder gar ein E-Piano schon passt. Gerade die Kleinsten sollten den besten Unterricht und angemessene Instrumente haben, denn hier wird der Grundstein gelegt für das ganze spätere Verhalten. Was man hier versäumt, kann nur schwer und mühsam nachgeholt werden. Hat man Bewegungen und Gewohnheiten erst mal anders verinnerlicht – ich will nicht sagen, dass sie falsch sind, aber sie führen einfach nicht zum gewünschten Ergebnis – ist es extrem schwer, sie zu ändern. Das kann jeder ausprobieren, indem er sich einmal mit der anderen als der üblichen Hand die Zähne putzt. Es ist erstaunlich, was hier schon feinmotorisch abläuft. Und wie viel mehr noch beim Klavierspielen passiert, wo man jahrelang geduldig gewisse Bewegungen einübt und immer wiederholt.
(Teil II folgt nächste Woche)
Liebe Martina,
ich war ja schon vieeeel zu lang nicht mehr bei Dir zu Besuch!
Über das Thema Körpergedächtnis habe ich noch nie nachgedacht…
Musste ein wenig schmunzeln, als ich mir Dich beim Gänseeier-Aufschlagen vorgestellt habe!
Bin gespannt, was Du noch zu diesem Thema zu sagen hast.
Liebste Grüße,
Bianca
Mein Mann meinte zum Eieraufschlagen nur: Gott sei dank sind es keine Gänsegeiereier!
Liebe Grüsse! Martina
Hallo Martina,
bei uns ist es irgendwie umgekehrt. Wir haben ein Clavinova, auf dem ich auch gern spiele (obwohl ich den Ton immer irgendwie zu steril finde…). Wenn ich dann bei Freunden auf dem Klavier spiele, erschrecke ich mich immer, wie laut ich spiele, und muss mich viel mehr zurück nehmen (oder mich dran gewöhnen, dass ich die Lautstärke nicht regeln kann 😉
Ich bin übrigens sehr überrascht über die natürlich Handhabung meiner Tochter. Sie haut so kraftvoll in die Tasten – ich hatte früher immer angst mich zu verspielen, und habe eher zaghaft gespielt.
Sie lernt ja eigentlich nach Gehör und denkt sich selbst kleine Stücke aus (probiert und experimentiert). Manchmal frage ich mich…wird sie jemals etwas vom Blatt abspielen? Ob das wirklich so ‚richtig‘ ist? (Das frage ich micht, weil ich ja 10 Jahre klassischen Unterricht hatte).
Gestern setzt sie sich hin und spielt ein Anfängerstück nach Noten mit beiden Händen…!
Sie wollte das mal ausprobieren und hat die Schrift sehr schnell umgesetzt und kann es jetzt schon auswendig. 🙂
Ich glaube, sie ist auf dem richtigen Weg.
Liebe Martina,
vielen, vielen Dank für deinen lieben Kommentar.
Du hast Recht, es ist einiges an „Arbeit“ drei Wochen voller Erlebnisse und Eindrücke nachzubereiten.
Doch irgendwie erleb ich damit diese wunderbare Zeit nocheinmal.
Ich klick mich gerade ein wenig durch deinen Blog und werde mich gleich als regelmäßiger Leser eintragen.
Deine Einträge gefallen mir, du schreibst mit viel Gefühl und Bedacht, nimmst Zwischentöne wahr, die oftmals im normalen Alltag untergehen, eben das Körpergefühl. Es ist zwar gut, dass es so selbstverständlich ist, doch meist wird es uns erst wieder bewusst, wenn wir krank werden.
lieben Gruß
maria
Liebe Maria, danke für Deine lieben Worte! Ein Blog ist doch ein schönes Mittel, um Erlebtes und Erinnerungen festzuhalten. Und wenn man’s dann noch mit anderen teilen kann – um so schöner! Liebe Grüsse, Martina
Liebe Isla, ich habe hier auch ein E-Piano stehen, das mir wertvolle Dienste leistet, wenn ich glaube, dass ich die Nachbarn überstrapaziert habe. Frühmorgens übe ich nur auf dem E-Piano. Das Problem damit ist halt die Umstellung auf ein anderes Tastengewicht, wie Du auch bemerkt hast – die Finger brauchen ein paar Minuten, um anzukommen.
Deine Tochter ist nicht mehr ganz klein, glaube ich? Ich habe beobachtet, dass Notenlesen kaum mehr ein Problem ist, wenn die Kinder mal 8 oder 9 Jahre sind. Werden sie als Schulanfänger mit Buchstaben und Noten gleichzeitig konfrontiert, kann das verständlicherweise für Verwirrung sorgen. Aber wenn die Kinder ein Denksystem entwickelt haben, wie man Zeichen, welche auch immer, in Inhalt überträgt, sind die Noten kein Problem mehr. Anscheinend ist Deine Tochter an dem Punkt?
Ich wünsche Euch auf jeden Fall, dass sie weiterhin mit viel Freude spielt – mit Noten oder ohne! Freue mich darauf, wieder bei Dir zu lesen! Martina
Ja, das stimmt. Sie ist schon 9 Jahre und spielt so seit letztem Oktober/November.
Ich habe mit 7 angefangen und fand das Notenlesen immer sehr schwer, ich glaube so mit 11/12 konnte ich es dann richtig umsetzen, also so dass ich die Noten auf anhieb erkannte und flüssig spielen konnte.
Meine Tochter setzt sich morgens nach dem Aufstehen immer sofort ans Klavier (wenn sie sich eigentlich für die Schule fertig machen müsste :-/). Sie sagt, dass hilft ihr beim Aufwachen.
Oder sie sagt, wenn sie traurig oder wütend ist, dann hift ihr, am Klavier zu spielen.
Ich finde das sehr spannend…so lange spielt sie ja noch nicht, aber es ist schon ein wichtiger Teil ihres Lebens geworden. 🙂