Eine Schülermutter lieh mir kürzlich Amy Chuas sehr konrovers diskutiertes Buch „Battle Hymn of the Tiger Mother“, der chinesisch-amerikanischen Juraprofessorin, die ihre Kinder mit zum Teil drakonischer Härte zu Bestleistungen trimmt. Wie meine Schülermutter sagte: es ist was ganz anderes, das Buch zu lesen als die vielen Feuilleton – und andere Artikel, die über die Frau erscheinen. Wenn man nur Auszüge liest, kann man sich leicht der vorherrschenden Meinung anschliessen, dass sie zu Recht die meistgehasste Mutter Amerikas ist. Das Buch liest sich überraschend gut – vieles von ihrer Selbstironie geht in der allgemeinen Diskussion unter.
Dennoch – ich muss viel über diesen Anspruch an sich selbst und seine Kinder nachgrübeln. (Und, ganz am Rand: ihr amerikanischer Mann muss ein Heiliger sein, um die beschriebenen häuslichen Szenen auszuhalten). Chua zeichnet ein plausibles Bild von ehrgeizigen Immigrantenfamilien, ihrem Erstaunen über den laschen westlichen Erziehungsstil und ihrer Angst, dass die Leistungen der Familie in der dritten Generation, also der ihrer Töchter, nachlassen könnten. In diesem grösseren Zusammenhang sollte man ihre Ausführungen auch lesen. Doch wenn sie sagt, dass chinesische Eltern für ihre Kinder als einzig mögliche Berufe Arzt, Anwalt oder Professor sehen, muss ich stutzen. Unsere Gesellschaft würde schnell aufs Schlimmste zerbröckeln, wenn wir nur noch höchst ausgebildete Nachkommen hätten. Genau so in der Musik: es kann einfach nicht jeder ein Spitzensolist werden, wir brauchen den ganzen Unterbau von „normalen“ Musikern, um überhaupt noch Orchester oder Musikschulen zunhaben.
Was ich wirklich kritisch sehe, ist, dass sie, die selbst kaum musikalische Vorbildung hat, die Musik als weitere Tummelfeld sieht, um den Charakter ihrer Töchter zu bilden und sie zu Spitzenleistungen zu bringen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es um die Sache an sich geht, oder Freude an der Musik, oder gar eine Nische zur Selbstentfaltung. Es geht nur darum, dass ihre Töchter möglichst früh möglichst schwere Stücke spielen, Wettbewerbe gewinnen, Gehorsam und Disziplin auf einer weiteren Ebene lernen, nachmittags nicht rumhängen oder sich gar mit anderen Kindern treffen. So traumhaft es für mich als Lehrerin wäre, wenn meine Schüler jede Woche perfekt vorbereitet wären, und das jahrelang – erst mal würde ich erschrecken und mich fragen, was da schiefläuft und ob mein Schüler kein anderes Leben hat, und wenn ich die Hintergründe wüsste, würde ich denken: nicht um den Preis. Auf gar keinen Fall. Mir würde es keinen Spass machen,, mich mit hervorragenden Schülern zu brüsten, die unverhältnismässig viele Opfer für diese Leistung bringen müssen. Wozu? Man muss nicht mit zehn Jahren schon alles gespielt haben. Mir ist es viel lieber, die Ausbildung läuft moderat langsam, aber solide, und die Kinder haben Gelegenheit, sich emotional auch ausserhalb des Musikunterrichts zu entwickeln,
damit sie ihre Stücke mit Leben erfüllen und glaubhaft spielen können. Es muss Raum und Gelegenheit geben, dieses Leben kennenzulernen. Chua schirmt ihre Töchter ziemlich ab – zwischen Schule, Musikschule und Familie scheint es nicht viel zu geben. Ich hätte Angst, dass da Defizite entstehen, die viel schlimmer sind als etwaige technische Defizite in der musikalischen Ausbildung. Wenn ein Kind gern und mit Freude vier Stunden am Tag übt, freue ich mich. Wenn man es unter Androhung von Strafen und unter Aufbringung von unheimlich viel Energie dazu bringt, jeden Tag seines Lebens, egal ob krank oder Ferien oder Geburtstag, unter Aufsicht vier Stunden zu üben, dann stimmt für mich was nicht.
Ich möchte auch keine Schüler, die kritiklos alles übernehmen, was ich ihnen anbiete. Ich liebe Diskussionen mit meinen Schülern (naja, meistens…!), egal, welches Alter, weil ich ihnen damit helfen kann, ihren eigenen Geschmack und eine eigene Meinung zu entwickeln. Wenn das Resultat ist, dass ein Komponist erst mal jahrelang abgelehnt wird – auch in Ordnung, es gibt genug andere, und meistens kommt man in seinem Entwicklungsprozess irgendwann an den Punkt, an dem man alte Meinungen revidiert. Wichtig ist mir, dass sie überhaupt einen Standpunkt haben und sich auch trauen, den zu vertreten. Und, wenn sie nach einem Schülerkonzert gefragt werden, warum sie dieses Stück gewählt haben, nicht stammeln und stottern, sondern selbstbewusst ihren persönlichen Bezug zu dem Stück erklären können.
Wir brauchen keine weiteren Tausend Wunderkinder, die uns verblüffen. Wir brauchen Kinder, die gern und von ganzem Herzen Musik machen, die ihre Seele in die Musik legen können und dadurch zu innerem Gleichgewicht kommen, die ein Leben lang Freude an der Musik haben werden, egal, ob sie weiterhin selber spielen oder die Konzertbesucher von morgen werden. Würde Amy Chua auf der Suche nach einem Lehrer meinen Lebenslauf lesen, würde sie mir ihre Tochter sicher nicht anvertrauen: meine Schüler haben nur bescheidene Erfolge in bescheidenen regionalen Wettbewerben und sind nur ganz normale Kinder. In dem Sinne bin ich keine erfolgreiche Lehrerin. Doch wenn mich ehemalige Schüler Jahre nach dem Abitur anrufen, mich aus Gewohnheit mit meinem Mädchennamen ansprechen und erzählen, dass sie in einem tollen Klavierabend waren oder mal wieder Zeit hatten, jene Beethovensonate zu spielen – dann fühle ich mich enorm erfolgreich und beglückt!
(veröffentlicht in „Pianonews“ 6/2011)