Demut

Langsam beginne ich, meine „Zeugnisse“ zu schreiben – ein schriftlicher Rückblick über das vergangene Schuljahr, in dem ich festhalte, was für Literatur verwendet wurde, was gut gelaufen ist, und als Ausblick: woran wir im nächsten Schuljahr besonders arbeiten müssen. Ich muss mich sehr anstrengen, um pro Schüler eine DinA4-Seite nicht zu überschreiten, denn schliesslich haben die Eltern mehr zu tun, als Beobachtungen, die für mich so bedeutsam sind, zu lesen…

Natürlich bleibt es nicht aus, dass man im Kopf Quervergleiche zieht, auf Erfahrungswerte zurückgreift oder einfach die aktuellen Schüler miteinander vergleicht. In diesem Fall, und wenn es nur in meinem Kopf bleibt, hat es ja nichts Destruktives. Und ich bin jedes Jahr wieder auf der Suche nach DEM Rezept, nach DEM Wundermittel, um Kinder möglichst schnell und effektiv fit zu machen auf dem Klavier. Ich glaube, dieses Jahr bin ich ihm ein bisschen auf
die Spur gekommen. Allerdings ist es kein Zaubertrank, den man den Kindern auf die Finger sprühen könnte, sondern es ist eine in der heutigen Zeit seltene Eigenschaft, die die Schüler schon in sich haben müssen: Demut.

Letzten Herbst haben zwei Siebzehnjährige bei mir angefangen. Das ist extrem spät. Bis auf wenige noch später berufene Erwachsene hatte ich noch nie so „alte“ Anfänger, doch beide schienen sehr motiviert und hatten so sehr den Wunsch, Klavier zu spielen, dass ich zustimmen musste. Natürlich habe ich mir den Kopf zerbrochen, mit welcher Literatur wir beginnen. Auch wenn sie vielleicht schon Noten im Violinschlüssel lesen konnten und sich generell mehr auskannten als Sechsjährige, wollte ich nicht zu viel voraussetzen und vor allem keine wichtigen Schritte auslassen. Und so entschied ich mich mit halb schlechtem Gewissen für Kinder- Klavierschulen – einmal für „Mein erstes Jahr Klavierunterricht“, weil es von einer Freundin vorhanden war, einmal für die „Klavierboutique“, weil die immerhin etwas schneller vorangeht. Wie gesagt, ich kam mir selbst etwas komisch dabei vor, ausgewachsene Jugendliche, die Führerschein machen und leider noch nicht erwachsen genug sind, um nicht zu rauchen, mit diesen Babyschulen mit bunten Bildchen zu konfrontieren. Aber es war ein guter Weg, und beide haben sich mit sehr wenig Grummeln diesem Vorschlag unterworfen und ganz ernsthaft die Grundlagen gelernt und geübt. Zusammen mit den Burnam-Übungen, meinen eigenen Fünfton-Übungen und später Tonleitern hatten wir nach drei, vier Monaten eine gute Basis, um begleitend zur Klavierschule mit etwas spannenderen kleinen Stücken zu beginnen. Inzwischen sind sie bei leichteren Chopin-Walzern und Préludes angelangt, spielen Satie und Burgmüller, natürlich „River flows in you“ und Yann Tiersen rauf und runter. Der eine hat beim Sommerkonzert wunderschön den ersten Satz der Mondscheinsonate gespielt, aber so, als würde er schon mehrere Jahre spielen und nicht nur Monate. Und ich bin überzeugt: das Geheimnis liegt bei beiden in ihrer demütigen Grundhaltung. Darin, zu beschliessen: ich durchlauf im Schnelldurchgang, aber Schritt für Schritt und ohne was auszulassen, diese ganze Prozedur und bin nicht zu cool für Babystücke. Ich verlass mich drauf, dass die Lehrerin weiss, was gut für mich ist, und mach das einfach, egal, wie blöd es im Moment klingt.

Das andere Extrem hatte ich leider viel, viel öfter, seit ich unterrichte: Schüler, die sich zu gut sind für eine Klavierschule. Die nach kürzester Zeit mit eselsohrigen Raubkopien ankommen und nach einem Jahr Für Elise, die Sonata facile oder gleich ein Chopin-Nocturne spielen wollen und alle Zwischenschritte oder technischen Übungen als sinnlose Zeitverschwendung ansehen. Eltern, die mir vorrechnen, dass eine Freundin der Kleinen nach vier Jahren aber dieses oder jenes Stück gespielt habe und ihr Kind jetzt gefälligst auch soll. Eltern, die ungebeten gleich mal Noten kaufen und erwarten, dass es so funktioniert. Kurz: Leute, die pushen und denken, dass man mit Gewalt schneller vorankommt und Klavierspielen an einem einzigen Stück lernen kann.

Ich merke erst jetzt, wie „erwachsen“ und reif meine grade noch nicht volljährigen Anfänger dieses Jahr sind. Wieviel Weisheit sie zeigen, indem sie demütig alles gemacht haben, was ich verlangte. Dass sie, frei nach Pascal Mercier, nicht tanzen wollten, bevor sie laufen konnten. Und wie viel Energie freigesetzt wird, wenn sie eine gutgelaunte Lehrerin haben, die zufrieden ist, weil alles nach ihrer Pfeife tanzt und keine kräfteraubenden Grundsatzdiskussionen stattfinden müssen… So eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Unterrichtssituation ist sicher der Idealfall. Doch wenn ich im Rückblick feststelle, dass das Lernen wie im Zeitraffer stattfinden kann und man im Lauf eines Jahres dahin kommen kann, wofür andere sieben Jahre benötigen, dann frage ich mich: warum sollte man sich mit weniger zufrieden geben?

(veröffentlicht in „Pianonews“ 5/2011)