Mein Vorhaben, endlich Klassiker zu lesen, um die ich bisher einen Bogen gemacht habe, hat in den letzten Monaten zu wunderbaren Entdeckungen geführt: nach Homer, der mich restlos überrascht und begeistert hat, bin ich ins Amerika der Zwanziger Jahre gehüpft und habe mit F. Scott Fitzgerald einen anderen grossen Dichter entdeckt. Bei beiden hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie wahre Poeten sind. Ich habe immer mit den Vorurteilen gelebt, dass Homer ein genauer, vielleicht trockener Chronist ist, der kein Ende finde, und Fitzgerald ein glitzernder, schillernder Chronist einer verrückten Zeit, der hauptsächlich seine Träume und Illusionen lebt. Nach der Lektüre muss ich sagen: beides trifft in einem kleinen Umfang zu, aber – warum spricht niemand darüber, was für eine sagenhafte Sprache beide haben? Fitzgerald hat mich wirklich umgehauen, grade, weil ich keine all zu grossen Erwartungen hatte. Ich kannte den üblichen Klatsch: dass er und seine Frau das Glamourpaar des Jazz Age waren, in Hoteldrehtüren Karussell fuhren, in voller Abendgarderobe in öffentlichen Brunnen badeten, feierten bis zum Umfallen und fatal viel tranken. Dass es mehr als Klatsch, sondern ihr ganz alltäglicher Lebenswandel war, bestätigte eine sehr gut geschriebene Biographie von Michaela Karl, zu der mir eine Freundin verholfen hat. Trotzdem war ich wild entschlossen, endlich etwas von ihm zu lesen.
Ich begann mit Kurzgeschichten und war sofort gebannt. Ich hatte keine Ahnung, wie betörend schön er schreibt. Das ist allerhöchste Sprach – und Schreibkultur! Etwas zeitgebunden, natürlich, aber für mich sind Stimmgabeln, die an den Sternen angeschlagen werden, eine kaum menschlich zu nennende Orchidee einer Frau oder Tonleitern, die wie Silber über mondbeglänzte Buchten schweben, grade recht. Es gibt haufenweise Stellen, die man anmerken, immer wieder lesen und auswendig lernen will. Der glamourös aufgemachte Band Kurzgeschichten war eigentlich ein Versuch, ihm eine Chance zu geben. Aber ich war süchtig und machte sofort weiter mit „Tender is the Night“. Ein wunderbarer und gleichzeitig bedrückender Ausflug an die Riviera aus Sicht eines Amerikaners – das war auch deshalb spannend, weil ich bisher nur in Begleitung exzentrischer Engländer dort gewesen war. Mit dem Train Bleu und so. Aber es ist doch was ganz anderes, mit dem Schiff über den Ozean zu kommen und in Genua anzulegen… Trotz immer mehr manifest werdender Ehe- und Gesundheitsprobleme war auch das faszinierende Lektüre, die ich sicher wiederholen werde. Schon einfach wegen dieser Sprache.
Die berühmteste Schullektüre überhaupt, die in den USA immer noch 300 000 Mal im Jahr verkauft wird, habe ich immer mit Argwohn betrachtet. Einmal, weil unsere Schullektüre dieser Jahrgangsstufe – Bölls „Ansichten eines Clowns“ – so was von trocken und öde war und so gar keine Lust auf Literatur machte. Ich fürchtete, dass der Gatsby ähnlich unterhaltsam wäre und war auch skeptisch, weil ich oft mit Werken/Filmen/Sehenswürdigkeiten, die als „der grösste“ (amerikanische Roman) angepriesen werden, wenig anfangen kann. Trotzdem beschloss ich, über die Stränge zu schlagen und mir auch hier die Luxusausgabe zu kaufen, und zwar in Paris, in einem gewissen überfüllten Buchladen gegenüber von Notre Dame, in dem auch die Fitzgeralds in ihrer Zeit dort aus und ein gingen… Bin ich froh, dass ich so eine schöne Ausgabe habe: es wird garantiert eines meiner Lieblingsbücher bleiben. Nicht unbedingt wegen der Handlung – die ist jetzt nicht sensationell – , aber wegen des Lebensgefühls, wegen der ewigen Sehnsucht und Suche nach dem grünen Licht am Ende des Stegs, wegen des Bewusstseins, was Illusionen in unserem Leben bedeuten („The sentimental person thinks things will last – the romantic person has a desperate confidence that they won’t.“) Und weil es, wenn man moralische und menschliche Bedenken mal aussen vor lässt, schon wunderbarer Eskapismus ist, sich in diese glamouröse Welt hineinzuträumen. Darf schon mal sein, oder? Denn anders als Fitzgerald bin ich viel zu nüchtern und realistisch, um krampfhaft dazugehören zu wollen. Ich würde behaupten, dass ich auch in seinem Alter nicht so verführbar gewesen wäre (ich denke, das ist auch einer der Aspekte, warum es Schullektüre ist – welche Opfer man bringen will, um zu einer bestimmten Gruppe zu gehören, überhaupt der ganze soziologische Hintergrund des Romans). Aber jetzt habe ich nichts gegen gelegentliche Tagträume… Und wenn ich eine Zeitreise machen dürfte und weder Gustav Mahler noch Virginia Woolf Zeit für ein Abendessen hätten (oh, und Maurice Ravel keine Zeit zum Vierhändigspielen – gibt’s eigentlich miles and more für Zeitreisen?!), dann würde ich gern nach Long Island reisen, auf eine von Gatsby’s Parties… Im passenden Seidenkleid, versteht sich…
Und, was wären Eure Lieblings – Zeitreisen?
Liebe Martina, ich frage mich auch schon länger, wo es die Fahrkarten gibt, in Zeiten des Internet sollte das eigentlich kein Problem sein. Vielleicht sehen wir uns dann ja bei einer Klavierstunde bei Franz Liszt – Chopin eher nicht, der hat seine Schüler mit den Preludes et Exercices von Clementi gequält (allen!!!) und ich hätte sowieso keine Chance bei ihm gehabt, er hat nur reiche, junge Mädchen genommen. Dann gäbe es noch viele Malstunden bei David Cox – der war sehr nachsichtig mit seinen dilettierenden Schülern – und dann noch die alte bayerische Eisenbahn, ich hätte schon großes Interesse. Bis Du die Fahrkartenausgabe gefunden hast werde ich mich halt auch mit Büchern trösten müssen, z.B. Auguste Boissier: Franz Liszt als Lehrer. Ich hoffe, ich höre bald von Dir.
Wolfang
Lieber Wolfgang,
hab immer noch keine Fahrkarte in die Vergangenheit gefunden, trotz eines kleinen Rituals in einem Etruskergrab, bei dem ich sicher war, dass es klappt…
Ja, ich würde gleich mitfahren zu einer Klavierstunde im 19. Jahrhundert! Wobei mich Chopin da schon interessieren würde – im Gegensatz zu Liszt, der erwartet hat, dass man seine technischen Schwierigkeiten allein zuhause löst, konnte man bei ihm glaube ich wirklich das Handwerk lernen. Und ich hätte gern erlebt, wie er den Clementi dann einsetzt, ob er trainermässig streng war, ob er’s für den einzelnen Schüler noch mal angepasst hat, welchen Raum solche Übungen in der Stunde eingenommen haben… Beides wäre wahnsinnig interessant gewesen.
Und bayerische Eisenbahn: manchmal höre ich im Traum Dampfloks pfeifen auf der aufgelassenen Strecke hinter unserem Haus. Wirklich wahr. Falls ich da mal aufspringen kann, sag ich Dir Bescheid!
Lass uns weiter nach der Fahrkartenausgabe suchen!!
Alles Liebe, Martina
Liebe Martina,
Raoul Koczalski, über Mikuli ein Enkelschüler Chopins, schreibt:
„Chopin … widmete mit wahrer Lust der Lehrtätigkeit täglich mehrere Stunden alle seine Kräfte. Freilich stellte er an das Talent und den Fleiß seiner Schüler große Ansprüche. Da setzte es oft „des lecons orageuses“ ab, wie sie im Schulidiom hießen, und manches schöne Auge verließ tränenbefeuchtet den hohen Altar der Cite d’Orleans, rue St. Lazare.
…War doch die Strenge, welcher nicht so leicht etwas genügte, die fieberhafte Heftigkeit, mit der der Meister seine Schüler zu seinem Standpunkte emporzuheben strebte, das Nichtablassen von der Wiederholung einer Stelle, bis sie verstanden war, eine Bürgschaft, daß ihm der Fortschritt des Schülers am Herzen lag. … Oft dauerten einzelne Lektionen mehrere Stunden hintereinander, bis die Ermattung Lehrer und Schüler überwältigte. Im Tempohalten war er unerbittlich, und es wird Manchen überraschen zu erfahren, daß das Metronom bei ihm nicht vom Klaviere kam. Sehr eingehend behandelte er die einzelnen Anschlagarten, besonders das tonvolle Legato…. Oftmals verging die ganze Stunde, ohne daß der Schüler mehr als einige Takte gespielt hatte, während Chopin ihn unterbrechend und verbessernd …. ihm das lebenswarme Ideal der höchsten Schönheit zur Bewunderung und Nacheiferung bot….“
Aber zuerst mußten die Schüler die ganzen Preludes et Exercices von Clementi durcharbeiten.
Du kannst es dir ja überlegen.
Viel Spaß
Wolfgang
Lieber Wolfgang,
herzlichen Dank, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, das alles abzuschreiben! Und ich muss sagen: es macht Lust auf mehr. Wäre schon sehr interessant, das live zu erleben. Und nichts gegen Clementi – es kommt immer drauf an, was man draus macht.
Ich würde sagen, da würde sich eine Gruppenkarte lohnen, meinst Du nicht?!
Danke noch mal und liebe Grüsse, Martina