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Schülerkonzerte

DSCF6393Rechtzeitig zum Sommerkonzert öffneten die Pfingstrosen ihre dicken Knospen und waren ein grandioser Schmuck für Bühne und Buffet. Die Empfehlung der Druckerei, für die Programme schwereres Papier zu verwenden, erwies sich als genau so grandios. Der Saal war stilvoll und geräumig wie immer, der Flügel wurde am Vortag frisch gestimmt, der Getränkeausschank in kompetente Hände delegiert – kurz, das Drumherum war optimal. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen schönen, harmonischen Abend und glückliche Gesichter. Was greifbar bleibt, ist das Programm – und wenn ich das jetzt anschaue, denke ich: o nein, o nein, vier mal Einaudi, zwei Mal Tiersen… Wo bleibt da der Anspruch?

Aber so ist meine Realität, und ich denke, vielen KollegInnen wird es nicht anders ergehen. Will man eine gewisse Altersgruppe bei der Stange halten, sind Kompromisse in der Literaturauswahl unausweichlich. Mir ist es im Moment dann wichtiger, dass sich diese Jugendlichen überhaupt noch aktiv mit Musik beschäftigen, überhaupt noch zu den Sommerkonzerten erscheinen. Für zwei, drei Jahre ist mir jedes Mittel recht… Eine Schülermutter, die auch Musikerin ist und unterrichtet, sagte: „Sie springen wenigstens über Ihren Schatten – ich kann das nicht.“ Hm. Aber vielleicht ist es der richtige Weg, denn wenn ich mir anschaue, wie das Programm der 15- bis 18jährigen aussieht, bin ich zufrieden: nur noch Klassik, nur noch Wohltemperiertes Klavier, Grieg, Khatchaturian, Moszkowski. Wer die Hürde der schwierigen Jahre gemeistert hat, bemerkt anscheinend selber, dass es Stücke gibt, die mehr und dauerhaftere Erfüllung bieten als die üblichen Verdächtigen.

Das alljährliche Sommerkonzert ist für mich ein Highlight des Unterrichtsjahrs. Es ist immer wieder erstaunlich, welche Kräfte bei den Schülern freigesetzt werden, wenn es darauf ankommt. Und wie sehr manche die Bühne brauchen, um über sich hinaus zu wachsen und aus einer an sich guten Leistung etwas mehr werden zu lassen – ein einmaliges, besonderes Ereignis; einen Moment, in dem wirklich Kunst entsteht. Jedes Jahr sehe ich wieder, wie wichtig diese Vorspielgelegenheit für meine Schüler ist. Ich geniesse jede Minute davon – und sollte es weniger genussvolle Minuten geben, mache ich mir Notizen und überlege, was wir in der nächsten Stunde dagegen tun können.

DSCF6338Doch wie sieht es mit den Genussmomenten für die Zuhörer aus? Meistens fallen die Sommerkonzerte in eine Zeit, in der es von anderen Sommerfesten, Schuljahresabschlussfeiern und ähnlichen nur so wimmelt. Der für uns Lehrer so bedeutsame Abend verkommt zu noch einem Termin, den man hinter sich bringen muss. Wenn sich die Sache dann zu sehr in die Länge zieht und das Programm zu sehr einem willkürlichen Potpourri ähnelt, in dem die Kinder nach Alter und Leistungsstufe auftreten, kann es schnell ermüdend werden.

Für die Länge gibt es eine einfache Lösung: alles, was über 75 Minuten hinausgeht, muss gekürzt werden. Falls mehr als 15 bis 20 Schüler spielen, ist es sinnvoller, zwei verschiedene Konzerte zu veranstalten – eventuell sogar im gleichen Saal, um 17 und um 19 Uhr zum Beispiel. Dabei würde ich aber nicht die jüngeren von den älteren Schülern trennen – es ist immer netter, ein möglichst vielfältiges Programm zu haben und die ganze Bandbreite der pädagogischen Literatur zu erleben. So sehen die Jüngeren und deren Eltern, auf welche Stücke man sich später freuen kann – und auch für die Älteren ist es nett, ihre Anfängerstücke wieder zu hören und zu staunen, wo sie jetzt stehen.

Die Schüler nach Können und Leistungsstufen auftreten zu lassen, ist heikel. Natürlich wäre es eine logische Möglichkeit und auch interessant, zu sehen, wie sich die Schwierigkeit und die Anforderungen der Literatur immer steigern – aber die damit gegebenen Vergleichsmöglichkeiten können zu unschönen Diskussionen oder sogar Enttäuschungen führen. Wenn es keinen roten Faden gibt im Programm, der eine bestimmte Reihenfolge erfordert, könnte man die Schüler einfach nach Geburtsmonat auftreten lassen. Oder nach alphabethisch geordneten Vornamen. Oder nach der Himmelsrichtung, in der sie wohnen. Das ergibt ein völlig willkürliches, aber garantiert abwechslungsreiches Programm. Ein solches Durcheinandermischen des Programms bietet sich bei der Art Vorspiel an, die wahrscheinlich die häufigste ist: wenn jeder Schüler weitgehend selber bestimmen darf, was er vorspielen möchte. Denn so sieht doch die Realität aus: man ist froh, wenn die vielfach verplanten und geforderten Kinder überhaupt noch Klavierstunden nehmen und überhaupt die Zeit finden, beim Konzert anwesend zu sein, oder? Und wenn sie dann bei den ganzen Schulaufgaben und Jahrgangsstufentests auch noch ein Klavierstück zur Perfektion bringen sollen, soll es wenigstens eines sein, das ihnen gefällt und mit dem sie gern freiwillig viel Zeit verbringen. Denke ich mir manchmal… Und so kommen die völlig zusammengewürfelten Programme zustande, mit viel Filmmusik garniert und oft in eine nicht – klassische Richtung abdriftend. Es ist also eine Art Kompromiss mit dem wirklichen Leben, eine Art Momentaufnahme, wo die einzelnen Schüler gerade stehen. Und doch haben diese Konzerte ihre Berechtigung: immerhin beschäftigen sich die Kinder überhaupt mit Musik und machen die wichtige Erfahrung, wie es ist, vor einem kleinen Publikum aufzutreten und in Echtzeit eine Leistung abzuliefern, auf die sie lange hingearbeitet haben. Und uns Lehrern geben sie genug Möglichkeit für eine Bestandsaufnahem und Überlegungen, wie und wo es weitergehen soll.

PICT0024Dennoch überlege ich, ob ich nicht auch beim „grossen“ Konzert ein Motto festlegen soll. Bisher gab es entweder kleinere Vorspiele mit einem bestimmten Hintergrund, oder ein Teil des Programms war einem bestimmten Komponisten gewidmet, der gerade ein Jubiläum hat. Aber vielleicht könnte man es auf einen ganzen Abend ausdehnen, an dem alle Altersstufen beteiligt sind. Norbert Schäfers „Zauberbuch“ (Ricordi), kurze Stücke nach Bildern von Paul Klee, sind mehr für die Unterstufe geeignet. Kombiniert mit Francaix‘ vierhändigen „Portraits d’enfants d’Auguste Renoir“ und eventuell Ausschnitten aus Mussorgskis „Bildern einer Ausstellung“ hätte man einen ganzen Abend mit Stücken, die von Malerei inspiriert sind, und eventuell könnte man die Bilder während des Vortrags an die Wand projizieren.

Am einfachsten ist es ja, mit dem anzufangen, was ohnehin schon da ist und nicht das Rad neu zu erfinden. Ein kleines Brainstorming beim Autofahren, ob es bestimmte Elemente gibt, die mir im Unterrichtsalltag immer begegnen, ergab: Tänze, Präludien, Abend- und Schlaflieder sind unser täglich Brot. Daraus liessen sich leicht verschiedene Abende  gestalten, an denen vom kleinsten Anfänger bis zu den ganz Grossen jeder was Ansprechendes spielen könnte (obwohl: ein Abend lang nur Präludien – ob man sich nicht nach einer Hauptspeise danach sehnt?) Oder nur Etüden – das wäre mal ausgefallen, diese Mittel zum Zweck ins Rampenlicht zu stellen. Mit den vielen kurzen, richtig nett klingenden Etüden aus der „Russischen Klavierschule“ könnten auch die Jüngsten wieder dabei sein, und dann böte das 19. Jahrhundert einen uferlosen Tummelplatz für die anderen: Burgmüller und Heller natürlich, die „Studie“ aus dem „Album für die Jugend“, eventuell sogar ein wirklich flott und konzertant gespielter Czerny… Die Möglichkeiten wären grenzenlos!

DSCF6329Seltsamerweise wäre ein Abend mit Literatur, die explizit „für Kinder“ oder ähnliches im Titel hat, viel heikler in der Ausführung. Die „Kinderszenen“, „Children’s Corner“, Bizet’s „Jeux d’enfants“, Prokofieff’s „Musique d’enfants“ und Ähnliches sind für Kinder zu schwer. Und ist man erst mal im Übergang vom Kind zum Erwachsenen, wehrt man sich mit Händen und Füssen gegen Titel, die implizieren, dass man jünger ist, als man sein will. Aber die tatsächliche pädagogische Literatur liesse sich gut verwerten, vielleicht geordnet nach nationalen Schulen. Das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, Leopold Mozart und Schumann zeigen den grossen Reichtum der speziell für eigene Kinder geschriebenen Literatur. In Frankreich wird es etwas schwieriger – ich habe das Gefühl, die Zeit zwischen 1750 und 1950 ist ein schwarzes Loch, was wirklich leicht spielbare Literatur betrifft, aber ich lasse mich gern eines Besseren belehren! Trotzdem könnte man wunderbar ursprünglich fürs Cembalo gedacht Stücke von Daquin, Dandrieu, Couperin und  Rameau mit Stücken aus der Hervé/ Pouillard-Klavierschule kombinieren, und dann gibt es einen wahren Schatz an vierhändiger Literatur: neben den erwähnten Werken von Bizet und Francaix natürlich Debussy und das wunderbare „Ma mère l’oye“ von Ravel.

DSCF6416Aber mein nächstes Vorspiel wird ein russischer Abend, denn mir ist aufgefallen, dass wir nicht nur dauernd Präludien und Menuette spielen, sondern ständig und allgegenwärtig russische Literatur. Und dass es ganz erstaunlich und ziemlich einzigartig ist, welche Bandbreite von Stücken es für jedes Alter gibt und was für wunderbare Literatur ausdrücklich für Unterrichtszwecke geschrieben wurde. Hier ist das schwarze Loch die Zeit des Barock und der Klassik, aber danach gibt es eine Fülle, dass man sich vorkommt wie im Schlaraffenland und schon aus Zeitgründen gar nichts anderes mehr unterbringen könnte. Für die Jüngeren die Russische Klavierschule und haufenweise Kabalewski. Der ist auch noch in der Mittelstufe sehr beliebt, ebenso Khatchaturian. Für die Älteren gäbe es Tschaikowskys „Jahreszeiten“ und das mal wieder irreführend nicht so leichte „Kinderalbum“, noch mehr Khatchaturian und eine wunderbare Neuentdeckung für mich, die ich jetzt zum ersten Mal unterrichten will: die „Bagatellen“ op. 5 von Alexander Tcherepnin.

Und – so ein Themenabend verlangt doch nach einem passenden Buffet, oder?

Kreatives Blattspielen…

Was passiert, wenn man zwei kleine Freundinnen, die erfahrungsgemäss schon immer zehn Minuten vor der Stunde da sind, mit einem leichten Klavierheft und der Auflage, dass jede ein Stück raussucht, vom Blatt spielt und mir später vorspielt, in ein Übezimmer schickt? Sie kommen wieder, quetschen sich wie selbstverständlich zu zweit auf den Klavierstuhl und spielen genau so selbstverständlich das Stück zu zweit – jede eine andere Hand. Ich habe erst den Impuls, gleich einzuschreiten, schaffe es aber glücklicherweise, ruhig zu sein und werde damit belohnt, dass sich vor meinen Ohren eine mustergültige, mit Spass gespielte Ensembleleistung entfaltet. Ich bin aufrichtig gerührt, dass es den beiden gar nicht in den Sinn kommen würde, sozusagen gegeneinander zu spielen, indem jede allein ein Stück raussucht, und ich ertappe mich dabei, dass ich anfange, selig zu grinsen wegen dieses völlig selbstverständlichen weiblichen Gleichklangs – bis eine rauskommt und die andere ungeduldig raunzt: „Mensch, spiel mal gescheid!“, was natürlich sofort in ein Kichern übergeht… Nachdem sie ihre Stücke wirklich gut präsentiert haben, sage ich, dass es eigentlich so gemeint war, dass jede ein Stück allein spielt. Sie schauen mich gross an und eine fragt: „Warum?“

Ich merke erstens: hier ist mein nächstes Klavierduo… und zweitens bin ich schon wieder gerührt, wie unverdorben von der Welt, vom Wettbewerbsgedanken, wie unschuldig und sozial eingestellt sie noch sind, obwohl sie schon sechs Jahre in diesem seltsamen System Schule stecken. Ich kann nur hoffen, dass sie sich dieses Bewusstsein bewahren: dass Zusammenmachen und zusammen lernen schöner und lohnender ist, als gegeneinander anzutreten. Die Chancen stehen gut, denn als ich abschliessend bemerke: „Ihr seid echte Freundinnen, oder?“ bejahen sie es grinsend,  versuchen gleichzeitig, ihre Arme unterzuhaken und kippen dabei fast vom Klavierstuhl. Alles bestens also.

Kleine Häppchen

Wie sich die Zeiten ändern. Ich wäre in der Schule nie auf die Idee gekommen, nachmittags Lehrer, die ich gar nicht kenne, um Hilfe zu bitten. Anscheinend hat sich rumgesprochen, dass ich meinen fünf Sechstklässlern, die noch ganz unter dem Eindruck ihrer Lateinstunde zu mir kommen, gelegentlich bei den Hausaufgaben helfe – und sei es nur, um sie endlich vom Flurboden („Gleich, gleich, nur noch einen Satz!“), wo sie auf ihre Klavierstunde warten, hoch und in mein Zimmer zu bekommen.

Und dann gibt es Kinder, die mich im Musiktrakt ganz selbstbewusst ansprechen: „Sind Sie die Klavierlehrerin, die Latein kann? Können Sie mal den Satz übersetzen?“ Da brauch ich schon ein bisschen, um mein Kinn wieder hochzuklappen… Und während ich mit wildfremden Kindern abstruse Sätze im Lateinbuch aufdrösele – wer glaubt im Ernst, dass sich Elfjährige für Nymphen, die in Liebe entbrennen, interessieren?! -, merke ich, dass ich im Klavierunterricht auch nichts anderes mache. Man teilt einen unüberwindlich erscheinenden Berg in kleine Etappen ein und zeigt dem Schüler, wie er ihn in vielen kleinen Schritten doch erklimmen kann. Im Grossen ist das auf Monate oder Jahre angelegt, im Kleinen, mit entsprechend kleineren Schritten, für die Dauer einer Klavierstunde. Unsere wichtigste Aufgabe als Lehrende ist nicht ein möglichst breites Fachwissen oder die solide praktische Beherrschung unseres Fachgebiets, sondern die Fähigkeit, dieses Wissen für den jeweiligen Schüler in einer Art aufzuteilen, dass er mitkommt und möglichst bald selber weiss, wie er vorgehen muss. Dieses Zerlegen in Happen oder kleinste Häppchen, die für jeden anders aussehen müssen, das Aufspalten in immer noch kleinere Schritte oder nötigenfalls noch mal völlig andere Zwischenschritte, um über Umwege wieder zum Eigentlichen zu finden – das ist es eigentlich, was Unterrichten ausmacht. Und was den Erfolg oder Misserfolg ausmacht. Und im schlimmsten Fall dazu führen kann, dass jemand das Handtuch wirft, weil er nur Bahnhof versteht.

Wie sehr man den Stoff zerlegt, hängt vom einzelnen Schüler ab. Es gibt solche, denen legt man das neue Stück vor die Nase und sagt: spiel mal die ersten acht Takte mit beiden Händen. Bei anderen ist es nötig, sich langsamer bis viel langsamer heranzupirschen: von „spiel mal die rechte Hand“ über „welche Vorzeichen und welche Taktart haben wir?“ bis zu „was könnte der Titel bedeuten? Wie könnte so ein Stück klingen?“ gibt es mindestens so viele Möglichkeiten, ein Stück zu zerlegen, wie es Schülerpersönlichkeiten gibt. Natürlich dauern diese Vorgehensweisen unterschiedlich lange und damit auch die Zeit, bis man ein neues Stück einstudiert hat. Aber das Ziel sollte ja nicht die Anzahl von Stücken sein, die man in einem Schuljahr gelernt hat, sondern das Erwerben einer soliden Arbeitshaltung, die es einem irgendwann ermöglicht, ohne Anleitung neue Stücke zu lernen. Wir lernen praktisch das Lernen.

Und das Wichtigste, mein wirklicher Erfolg als Lehrerin, ist für mich, dass niemand hier rausgeht und sagt: ich hab das nicht verstanden, können Sie den Satz für mich übersetzen/ die Sonate für mich spielen? (Das soll kein Seitenhieb sein auf eventuelle Lateinlehrer – im Gegenteil, ich habe grössten Respekt vor jedem, der sich vor dreissig Kinder stellt, es schafft, sie in Schach zu halten und ihnen noch Fachwissen beibringt.) Sondern, dass die Kinder wissen, wie sie zuhause anfangen sollen und dass sie im besten Fall sogar Freude am Entstehungsprozess haben, an dem sich-schrittweise-Anpirschen an eine tolles neues Stück, am Bewusstsein: ich kann das selber und kann es in Zukunft auch bei anderen Stücken so machen.

Sehnsüchte

(Quelle) Die erstaunlich hohe Zahl an Erwachsenen, die um den Jahreswechsel herum wegen Klavierstunden angerufen haben, zeigt mit wieder, dass es mehr im Leben geben sollte als „nur“ materielle Sicherheit, ein Dach über dem Kopf und keinen Hunger. Ist man in der privilegierten Lage, dass all diese Bedürfnisse mehr als zufriedenstellend gestillt sind, wie das bei uns allen ja der Fall ist, macht sich der Hunger nach geistiger und seelischer Nahrung bemerkbar. Diese Gewissheit: es muss doch mehr geben im Leben als seinen Alltag in allen Facetten ordentlich zu leben. Es muss doch noch was Dauerhafteres dahinter geben, etwas, das über uns und unser kleines Leben hinausgeht.

Und bei allen Interessenten hatte ich das Gefühl, dass der Wunsch nach Klavierunterricht nicht nur dem Bedürfnis nach Ausgleich oder geistiger Anregung entspringt, sondern direkt eine Sehnsucht nach etwas Schönerem, Besserem ist. In manchen  Fällen eine diffuse, aber dennoch starke Sehnsucht, in anderen Fällen die Sehnsucht, das, was man in früheren Klavierstunden schon erlebt hat, wieder aufzugreifen und darauf aufzubauen. Auf jeden Fall schien mir der Wunsch, wieder Klavier zu spielen, viel emotionaler gefärbt als das bei Kindern der Fall ist.

Und ich denke mir: man kommt irgendwann in der Lebensmitte an diesen Punkt, an dem man feststellt, dass das, wofür man früher gebrannt hat, verschüttet ist und aus Zeitmangel nicht mehr beachtet wird. Im Idealfall kann man sich während des Studiums voll und ganz in das werfen, was einem wichtig ist. In den zehn, fünfzehn Jahren, nachdem man diese Insel der Seligen verlassen hat, versucht man, sein Leben in den Griff zu bekommen. Wohnen, Rente, Steuern, Autoreparaturen und ähnlich Aufregendes halten einen auf Trab. Und irgendwann, wenn man einiges erreicht hat und eigentlich zufrieden sein könnte, merkt man: es kostet unglaublich viel Energie, für das alles aufzukommen, man ist erschöpft und fragt sich, ob das alles im Leben sein kann. Früher, da wollte man doch mal… Und man überlegt, warum man seine Sehnsüchte nicht besser gepflegt hat. Warum man manche so weit hinten im Unterbewusstsein abgelegt hat, dass man sich nicht mal mehr daran erinnert.

Passend dazu fand ich die obige Abbildung, die mich sofort angesprochen hat. Mir gefällt auch das englische „to attend“: sich um etwas kümmern, etwas pflegen – so, wie man regelmässig seinen Garten pflegen muss, weil er sonst überwuchert wird von Alltagsnichtigkeiten, unschönen Banalitäten, unerwünschten Auswüchsen, die einen das Schöne gar nicht mehr sehen lassen. Und macht man es nicht regelmässig, kommt irgendwann der Moment, in dem nur noch die Machete und ein ganz radikaler Entschluss hilft: jetzt oder nie!

Passend zum Jahresbeginn habe ich mir vorgenommen, dieses Jahr meinen Sehnsüchten Raum zu geben, den grossen und den kleinen, den erfüllbaren und denen, die Luftschlösser bleiben werden. Mein Neujahrsvorsatz letztes Jahr – weniger Bücher zu kaufen – war ganz praktisch und ganz leicht erklärbar. Dieser jetzt klingt eher esoterisch, und manchen Leuten würde ich ihn gar nicht mitteilen wollen. Aber irgendwie ist es ja mein Beruf, Sehnsüchte zu erzeugen oder anderen bei der Erfüllung ihrer Sehnsüchte zu helfen. Und ein bisschen Luftschloss bauen kann einem doch auch den Alltag versüssen, oder? Und helfen, wieder zu wissen, wer man eigentlich ist. Was man braucht, um in jeder Hinsicht ein erfülltes und buntes Leben zu leben. Wir haben nur das eine. Und wir haben die Wahl, ob es grau und korrekt abläuft, oder ob wir uns dann und wann erlauben, auch eine unerwartete und wunderschöne Wendung zuzulassen.

An der langen Leine

Die endlosen ruhigen Sommerwochen waren ideal, um mich durch meinen Stapel an alten und aktuellen Fachzeitschriften und zwei Neuanschaffungen im Bücherregal zu lesen[1].
Wie jeden Sommer kristallisierte sich ein grobes Motto fürs nächste Unterrichtsjahr heraus. Letztes Jahr war es Ensemblespiel, vier- oder sechshändig, einmal lag der Schwerpunkt auf vielen über’s Jahr verteilten Theorieeinheiten, im Schumann-Jahr war es… nun ja, viel Schumann. Diese Ideen versuche ich, irgendwann im Jahr in den Unterricht einzubauen – entweder als intensiven Block oder in kleinen Häppchen während der folgenden Monate. Und es soll jedes Jahr ein neuer, möglichst noch nicht dagewesener Aspekt sein. Dabei denke ich an meine seelische Gesundheit mindestens genau so wie an die umfassende und möglichst vielgestaltige Ausbildung meiner Schülerschar.

Für das neue Schuljahr habe ich eine für mich revolutionäre Idee, vor der ich selber noch ein bisschen Angst habe und mir nicht sicher bin, wie konsequent ich sie anwenden werde: was wäre, wenn ich viel, viel weniger rede im Unterricht? (Angst habe ich, weil ich befürchte, ein Zurücknehmen meinerseits könnte als Passivität oder fehlendes Engagement gedeutet werden – nach dem Motto: nur noch stumm da sitzen, trotzdem Geld verlangen dafür…) Natürlich merke ich am Verhalten meiner eigenen Schülern, wenn meine Ausführungen zu wortlastig werden. Doch nachdem ich immer wieder gelesen habe, dass man als Lehrer wesentlich weniger sprechen könnte (auch im Hinblick darauf, seine eigene Stimme etwas zu schonen – das wäre ja auch nicht der schlechteste Grund!), frage ich mich, ob meine Schüler nicht davon profitieren würden, wenn ich sie durch dieses Verhalten zu mehr Eigenverantwortung anrege. Da ein grosser Teil meines Unterrichts ohnehin in Fragen stattfindet, sind es meine Schülern durchaus gewöhnt, selber zu Wort zu kommen. Doch meistens handelt es sich dabei um abrufbares Wissen, Fragen zu Form und Aufbau, dazu, wie man durch die Dynamik die Aussage des Stücks unterstützen kann, oder in welche Epoche man das Stück einordnen könnte und was sich zu dieser Zeit in der Welt tat – letztlich „Schulwissen“.

Aber was wäre, wenn ich meine beurteilende, verbessernde, ermunternde oder ermahnende Funktion, also genau mein Lehrerin-Sein, durch mehr Schweigen auf die Schülern übertrage? Ich frage sie jetzt schon, wie sie ihr Spiel beurteilen. Ob sie zufrieden waren mit der Darbietung gerade, ob es zuhause besser ging, welche Stelle weniger gelungen war, an was wir jetzt konkret üben wollen. Vielleicht kann ich  – nach einer entsprechenden Ankündigung, dass ich in dieser Stunde eher daneben sitzen und zuhören werde und sehen will, wie die Kinder sich selbst „unterrichten“ – diesen ganzen Fragenkatalog überspringen, indem ich durch entsprechende Blicke signalisiere, dass ich eine Äusserung erwarte? Gerade in der Musik läuft so vieles nonverbal ab, wie wir beim Ensemblespielen eindrucksvoll erleben konnten. Warum sollte man sich diese Gegebenheit nicht bewusst zunutze machen?

Anselm Ernst meint dazu: „Je mehr der Lehrer spricht, um so weniger Raum erhält der Schüler, sich ausführlich und zusammenhängend zu äussern. Je mehr der Lehrer erklärt und erläutert, um so weniger fühlt sich der Schüler motiviert, selber nachzudenken und sich Sachverhalte klar zu machen.“[2]

Natürlich bedeutet der Vorsatz, sich verbal weniger zu beteiligen, nicht, Vorzeichenfehler oder falsche Rhythmen unkorrigiert stehen zu lassen oder sich generell zurückzulehnen. Ganz im Gegenteil: ich werde wahrscheinlich gespannter auf meinem Stuhl sitzen, weil ich gleichzeitig den besten Weg für den jeweiligen Schüler auf seiner jeweiligen Entwicklungsstufe finden will, mich aber auch zurücknehmen will und mir sicher mehr als ein Mal auf die Zunge beissen werde. Die Kunst wird es sein, die Schüler bewusst, aber unmerklich doch zu leiten. In der Hoffnung, dass sie es auch zuhause schaffen, ihr Üben genau so differenziert und geduldig zu kommentieren und zu  hinterfragen. Und im Idealfall nicht nur ihr Klavierüben, sondern ihr ganzes Lernen. Wie viel Zeit lässt sich nicht sparen mit der richtigen Strategie! Und wo könnte man es den Kindern besser beibringen als im luxuriösen Einzelunterricht!

Der verbale Input im Unterricht wäre nur ein Aspekt auf dem Weg zu mehr Eigeninitiative. Wahrscheinlich bin ich nicht die einzige, die feststellen durfte, dass die Eintragungen im Hausaufgabenheft nicht gelesen wurden. Vielleicht liegt es an der Tatsache, dass die Schüler meine Schrift nicht lesen können oder auch daran, dass sie denken, das sei ohnehin „mein“ Heft, für meine eigene Gedankenstütze sozusagen, weil nur ich es dauernd zur Hand nehme und darin schreibe. Also: Klavierdeckel zu, Aufgabenheft darauf und die Schüler mit meinen Stiften selber schreiben lassen, was diese Woche geübt wird. Auch wenn’s drei Mal so lang dauert.

Mit meinen älteren Schülern lege ich irgendwann eine Tabelle mit den verschiedenen Epochen an. Lernen wir ein Stück eines bis dahin unbekannten Komponisten, überlegen wir zusammen, welcher Zeit er zuzuordnen ist und tragen ihn ein. Dieses Jahr wird das Hausaufgabe sein – und damit ich sehe, dass der Eintrag nicht nur das Ergebnis einer kurzen Internetrecherche ist, dürfen es zu ausgewählten und für unser Instrument wichtigen Komponisten gern ein paar Daten mehr sein. Je nach Alter vielleicht mit ein bisschen Unterstützung, etwa fünf Fakten (vom Schüler selber notiert im Unterricht!) in der Art: wann hat der Komponist angefangen, Klavier zu spielen? Ist er selber aufgetreten? Und gerne? Hat er auch für Schüler komponiert? Hat er sich je von seinem Geburtsort entfernt (und wenn ja, mit welchen Verkehrsmitteln?) Ich denke, auf diese Weise und in Eigeninitiative
gelernte Inhalte werden ganz anders im Gedächtnis haften, als wenn die Lehrerin einen Bildband aus dem Regal zieht und man kurz ein paar Bilder des Komponisten betrachtet und über biographische Details spricht.

Eine andere Möglichkeit, Schüler den Unterricht mehr mitgestalten zu lassen, wäre die Auswahl der Hörbeispiele. Manchmal schicke ich meinen Schülern Mails mit einschlägigen Links zu einer besonders stimmigen Interpretation eines Stücks. Eigentlich könnte ich auch hier den Spiess umdrehen und meine Schüler bitten, mir eine kleine Liste mit Aufnahmen zu schicken – möglichst noch kommentiert und begründet, warum sie sich für diese entschieden haben. Das könnte auch Anlass für interessante Diskussionen sein.

Mal sehen, wie meine zusätzlichen Hausaufgaben ankommen – ob sie bei den ohnehin überlasteten Schülern eher Verdruss hervorrufen oder vielleicht sogar Spass machen? Mir
werden sie auf jeden Fall auf vielfältige Weise zeigen, wie weit meine Schüler tatsächlich schon sind. Wie ausgeprägt ihr Urteilsvermögen ist, wie sie Informationen filtern, auf welche Art sie tatsächlich üben, einfach generell: wie sie lernen. So eine kleine Zwischenbilanz tut beiden Seiten gut und gibt uns die Möglichkeit, auf partnerschaftliche Weise manche Bereiche noch besser auszubauen. Immer mit dem Ziel vor Augen, dass man als Lehrer eher früher als später überflüssig sein sollte. Dass die Schüler möglichst bald ihre Schwimmflügelchen ablegen können und selber spielen, denken, sich Fragen beantworten können, wissen, wo und wie sie nachschlagen können – kurzum, unabhängig von Hilfestellungen werden.


[1] C. Watkins/ L. Scott, From the
Stage to the Studio, Oxford University Press 2012

Elke Gallenmüller, Praktisch
didaktisch, Holzschuh Verlag 2006

[2] Anselm
Ernst, Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht, Schott 1999, S. 72

veröffentlicht in Pianonews 1/ 2014

Erkenntnisse fürs nächste Sommerkonzert

(Für eventuell mitlesende KollegInnen – weil man doch nie auslernt…)

Man kann Häppchen für 50 Personen vorbereiten, Getränke kaufen, Gläser in Wäschekörbe packen und hin- und herschleppen und noch selber einschenken – aber man muss nicht. Ältere Schülerinnen und Eltern hatten offensichtlich Freude daran, sich kulinarisch einzubringen, und das Buffett bot eine bunte Vielfalt, wie ich sie selber nie hingebracht hätte.

Das Photographieren lässt sich ebenfalls wunderbar delegieren – warum kommt man so spät drauf?

Eigentlich will ich jedes Jahr eine Hauptprobe machen, um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken und damit jeder unaufgeregt die anderen Stücke anhören kann. Es scheitert regelmässig an den übervollen Terminplänen der Kinder und der Tatsache, dass viele chauffiert werden müssen. Doch ich habe wieder festgestellt: eine konzentrierte Einspielprobe vor dem Konzert, bei der ich noch mal eindringlich ans Verbeugen erinnere, und ein guter Blickkontakt zu den Kindern während des Konzerts garantiert einen reibungslosen Ablauf.

Während der Einspielprobe: Stift und Programm in die Hand und abhaken, wer schon da ist. Und schon ist es vorbei mit dem fieberhaften fünfmaligen Nachzählen, ob noch wer fehlt…

Der Umstand, in einem  richtig tollen Konzertsaal wie für Erwachsene spielen zu dürfen, setzte bei allen ungeahnte Kräfte frei: selten hab ich meine SchülerInnen so ernsthaft bemüht und so versunken in die Musik erlebt. Man benimmt und bewegt sich unwillkürlich anders und lernt auch dadurch.

Allzu ambitionierte Konzertprojekte, hochtrabende Mottos, die am Schluss in Stress ausarten, bringen keinen von uns weiter. Diesmal liess ich denSchülerInnen ziemlich freie Hand bei der Stückauswahl – schliesslich müssen sie damit leben. Das Klinikum wollte einen kurzen Text für den Jahresplan, und nach drei Sekunden Überlegen schrieb ich: „wir lassen die Tasten tanzen“ – ein Motto, unter dem man entspannt alles mögliche zusammenfassen kann… Und so gab es Bach und Boogie, Chopin und Tiersen, Moszkowski und Einaudi. Dem Applaus nach zu urteilen zur Freude des Publikums…

Wir haben ein schönes Leben! Ist es nicht toll, dass wir die Möglichkeit haben, jeden Tag, jede Stunde den Lauf der Welt ein bisschen in eine positive Richtung zu lenken? Kinder sind die Zukunft, und als KlavierlehrerInnen  haben wir die Möglichkeit, das, was uns wichtig ist, weiterleben zu lassen. Manchmal vergisst man im Alltag, was der wirkliche Lohn für unsere Mühen ist.

Sommerkonzert 2013

Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, in dieser neuen Stadt jedes Jahr einen neuen attraktiven Ort für unser Sommerkonzert auszuwählen. Vor zwei Jahren genossen wir einen romantischen Abend mit fast südfranzösischem Flair in einem gelben Schlösschen. Letztes Jahr spielten wir, hervorragend bewirtet, in der Schrannne in Wasserburgs historischem Rathaus. Doch dieses Jahr war alles dermassen perfekt, dass ich fast denke, wir sind am Ziel unserer Träume angelangt. Abwechslung ist schön und gut, aber ein hervorragender Flügel, eine richtige Bühne und eine perfekte Organisation im Hintergrund sprechen für sich. Vielleicht sollten wir uns um Variationen im Programm und beim Buffett kümmern und den Rest einfach so vollkommen lassen, wie er diesmal war?

Der Festsaal des Inn-Salzach-Klinikums ist einer der besten Konzertsäle hier, in dem auch regelmässig der Wasserburger Klaviersommer stattfindet. Es war vielleicht etwas vermessen, sich hier mit KlavierschülerInnen einzunisten, aber wo sollen sie es sonst lernen? Und das Klinikum ist absolut aufgeschlossen und entgegenkommend, nimmt einem auf wunderbare Weise sogar die ganze Werbung und den Getränkeausschank ab. Und macht mir meinen Vorsatz, in Zukunft mehr zu delegieren, einfacher…

Die Konzerte sind natürlich auch für die Patienten gedacht – für uns eine wunderbare Art, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Wie ich hörte, können Sonntagnachmittage in der Klinik, wenn keine Therapien sind, sehr lang werden. Und wir waren dankbar für ein so zahlreiches und enthusiastisches Publikum. Nach dem ersten Schock, ehrlich gesagt… Als ich nach unserer Einspielprobe die Tür zum Foyer öffnete und Stimmenraunen und Massen an unbekannten Erwachsenen wahrnahm, dachte ich erst, ich sei im falschen Film, wie sich meine Schüler ausdrücken. Ich hatte mit 40 Zuhörern, also Eltern und Grosseltern, gerechnet. Entsprechend viele Stühle waren aufgebaut. Wir brauchten noch mal so viele und trotzdem sassen manche Leute auf dem Boden oder den Fensterbrettern. Ein anderer Schock war, dass manche dachten, ich würde selber spielen, obwohl das Ereignis klar als Schülerkonzert deklariert war… Aber dann fiel mein Blick aufs Büffett, auf dem ich eine Stunde vorher meine Muffins abgestellt hatte. Auf wundersame Weise hatten sie sich auf der Sommertischdecke vermehrt, wunderhübsch verziert mit Lavendelblüten oder Thymianzweigchen und herrlichen roten Gartenrosen, und diese üppige Fülle, dieses sichtbare Engagement der Eltern beruhigte mich und liess mich spüren: alles wird gut.

Und das wurde es auch! Auch wenn die Programme bei weitem nicht reichten und ich die versprochenen Ankündigungen im Eifer des Gefechts manchmal vergass, wusste doch jeder, wann er dran war. Und ich konnte mich zurücklehnen. Wie immer, glücklicherweise. Ich kann in der Vorbereitung penibel sein und meinen Schülern Wochen vorher schon auf die Pelle rücken – dafür läuft dann am grossen Tag alles wie am Schnürchen. Und ich wusste: wenn ich eine ältere Schülerin bitten würde, drauf zu achten, dass jeder weiss, wann er dran ist, könnte ich rausgehen und das Konzert würde von selber seinen Lauf nehmen. Und ich könnte mich drauf verlassen, dass jeder sein Bestes gibt und sich danach auch ordentlich verbeugt.

Überhaupt, diese ungewohnt professionelle Konzertatmosphäre und der laute und anhaltende Applaus holten aus jedem Schüler noch mal mehr raus. Es wurden Kräfte mobilisiert, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Und jeder spielte so ernsthaft und mit so viel Liebe zur Musik, dass ich einfach glücklich war. Es gibt ja durchaus im Alltag Unterrichtsstunden, bei denen man nicht weiss, ob man gleich den Vorschlag machen soll, die Sache zu beenden, oder noch mal drüber schlafen… Oder Winterwochen, in denen sich alles furchtbar hinzieht und sich nichts mehr zu bewegen scheint. Und dann sieht man auf einmal seine kleine Truppe mit etwas Abstand und merkt: jeder hat sich doch sehr entwickelt in dem Jahr, und jeder weiss, wie er sich auf der Bühne zu verhalten hat, und vor allem: jeder kann auf seinem jeweiligen Niveau ordentlich Klavier spielen. Unwillkürlich kam mir ein seltsames Bild: ich fühlte mich wie eine Grünlilie mit vielen Ablegern. Manche noch ganz zart und klein, manche schon zum Abfallen fertig mit perfekt entwickelten Wurzeln. Es ist einfach schön, sich und seine Werte in seinen SchülerInnen weiterleben zu sehen.

Und auch zu sehen, wie gern sie Musik machen: die zwei Ältesten unterhielten uns beim Umtrunk unaufgefordert und völlig frei mit einer halben Stunde Musik, schnappten sich dann ein Vierhändigheft von mir und legten los mit Boogies… Nach dem Motto: nach dem Konzert ist vor dem Konzert. Und so wird es auch in den letzten Schulwochen weitergehen!

Hin- und hergerissen

Die Anfrage eines Kollegen, ob ich ihn beim Marimba-Konzert von Paul Creston begleite, war eine willkommene Abwechslung. Ein mir unbekanntes Werk des 20. Jahrhunderts? Rhythmisch kompliziert? Ein anspruchsvoller Klavierauszug, der meinen Kopf wieder ein bisschen auf Trab bringt und mich überlegen lässt, wie ich meine Finger daran hindere, sich komplett zu verknoten? Ein Instrument, das ich noch nie begleitet habe? Her damit! Meine Bereitschaft, mich kopfüber in was Unbekanntes zu stürzen, auch wenn viel Arbeit damit verbunden ist, zeigt mir, dass ich im Alltag klaviermässig doch oft unterfordert bin beziehungsweise mich zu gemächlich in den immer gleichen Bahnen bewege. Und so wurde erst mal gelesen und Vorzeichen abgeklärt, geübt, im Netz recherchiert über diesen Komponisten und das Werk speziell, eine schöne Aufnahme angehört mit diesem erstaunlichen Instrument, das dem meinen so ähnlich ist und doch so anders – kurz, der Horizont wurde auf angenehme Weise wieder ein bisschen erweitert, die Gedanken in eine andere, unbekannte Richtung geleitet.

Aber – selbst wenn es einen Konzerttermin gibt und man seine Zeit am Klavier klug einteilen sollte – was passiert, wenn man sich abends, nach einem Gartenrundgang, einem vorsichtigen Blick ins Amselnest, einem hoffnungsvollen auf die kurz vor dem Aufgehen stehenden Pfingstrosen, in entspannter Stimmung noch mal kurz ans Klavier setzt? Statt der geplanten, für den Lernprozess wichtigen nochmaligen Wiederholung des tagsüber Geübten suchen sich die Finger spontan die B-Dur-Partita, und statt Creston lernen die Amseljungen vor dem Fenster Bach kennen… Und ich fühle mich wohl so und spüre, dass meine Finger und mein Kopf jetzt genau diese Abwechslung brauchen. Was Neues ist gut und schön, aber was Vertrautes ist manchmal genau so wichtig. Um auch beim Neuen wieder weiter zu kommen, andere Aspekte und Querverbindungen zu sehen, Lust auf das genau Entgegengesetzte zu bekommen…

Diese Tendenz, Bekanntes und Unbekanntes zu kombinieren, bemerke ich auch in anderen Bereichen meines Lebens. Da wartet das neue Bibliotheksbuch auf dem Nachtkästchen, aber man will im vertrauten, gefühlte hundert Mal gelesenen Werk kurz eine Passage nachgucken – und beim Lichtausmachen nach einer Stunde legt man die Brille auf das ungeöffnet gebliebene neue Buch und ist wieder begeistert und beglückt vom schon so oft gelesenen. Oder beim Spazieren – es gibt Tage, da hangele ich mich auf abenteuerliche Weise über Wiesen und Innhänge, die ich noch nie betreten habe, und suche mit Absicht einen noch unbekannteren Umweg. An anderen brauche ich es, meine ganz gewohnten Wege in aller Gelassenheit zu gehen, meine (vermeintlich) vertrauten üblichen Fischreiher oder Biber zu sehen.

Die Lust auf Neues zeigt, dass man noch lebendig ist. Der Wunsch auf Wiederholung von Vertrautem, dass man immer wieder eine Bestätigung dessen braucht, was einen ausmacht. Und je mehr Neues dazu kommt, desto mehr weitet sich die Persönlichkeit, desto reicher auf eine nicht-materielle Weise wird man. Ist nicht die Freiheit, wählen zu können, das Beste an diesem Pendeln zwischen zwei Polen?

Kostbare Stunden

Einer der ersten Sätze, die ich am Telefon von Interessenten gefragt werde, ist, wie viel eine Klavierstunde bei mir kostet. Ich frage mich hingegen im Alltag öfter, was eine Klavierstunde wert ist – sowohl für mich als auch für meine Schüler. Es gibt sie durchaus, die weniger glanzvollen Stunden, die eben stattfinden, weil es ausgemacht war. Und dann gibt es Stunden, die für beide Seiten so wertvoll und wichtig sind, dass man sich gleich danach auf die nächste freut, auch wenn sie vielleicht etwas in der Ferne liegt: ich spreche von unregelmässigem und sporadischem Unterricht, ein Konzept, das ich bisher rigoros abgelehnt habe.

Wieder hat mir das Leben gezeigt, dass man seine Meinung durchaus ändern kann und das für alle Beteiligten nicht das Schlechteste sein muss… Dieser Sinneswandel kam bei mir durch meine immer länger werdende Warteliste zustande, die mir durchaus schlaflose Nächte bereitete, da die Interessenten nicht einfach warten, sondern immer wieder anrufen oder nette Mails schreiben – und immer so nett und so „bedürftig“, dass ich mich fast schlecht fühle, weil ich mich um dieses bestimmte Kind nicht auch noch kümmern kann. Und so entstand aus einer Überrumpelungsaktion heraus die Idee, es mit Unterricht nur in den Ferien zu versuchen – für ein zehnjähriges Mädchen. Für mich war es bewusst ein Versuch mit der Option, wieder aufzuhören, falls es sich als sinnlos erweisen sollte. Aber – es läuft grossartig. Die Kleine ist absolut wissbegierig und fleissig und kommt mit so einer konzentrierten Miene und einer Menge an konkreten Fragen, dass ich mir oft wünsche, meine regelmässigen Schüler würden sich auf diese gewissenhafte Weise vorbereiten. Bei ihr spielt vielleicht auch die Tatsache eine Rolle, dass sie eine halbe Stunde mit dem Auto gebracht werden muss. So ist die Klavierstunde ein besonderer und aufwendiger Termin, bei dem keine Minute vergeudet wird. Das läuft jetzt schon über ein halbes Jahr so: wir haben sehr intensive Stunden, sehen uns dann wochenlang nicht, knüpfen aber genau da an, wo wir aufgehört haben. Ich integriere sie auch in meine Schülervorspiele – einmal, um ihr das Gefühl zu geben, wirklich willkommen und „Teil des Ganzen“ zu sein, und dann natürlich, um einen zusätzlichen Übeanreiz zu schaffen und beim Einspielen noch mal etwas Zeit extra mit ihr zu verbringen.

Ein anderes, auch etwas unübliches Modell ergab sich, als eine ältere Schülerin dezent versuchte, eine Freundin von sich bei mir unterzubringen, indem sie vorgab, in den letzten beiden Jahren vor dem Abitur zu viel zu tun zu haben. Die beiden fragten, ob sie sich quasi einen Platz teilen können, indem jede nur alle zwei Wochen kommt. Nach ein paar Wochen stellte sich heraus, dass die Zeit – wie erwartet – hinten und vorn nicht reicht, da beide sehr gern und gut spielen. Ein Kammermusikprojekt war der Aufhänger, dass beide doch wöchentlich kamen. Was sich dann seltsamerweise doch problemlos realisieren liess… Ich bin froh und dankbar um meine neue Schülerin, aber es war ein klarer Fall von „Reinschmuggeln“. Hat man dann eine derart gute und interessierte Schülerin, schaut man auch nicht genau auf die Uhr und unterrichtet letztlich doch beide wie Vollzeitschüler. Also: entweder hart bleiben und die Stunde nicht ans Ende des Tages legen mit der Möglichkeit zu Überstunden, oder von Anfang an sehr aufpassen! Ansonsten ist diese Art des zweiwöchigen Unterrichts aber durchaus ein gangbarer Weg mit älteren Schülern, die interessiert sind und es gewohnt sind, eigenverantwortlich zu arbeiten. Ausserdem ist es eine Möglichkeit, mit langjährigen Schülern, die verständlicherweise vor dem Abitur weniger Zeit haben, noch ein Stück des Wegs gemeinsam zu gehen und sie in diesen Monaten noch bewusster als sonst ans eigenständige Üben und Nachdenken zu gewöhnen – in der Hoffnung, dass sie dann auch ohne Unterricht weiter spielen werden.

Und dann gibt es unweigerlich jeden Frühling ein oder zwei Anrufe von Abiturienten, die mit einem anderen Hauptfachinstrument Musik studieren wollen und die superschnelle, superintensive Vorbereitung für die Nebenfach-Aufnahmeprüfung brauchen. Manchmal ist es zum Haareraufen knapp, aber bisher war jede dieser Aktionen von Erfolg gekrönt und macht auch auf ihre Art unglaublich Spass. Natürlich ist man als Lehrer besonders gefordert: jeder bringt ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit. Einige spielen schon seit Jahren so gut Klavier, dass man von vornherein spürt, dass die gemeinsame Zeit ein Spaziergang wird. Häufiger ist die andere Sorte, die in kürzester Zeit einen extrem effizienten Unterricht verlangt. Hier braucht man ein sinnvolles, intensives Technikprogramm, das sich an den Vorkenntnissen orientiert und das Vorhandene trotzdem noch weiterentwickelt. Und egal, was für tolle Musiker das schon sind, wie erfahren und routiniert sie mit ihrem Hauptinstrument schon auftreten – ich lasse sie jede Stunde gnadenlos ihre ganz elementaren Übungen vorspielen. Indem ich zeige, wie viel Wert ich darauf lege, bekommt dieser Teil des Übens auch bei den Schülern einen anderen Stellenwert. Und spätestens, wenn sich nach drei, vier Wochen die ersten positiven Veränderungen in der Feinmotorik zeigen, muss ich keine Überzeugungsarbeit mehr leisten.

Bei Nebenfachleuten, die eher Anfänger auf dem Klavier sind, ist es sinnvoll, die Stücke für die Aufnahmeprüfung möglichst früh und möglichst überlegt auszuwählen. Die Anforderungen halten sich ja im Rahmen und lassen einem auch einen gewissen Gestaltungsspielraum, und so kann man je nach Interesse und Können für jeden passende Stücke finden. Selbst wenn sie am Anfang nur mit jeder Hand einzeln bewältigt werden können, ist es gut, parallel zu leichteren Stücken und dem Technikprogramm schon damit zu beginnen. Gut ist auch ein (eventuell schriftlicher) Countdown in Wochen, damit sowohl für den Schüler wie den Lehrer klar ist, wann diese Stücke spätestens komplett beherrscht werden sollten. Mindestens einen Monat vor dem Termin sollte alles in den Fingern sein, damit es sich setzen und noch weiter entwickeln kann – bei der Sorglosigkeit, mit der manche Schüler das Nebenfachinstrument behandeln, kann man da schon in zeitliche Bedrängnis kommen…

Wahrscheinlich muss man es nicht betonen, aber: genau so wichtig wie ein intensiver und wohlüberlegter Unterricht ist es für solche Schüler, ihnen zwei, drei Auftrittsmöglichkeiten zu verschaffen. Möglichst auch nicht zu zeitnah an der Aufnahmeprüfung, damit man in Ruhe über die Erfahrung sprechen und eventuelle Verbesserungsvorschläge umsetzen kann. Auch wenn die Diskrepanz im Niveau der Stücke meistens beträchtlich ist, ermutige ich solche Schüler auch immer, ihr kurzes Klavierprogramm in Vorspielabenden ihres Hauptfachlehrers zu präsentieren – je öfter, desto besser.

Natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall: wenn Schüler von mir wirklich Hauptfach Klavier studieren wollen, ist es mir wichtig, dass sie parallel zu unserem Unterricht in den Monaten vor der Aufnahmeprüfung zusätzlich Unterricht bei einem Hochschullehrer nehmen und möglichst auch Vorspielabende oder Schnuppertage an der Hochschule besuchen, um sich selber besser einordnen zu können. Meistens findet der Unterricht ohnehin nur alle zwei Wochen statt und es gibt ja immer mehr als genug zu tun. Für die Schüler ist es interessant und spannend, plötzlich anders behandelt zu werden – nicht mehr mit Samthandschuhen und Nachsicht, wie sich das in einem jahrelangen Verhältnis, das zum Teil seit Kindesbeinen besteht, einschleichen kann. Und es schadet nicht, den Status als „Star“ der Schule oder der Klavierklasse zu hinterfragen. Es kann verstörend sein, doch die Einsicht, dass man nur einer von vielen ist und sich noch ganz schön anstrengen darf, um mithalten zu können, wirkt sich meistens sehr positiv auf die Arbeitshaltung aus. Was mich schmunzeln, aber ansonsten gelassen bleiben lässt, ist, wenn sie erzählen, dass dieser Lehrer ihnen genau die schlechten Angewohnheiten austreiben will, an denen ich seit Jahren dran bin. Manchmal sage ich nur: „Wirklich? Du? Weniger Pedal?“, und wir lachen. Die andere Autorität, die andere Ausdrucksweise helfen hier sehr, noch mehr aus dem Schüler heraus zu holen. Deshalb bin ich auch nur dankbar dafür und empfinde eine andere Sichtweise nicht als Einmischung, sondern als wichtige und nötige Vielfalt für den Schüler.

Welche Voraussetzungen sollten gegeben sein, damit die erwähnten Modelle des sporadischen Unterrichts Erfolg zeigen? Gerade wenn die Intervalle zwischen den Stunden grösser sind, sollte man sich als Lehrer optimal vorbereiten, um keine Minute zu verschwenden und immer alles schriftlich festhalten, damit man nahtlos dort weitermachen kann, wo man beim letzten Mal aufgehört hat. Die Literatur sollte den Anspruch erfüllen, gleichzeitig fordernd, aber auch allein zu bewältigen zu sein. Die anvisierten Ziele, wie weit man ein Stück einstudieren soll, dürfen gern etwas höher gegriffen sein, damit sich keine Gemütlichkeit breit macht. Wichtig ist auch das Angebot, immer in Kontakt zu bleiben – vielleicht treten doch unlösbare Fragen auf, und vieles lässt sich am Telefon klären oder schnell vorspielen, bevor der Schüler vielleicht zwei Wochen auf der Stelle tritt. Und: auch wenn die Schüler nicht Teil der regulären Klavierklasse sind, sollten sie genau so regelmässig auftreten wie die anderen, um Routine zu erlangen und von den Erfahrungen, die jeder Auftritt mit sich bringt, zu profitieren.

Und auch im übertragenen Sinn können wir von solchen gelegentlichen Stunden lernen: jede Begegnung mit unseren Mitmenschen sollte einen gewissen Stellenwert haben. Egal, ob es das erste Mal von vielen oder vielleicht das letzte oder einzige Mal ist – wir vergessen oft, wie kostbar und wertvoll zusammen verbrachte Zeit sein kann. Egal ob Unterrichtssituation oder richtiges Leben – etwas mehr von einer „carpe diem“ – Haltung würde uns allen nicht schaden.

Veröffentlicht in „Pianonews“ 4 /2013

Wurzeln

(Abbildungen: Staudengärtnerei Gräfin von Zeppelin)

Als im Herbst endlich das langersehnte Paket mit den besonderen alten Pfingstrosen kommt, kann ich es kaum erwarten, sie einzupflanzen. Am liebsten möchte ich gleich loslegen, doch es wird Jahre dauern, bis die Schönheiten mit verheissungsvollen Namen wie „Duchesse de Nemours“ oder „Mademoiselle Leonie Calot“ ihre ganze Pracht entfalten. So beschliesse ich, mir mit dem Pflanzen Zeit zu lassen, bis ich mich wirklich darum kümmern kann. Für zwei muss ich ein neues Beet anlegen, zwei kommen in bereits bestehende Beete. Überall grabe ich tief um, entferne Unkraut und obskure Wurzeln, mische die Erde, wie es empfohlen wird und füge Hornspäne dazu.

Als relativer Gartenneuling habe ich noch nie Pfingstrosenwurzeln gesehen und bin einigermassen erschrocken über ihre Unansehnlichkeit, als ich die Pakete öffne. Unwillkürlich denkt man: und für diese seltsamen Gebilde habe ich so viel Geld ausgegeben? Und das sollen wirklich üppige, duftende Blüten werden? Gleichzeitig spüre ich: wenn ich alles richtig mache und geduldig bin, muss es klappen. Es wird ein paar Jahre dauern, bis sie blühen, das stimmt – aber deswegen setze ich sie auch jetzt ein und nicht erst in fünf Jahren. Irgendwann werden wir und alle Spaziergänger, die am Zaun vorbeikommen, etwas davon haben. Und irgendwann, viel später, werden sie so gross und ausufernd sein, dass man sie getrost teilen und verschenken kann und sie ihre Schönheit und Anmut an einem anderen Ort verbreiten können.

Die unansehnlichen Wurzeln und die lange Wartezeit auf Ergebnisse erinnern mich daran, dass wir auch mit unseren Klavierschülern einen langen Atem brauchen und uns ständig auf unspektakuläre Weise darum kümmern müssen, dass sie Fuss fassen. Wie müssen für die besten Bedingungen und das passende Umfeld sorgen. So wie ich im Garten die Standorte sorgfältig auswähle und vorbereite und nichts überstürze, mache ich mit den kleinen Anfängern wochenlang vorbereitende Übungen. Wir singen, um ein Gefühl für Tonhöhen zu bekommen. Wir bewegen uns im Raum im Takt zur Musik, klatschen, entwickeln ein Bewusstsein für die Dauer der Töne. Wir beschäftigen uns am Klavier sitzend und auf dem Deckel spielend mit dem Spielapparat – wo sind die Arme aufgehängt? Wie fühlt sich ein gerader Rücken an? Wie eine runde Hand? Welcher Finger ist der dritte? Wir schreiben die ersten unförmigen Noten und versuchen, langsam, aber regelmässig mit dieser Art der Schrift vertraut zu werden.

Auch zuhause sollte das Umfeld stimmen. Im Idealfall ist ein akustisches Klavier vorhanden, möglichst in einem Raum, in dem man zu gewissen Zeiten ungestört vom restlichen Familienleben spielen kann. Ausreichende Beleuchtung und ein verstellbarer Stuhl sind mindestens so wichtig wie ein Elternteil, der ermuntert oder vielleicht sogar hilft. Eine angeblich nicht-musikalische Mutter erzählte, dass sie immer beim Üben mit einer Handarbeit dabeisitzt, ohne viel einzugreifen – allein ihre Präsenz und die Botschaft, dass jetzt Zeit für Musik ist, setzen ein Zeichen. Eine andere erzählte, was ich richtig nett finde, dass sie in den ersten Monaten das E-Piano in der Küche aufgestellt hatten und ihr Kind immer in der Zeit übte, in der sie das Abendessen vorbereitete. Kinder wollen und müssen sich mitteilen, und wenn  sie erst vom Klavierstuhl springen und in ein anderes Zimmer laufen müssen, um das zu tun, ist es schwer, danach wieder zurückzufinden.

Wenn Eltern regelmässig und viel Geld in den Unterricht investieren, ist es verständlich, dass sie Fortschritte sehen wollen. Genau so wie ich schockiert war über die wenig attraktiven, dicken schwarzen Wurzeln der Pfingstrosen, geht es wahrscheinlich Eltern, die monatelang nur Fünftonübungen und allereinfachste kleine Stückchen hören. Auch wenn es sich nur im Schneckentempo langsam netter anhört: es ist alles in Ordnung so!

Ich wäre eher skeptisch, wenn ein Kind zu früh ein eindrucksvolles Stück spielen kann. Ein Anfänger braucht eine gewisse Zeit, um die Materie auf allen Ebenen zu durchdringen und wirklich zu verstehen, was er tut. Alles andere ist hirnloser Drill, der irgendwann später zu einem Einbruch führt, wenn das Bewusstsein nachkommt. Jeder kennt die wohlmeinenden Eltern oder Grosseltern, die zusätzlich zur vorhandenen Klavierschule Noten anschaffen mit der Bitte, diese Stücke doch so bald wie möglich einzustudieren. In selteneren Fällen sind es auch die Kinder, die sich ein bestimmtes Stück in den Kopf gesetzt haben. Deshalb ist es wichtig, den Eltern vor Unterrichtsbeginn die eigene Vorgehensweise zu erklären und sie auch darauf vorzubereiten, dass gut Ding Weile haben will. Entgegen der allgemeinen Auffassung lässt sich der Fortschritt eines Schülers nicht an der Seite einer Klavierschule bemessen, an der er nach möglichst kurzer Zeit angelangt sein sollte. Man kann auch in sensationell kurzer Zeit durch ein Lehrwerk rasen, ohne klangschön oder rhythmisch stabil zu spielen. Später wird man die Zeit brauchen, um diese Defizite wieder auszugleichen, warum also nicht gleich richtig?

Das gleiche ist es mit den bei Lehrern sehr beliebten Vorübungen, Fünftonlagen, Tonleitern und irgendwann Etüden. Warum beharren wir wohl darauf und versuchen Woche für Woche wieder, Verständnis für die armen Dinger zu wecken? Sie klingen wirklich nicht immer schön, besonders, wenn sie mit verdrehten Augen begrüsst und mit wenig Enthusiasmus gespielt werden. Aber sie sind die fein verästelten Nebenzweige der dicken Wurzeln. Sie sind das, was den ganzen Organismus am Leben erhält, was ihm Kraft und die Möglichkeit gibt, wunderschöne Blüten auszubilden, die später jeden begeistern werden. Hat man jahrelang Czerny rauf und runter gespielt, klingen die Mozart-Sonaten danach einfach anders und müheloser. Und es ist auch wichtig, sich auf alle technischen Eventualitäten vorher vorzubereiten – man will ja nicht nur Spezialist für eine Sache oder einen Komponisten sein, sondern am besten einen Arm voll Blüten hervorbringen, der sich in die verschiedensten Richtungen neigt.

So wie die Pflanzen ein halbes Jahr im Dunkel unter der Erde verbringen werden, bevor ich überhaupt sehe, ob sie angewachsen sind, brauchen Kinder eine gewisse Zeit in einem geborgenen, ungestörten Zustand, um Wurzeln zu schlagen. Man sollte sie nicht zu früh ans Licht der Öffentlichkeit zerren. Vorspiele, zu denen jemand noch nicht bereit ist, oder gar Wettbewerbe, können desaströse Auswirkungen haben. Auch wenn der Schüler sehr begabt ist und man insgeheim stolz darauf ist, dass er dieses oder jenes Stück drei Jahre vor den anderen beherrscht – die persönliche Eitelkeit sollte unbedingt hinter den Bedürfnissen des Schülers zurückstehen.

Eine andere Art von Winterschlaf, der manchmal anscheinend notwendig ist, sind die immer wieder auftauchenden Durststrecken, bei denen man auf der Stelle zu treten scheint. Es ist unvermeidlich, dass es im Lernen Einbrüche gibt. Unabhängig von äusseren Umständen, die ein konsequentes Üben manchmal nicht zulassen, habe ich das Gefühl, Kinder merken, wann es für sie genug ist: genug an neuen Informationen, Bewegungen, Anforderungen, die erfüllt werden sollen. Manche Kinder igeln sich dann in sich ein. Was manchmal wie passiver Widerstand erscheint, ist in Wirklichkeit das Bedürfnis, das Gelernte in Ruhe zu verarbeiten. Genau so unerklärlich und plötzlich ist diese Phase irgendwann vorbei und die übliche Neugier kehrt zurück. Bei Lehrern und Eltern ist mal wieder Geduld gefragt: es nützt nichts, die Erde aufzubuddeln, um zu schauen, ob die Wurzeln schon kleine Knospen haben – im Gegenteil, dabei kann man viel verletzen und in der falschen Jahreszeit sogar das Wachstum für das ganze Jahr zerstören. Sinnvoller ist es, darauf zu vertrauen, dass sich grade viel in dem kleinen Kopf und Körper tut und diesen Vorgang zu unterstützen mit einer Art Konsolidierung: viel Wiederholung, Blattspielen von Stücken auf dem gleichen Niveau aus anderen Klavierschulen, Improvisieren, Aufschreiben von eigenen kleinen Kompositionen… Nach einigen Jahren erkennt man auch, ob so eine Phase ein nötiger Winterschlaf ist oder ein echtes Abfallen der Motivation – in diesem Fall würde man natürlich anders eingreifen.

Wir haben es in der Hand, für richtige Nahrung und Dünger in Form von seriösen, anspruchsvollen Klavierschulen und Originalliteratur und Anregung durch Konzertbesuche oder Aufnahmen zu sorgen. Manches müssen wir auch der Natur überlassen und darauf vertrauen, dass sie es selber schafft: aufs Wetter oder andere klimatische Bedingungen haben wir nur begrenzt Einfluss. Wenn die ganze Vorarbeit stimmt, dürfen wir trotzdem in ein paar Jahren auf wunderschöne Blüten hoffen.

veröffentlicht in „Pianonews“ 2 /2013