Wie sich die Zeiten ändern. Ich wäre in der Schule nie auf die Idee gekommen, nachmittags Lehrer, die ich gar nicht kenne, um Hilfe zu bitten. Anscheinend hat sich rumgesprochen, dass ich meinen fünf Sechstklässlern, die noch ganz unter dem Eindruck ihrer Lateinstunde zu mir kommen, gelegentlich bei den Hausaufgaben helfe – und sei es nur, um sie endlich vom Flurboden („Gleich, gleich, nur noch einen Satz!“), wo sie auf ihre Klavierstunde warten, hoch und in mein Zimmer zu bekommen.
Und dann gibt es Kinder, die mich im Musiktrakt ganz selbstbewusst ansprechen: „Sind Sie die Klavierlehrerin, die Latein kann? Können Sie mal den Satz übersetzen?“ Da brauch ich schon ein bisschen, um mein Kinn wieder hochzuklappen… Und während ich mit wildfremden Kindern abstruse Sätze im Lateinbuch aufdrösele – wer glaubt im Ernst, dass sich Elfjährige für Nymphen, die in Liebe entbrennen, interessieren?! -, merke ich, dass ich im Klavierunterricht auch nichts anderes mache. Man teilt einen unüberwindlich erscheinenden Berg in kleine Etappen ein und zeigt dem Schüler, wie er ihn in vielen kleinen Schritten doch erklimmen kann. Im Grossen ist das auf Monate oder Jahre angelegt, im Kleinen, mit entsprechend kleineren Schritten, für die Dauer einer Klavierstunde. Unsere wichtigste Aufgabe als Lehrende ist nicht ein möglichst breites Fachwissen oder die solide praktische Beherrschung unseres Fachgebiets, sondern die Fähigkeit, dieses Wissen für den jeweiligen Schüler in einer Art aufzuteilen, dass er mitkommt und möglichst bald selber weiss, wie er vorgehen muss. Dieses Zerlegen in Happen oder kleinste Häppchen, die für jeden anders aussehen müssen, das Aufspalten in immer noch kleinere Schritte oder nötigenfalls noch mal völlig andere Zwischenschritte, um über Umwege wieder zum Eigentlichen zu finden – das ist es eigentlich, was Unterrichten ausmacht. Und was den Erfolg oder Misserfolg ausmacht. Und im schlimmsten Fall dazu führen kann, dass jemand das Handtuch wirft, weil er nur Bahnhof versteht.
Wie sehr man den Stoff zerlegt, hängt vom einzelnen Schüler ab. Es gibt solche, denen legt man das neue Stück vor die Nase und sagt: spiel mal die ersten acht Takte mit beiden Händen. Bei anderen ist es nötig, sich langsamer bis viel langsamer heranzupirschen: von „spiel mal die rechte Hand“ über „welche Vorzeichen und welche Taktart haben wir?“ bis zu „was könnte der Titel bedeuten? Wie könnte so ein Stück klingen?“ gibt es mindestens so viele Möglichkeiten, ein Stück zu zerlegen, wie es Schülerpersönlichkeiten gibt. Natürlich dauern diese Vorgehensweisen unterschiedlich lange und damit auch die Zeit, bis man ein neues Stück einstudiert hat. Aber das Ziel sollte ja nicht die Anzahl von Stücken sein, die man in einem Schuljahr gelernt hat, sondern das Erwerben einer soliden Arbeitshaltung, die es einem irgendwann ermöglicht, ohne Anleitung neue Stücke zu lernen. Wir lernen praktisch das Lernen.
Und das Wichtigste, mein wirklicher Erfolg als Lehrerin, ist für mich, dass niemand hier rausgeht und sagt: ich hab das nicht verstanden, können Sie den Satz für mich übersetzen/ die Sonate für mich spielen? (Das soll kein Seitenhieb sein auf eventuelle Lateinlehrer – im Gegenteil, ich habe grössten Respekt vor jedem, der sich vor dreissig Kinder stellt, es schafft, sie in Schach zu halten und ihnen noch Fachwissen beibringt.) Sondern, dass die Kinder wissen, wie sie zuhause anfangen sollen und dass sie im besten Fall sogar Freude am Entstehungsprozess haben, an dem sich-schrittweise-Anpirschen an eine tolles neues Stück, am Bewusstsein: ich kann das selber und kann es in Zukunft auch bei anderen Stücken so machen.