Wurzeln

(Abbildungen: Staudengärtnerei Gräfin von Zeppelin)

Als im Herbst endlich das langersehnte Paket mit den besonderen alten Pfingstrosen kommt, kann ich es kaum erwarten, sie einzupflanzen. Am liebsten möchte ich gleich loslegen, doch es wird Jahre dauern, bis die Schönheiten mit verheissungsvollen Namen wie „Duchesse de Nemours“ oder „Mademoiselle Leonie Calot“ ihre ganze Pracht entfalten. So beschliesse ich, mir mit dem Pflanzen Zeit zu lassen, bis ich mich wirklich darum kümmern kann. Für zwei muss ich ein neues Beet anlegen, zwei kommen in bereits bestehende Beete. Überall grabe ich tief um, entferne Unkraut und obskure Wurzeln, mische die Erde, wie es empfohlen wird und füge Hornspäne dazu.

Als relativer Gartenneuling habe ich noch nie Pfingstrosenwurzeln gesehen und bin einigermassen erschrocken über ihre Unansehnlichkeit, als ich die Pakete öffne. Unwillkürlich denkt man: und für diese seltsamen Gebilde habe ich so viel Geld ausgegeben? Und das sollen wirklich üppige, duftende Blüten werden? Gleichzeitig spüre ich: wenn ich alles richtig mache und geduldig bin, muss es klappen. Es wird ein paar Jahre dauern, bis sie blühen, das stimmt – aber deswegen setze ich sie auch jetzt ein und nicht erst in fünf Jahren. Irgendwann werden wir und alle Spaziergänger, die am Zaun vorbeikommen, etwas davon haben. Und irgendwann, viel später, werden sie so gross und ausufernd sein, dass man sie getrost teilen und verschenken kann und sie ihre Schönheit und Anmut an einem anderen Ort verbreiten können.

Die unansehnlichen Wurzeln und die lange Wartezeit auf Ergebnisse erinnern mich daran, dass wir auch mit unseren Klavierschülern einen langen Atem brauchen und uns ständig auf unspektakuläre Weise darum kümmern müssen, dass sie Fuss fassen. Wie müssen für die besten Bedingungen und das passende Umfeld sorgen. So wie ich im Garten die Standorte sorgfältig auswähle und vorbereite und nichts überstürze, mache ich mit den kleinen Anfängern wochenlang vorbereitende Übungen. Wir singen, um ein Gefühl für Tonhöhen zu bekommen. Wir bewegen uns im Raum im Takt zur Musik, klatschen, entwickeln ein Bewusstsein für die Dauer der Töne. Wir beschäftigen uns am Klavier sitzend und auf dem Deckel spielend mit dem Spielapparat – wo sind die Arme aufgehängt? Wie fühlt sich ein gerader Rücken an? Wie eine runde Hand? Welcher Finger ist der dritte? Wir schreiben die ersten unförmigen Noten und versuchen, langsam, aber regelmässig mit dieser Art der Schrift vertraut zu werden.

Auch zuhause sollte das Umfeld stimmen. Im Idealfall ist ein akustisches Klavier vorhanden, möglichst in einem Raum, in dem man zu gewissen Zeiten ungestört vom restlichen Familienleben spielen kann. Ausreichende Beleuchtung und ein verstellbarer Stuhl sind mindestens so wichtig wie ein Elternteil, der ermuntert oder vielleicht sogar hilft. Eine angeblich nicht-musikalische Mutter erzählte, dass sie immer beim Üben mit einer Handarbeit dabeisitzt, ohne viel einzugreifen – allein ihre Präsenz und die Botschaft, dass jetzt Zeit für Musik ist, setzen ein Zeichen. Eine andere erzählte, was ich richtig nett finde, dass sie in den ersten Monaten das E-Piano in der Küche aufgestellt hatten und ihr Kind immer in der Zeit übte, in der sie das Abendessen vorbereitete. Kinder wollen und müssen sich mitteilen, und wenn  sie erst vom Klavierstuhl springen und in ein anderes Zimmer laufen müssen, um das zu tun, ist es schwer, danach wieder zurückzufinden.

Wenn Eltern regelmässig und viel Geld in den Unterricht investieren, ist es verständlich, dass sie Fortschritte sehen wollen. Genau so wie ich schockiert war über die wenig attraktiven, dicken schwarzen Wurzeln der Pfingstrosen, geht es wahrscheinlich Eltern, die monatelang nur Fünftonübungen und allereinfachste kleine Stückchen hören. Auch wenn es sich nur im Schneckentempo langsam netter anhört: es ist alles in Ordnung so!

Ich wäre eher skeptisch, wenn ein Kind zu früh ein eindrucksvolles Stück spielen kann. Ein Anfänger braucht eine gewisse Zeit, um die Materie auf allen Ebenen zu durchdringen und wirklich zu verstehen, was er tut. Alles andere ist hirnloser Drill, der irgendwann später zu einem Einbruch führt, wenn das Bewusstsein nachkommt. Jeder kennt die wohlmeinenden Eltern oder Grosseltern, die zusätzlich zur vorhandenen Klavierschule Noten anschaffen mit der Bitte, diese Stücke doch so bald wie möglich einzustudieren. In selteneren Fällen sind es auch die Kinder, die sich ein bestimmtes Stück in den Kopf gesetzt haben. Deshalb ist es wichtig, den Eltern vor Unterrichtsbeginn die eigene Vorgehensweise zu erklären und sie auch darauf vorzubereiten, dass gut Ding Weile haben will. Entgegen der allgemeinen Auffassung lässt sich der Fortschritt eines Schülers nicht an der Seite einer Klavierschule bemessen, an der er nach möglichst kurzer Zeit angelangt sein sollte. Man kann auch in sensationell kurzer Zeit durch ein Lehrwerk rasen, ohne klangschön oder rhythmisch stabil zu spielen. Später wird man die Zeit brauchen, um diese Defizite wieder auszugleichen, warum also nicht gleich richtig?

Das gleiche ist es mit den bei Lehrern sehr beliebten Vorübungen, Fünftonlagen, Tonleitern und irgendwann Etüden. Warum beharren wir wohl darauf und versuchen Woche für Woche wieder, Verständnis für die armen Dinger zu wecken? Sie klingen wirklich nicht immer schön, besonders, wenn sie mit verdrehten Augen begrüsst und mit wenig Enthusiasmus gespielt werden. Aber sie sind die fein verästelten Nebenzweige der dicken Wurzeln. Sie sind das, was den ganzen Organismus am Leben erhält, was ihm Kraft und die Möglichkeit gibt, wunderschöne Blüten auszubilden, die später jeden begeistern werden. Hat man jahrelang Czerny rauf und runter gespielt, klingen die Mozart-Sonaten danach einfach anders und müheloser. Und es ist auch wichtig, sich auf alle technischen Eventualitäten vorher vorzubereiten – man will ja nicht nur Spezialist für eine Sache oder einen Komponisten sein, sondern am besten einen Arm voll Blüten hervorbringen, der sich in die verschiedensten Richtungen neigt.

So wie die Pflanzen ein halbes Jahr im Dunkel unter der Erde verbringen werden, bevor ich überhaupt sehe, ob sie angewachsen sind, brauchen Kinder eine gewisse Zeit in einem geborgenen, ungestörten Zustand, um Wurzeln zu schlagen. Man sollte sie nicht zu früh ans Licht der Öffentlichkeit zerren. Vorspiele, zu denen jemand noch nicht bereit ist, oder gar Wettbewerbe, können desaströse Auswirkungen haben. Auch wenn der Schüler sehr begabt ist und man insgeheim stolz darauf ist, dass er dieses oder jenes Stück drei Jahre vor den anderen beherrscht – die persönliche Eitelkeit sollte unbedingt hinter den Bedürfnissen des Schülers zurückstehen.

Eine andere Art von Winterschlaf, der manchmal anscheinend notwendig ist, sind die immer wieder auftauchenden Durststrecken, bei denen man auf der Stelle zu treten scheint. Es ist unvermeidlich, dass es im Lernen Einbrüche gibt. Unabhängig von äusseren Umständen, die ein konsequentes Üben manchmal nicht zulassen, habe ich das Gefühl, Kinder merken, wann es für sie genug ist: genug an neuen Informationen, Bewegungen, Anforderungen, die erfüllt werden sollen. Manche Kinder igeln sich dann in sich ein. Was manchmal wie passiver Widerstand erscheint, ist in Wirklichkeit das Bedürfnis, das Gelernte in Ruhe zu verarbeiten. Genau so unerklärlich und plötzlich ist diese Phase irgendwann vorbei und die übliche Neugier kehrt zurück. Bei Lehrern und Eltern ist mal wieder Geduld gefragt: es nützt nichts, die Erde aufzubuddeln, um zu schauen, ob die Wurzeln schon kleine Knospen haben – im Gegenteil, dabei kann man viel verletzen und in der falschen Jahreszeit sogar das Wachstum für das ganze Jahr zerstören. Sinnvoller ist es, darauf zu vertrauen, dass sich grade viel in dem kleinen Kopf und Körper tut und diesen Vorgang zu unterstützen mit einer Art Konsolidierung: viel Wiederholung, Blattspielen von Stücken auf dem gleichen Niveau aus anderen Klavierschulen, Improvisieren, Aufschreiben von eigenen kleinen Kompositionen… Nach einigen Jahren erkennt man auch, ob so eine Phase ein nötiger Winterschlaf ist oder ein echtes Abfallen der Motivation – in diesem Fall würde man natürlich anders eingreifen.

Wir haben es in der Hand, für richtige Nahrung und Dünger in Form von seriösen, anspruchsvollen Klavierschulen und Originalliteratur und Anregung durch Konzertbesuche oder Aufnahmen zu sorgen. Manches müssen wir auch der Natur überlassen und darauf vertrauen, dass sie es selber schafft: aufs Wetter oder andere klimatische Bedingungen haben wir nur begrenzt Einfluss. Wenn die ganze Vorarbeit stimmt, dürfen wir trotzdem in ein paar Jahren auf wunderschöne Blüten hoffen.

veröffentlicht in „Pianonews“ 2 /2013

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