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Mein gechilltester Arbeitstag

DSCF1957Letzten Mittwoch wurde ich abgeordert, unsere Schüler auf der Busfahrt zur jährlichen Chor- und Orchesterprobenphase zu beaufsichtigen, da alle anderen Musiklehrer schon vor Ort waren. Aus rechtlichen Gründen kann man wohl nicht 108 Minderjährige allein den beiden Busfahrern aufs Auge drücken. Super, dachte ich bei mir. Das wird wieder eine Aktion der Marke „ich würd doch lieber den Sack Flöhe nehmen“. Ein Haufen aufgedrehter Schratzen, froh, der Schule entronnen zu sein – und ich soll einen Frühlingsvormittag im Bus verbringen, statt am Inn zu laufen. Meine Begeisterung war, vorsichtig gesagt, verhalten. Aber dann wurde es unversehens einer der entspanntesten Tage meiner Karriere… Weil unsere Kinderchen einfach so nett und ordentlich sind. Jeder hat ein Interesse daran, dass sein Instrument und das Übernachtungsgepäck mitkommt, also verlief das Be- und Entladen der Dinge reibungslos. Ich fuhr im Orchesterbus mit. Die Schüler unterhielten sich gedämpft und scheinbar nur über Musikalisches und das bevorstehende Abi – selten so eine ruhige Busfahrt erlebt! Und meinen einzig wichtigen Job hab ich delegiert: als ich die Anwesenheit kontrollieren wollte, schielte einer unserer Abiturienten sehnsuchtsvoll auf die Liste und den Stift in meiner Hand und meinte: „ich träum seit der Fünften davon, mal die Anwesenheit zu machen“ – worauf ich ihm alles in die Hand drückte und er, selig wie ein Honigkuchenpferd grinsend, zum Mikrofon griff.

Die Rückfahrt durch blühende Löwenzahnwiesen war ähnlich entspannt. Nach zwanzig Minuten auf Alteglofsheimer Boden, in denen die Busse ent- und wieder beladen und die Gruppen getauscht worden waren, waren jetzt hauptsächlich Fünftklässler in meinem Bus, die alle etwas platt vom Schlafmangel waren und unerwartet ruhig. Eine Erwachsene brauchten sie nur, um zu fragen, wann wir da sind. (Und um zu versuchen, sie mit Schokolade zu mästen – ständig hörte ich „gib das mal vor zur Frau Sommerer“, und wieder kam eine goldene Ferrero-Kugel zu mir – die ich diskret zum Busfahrer weiterleitete…) Alles harmlos und angenehm. Während wir so gemächlich durch Niederbayern zuckelten, vorbei an rosa und weiss blühenden Obstbäumen und Wiesen im ersten explosiven Frühlingsgrün, dachte ich, wie viel mehr man doch von den Kindern erwarten darf. Dass sie sich nur „kindisch“ benehmen, wenn man sie auch so behandelt. Zu viel Kontrolle kann schaden. Wenn man Verantwortung abgibt und delegiert, zeigen sie erst, wozu sie in der Lage sind. (Dazu muss man aber auch sagen, dass wir besonders ordentliche und „normale“ Schüler haben. Das merke ich im Schulalltag auch immer wieder, und das ist schon ein Privileg.)

Erst war ich wenig begeistert, den ganzen Vormittag lang unbezahlte Überstunden zu machen und dann direkt in meinen Unterrichtsalltag zu fallen. Als wir um zwei wieder an der Schule ankamen, war ich durch die vielen schönen Eindrücke auf der Fahrt und schon auch die Tatsache, dass ich nix zu tun hatte ausser anwesend zu sein, so gechillt, dass ich mich einfach nur aufs Unterrichten freute. So eine Arbeitszeit von 9 bis 14 Uhr hat schon was. Die vielen Abendstunden, die für uns Musiker Alltag sind, sind dagegen eine Qual. Ein paar Jahre lang hatten wir nach dem Montagskonzert immer Fachsitzung, also bis 22 Uhr – da wusste ich beim Heimfahren manchmal nicht mehr, wo die Gangschaltung ist. Vormittags bin ich für jede Mehrarbeit zu haben.

Und was definitiv toll war an diesem „Arbeitstag“: im Gegensatz zu meinen überlangen Donnerstagen zum Beispiel, an denen ich mich oft nur noch flach atmend durch den Tag schleppe und meine Sauerstoffzufuhr manchmal durch ein lautes Durchschnaufen optimieren muss, ist mir richtig aufgefallen, dass ich nichts tue ausser dasitzen und ruhig und meditativ atmen. Während ich blühende Kirschbäume angucke. Keine Rückrufe, Mailbeantworten, nebenbei Wäscheaufhängen und gleichzeitig kochen, wie das sonst oft an meinen Vormittagen aussieht. Ich wäre eine ausgeglichenere Lehrerin, wenn ich jeden Morgen vier Stunden meditieren würde… Aber auch eine mit nix mehr Anzuziehen und einem leeren Kühlschrank.

Drei Hochzeiten und vierzehn Todesfälle

Kürzlich habe ich Jane Austen’s „Emma“ wieder gelesen. Die Heldin wird gefragt, wie sie sich das Alter als unverheiratete Frau vorstellt und sie antwortet so ungefähr, dass sie, wenn sie das betagte Alter von über 40 erreichen sollte, wahrscheinlich mit Handarbeiten auf dem Sofa sitzen würde. Allen Aussagen wie „50 ist das neue 30“ etc. zum Trotz fühle ich mich alt. Man schmiert sich Granatapfelcreme ins Gesicht, haut sich Chiasamen ins Müsli, bewegt sich viel an der frischen Luft und ist biologisch möglicherweise jünger als die Menschen zu Austens Zeiten. Aber das gefühlte Alter – damit sieht es ganz anders aus. Denke ich mir, als ich eine Bekannte nach langer Zeit mal wieder in einem Café treffe und mich so diskret wie möglich auf dem schmalen, harten Bistrostuhl winde, um meine vom Joggen schmerzende Hüfte möglichst bequem unterzubringen (kein Sofa in Sicht, leider). Es gäbe für mich kein spannenderes Thema als meine Wehwehchen durch zu viel Sport – aber das kann ich meinem Gegenüber wirklich nicht antun. Zumal sie schon mitten in einem fesselnden Monolog ist über eigene diverse Schmerzen, die einfach nicht mehr so schnell weggehen wie früher noch. Und dann hat sie sich noch falsch bandagiert und hat einen riesigen blauen Fleck – das war früher auch anders.

Dank des bayerischen Lehrplans, der einen so wunderbar aufs wirkliche Leben vorbereitet, bin ich schon seit jungen Jahren gestählt in der Philosophie der Stoiker. Ich bilde mir ein, mein Leben mit Gleichmut zu ertragen und mir bewusst zu sein, dass alles eher nichtig und irgendwann ohnehin vorbei ist – aber selbst ich komme an meine Grenzen. Seit ein Freund im Herbst gestorben ist, gehe ich fast jede Woche zum Friedhof. Früher haben wir uns auch mindestens einmal pro Woche unterhalten und irgendwie brauch ich das noch eine gewisse Zeit. Als ich von einem dieser Gänge zurückkehre, bekomme ich einen Anruf: eine Bekannte in meinem Alter ist gestorben, plötzlich und unerwartet, wie es immer heisst. Aber kann man in meinem Alter noch von „unerwartet“ sprechen? Mit so vielen Jahren auf dem Buckel, so vielen schönen Erlebnissen, Erfahrungen, Reisen – was will man denn noch mehr? Man muss im Gegenteil dankbar sein, dass man das bisherige reiche Leben in Frieden und Wohlstand verbringen durfte. Ich bilde mir ein, dass ich ohne viel Hadern abtreten könnte. Ich war noch nie in Paris und habe aus Vernunftgründen weniger Schokolade gegessen, als möglich gewesen wäre – aber das sind harmlose Versäumnisse, die man sicher nicht in den letzten Sekunden bereuen würde. Um mein eigenes Ableben mache ich mir keine Gedanken. Es sind eher die vielen anderen Abschiede, die mir langsam an die Nieren gehen. Und die Erkenntnis kürzlich, dass wir in unserem Bekanntenkreis nahtlos von Examensfeiern in bunten Kleidern zu diesen ewigen Beerdigungen übergegangen sind. Vielleicht haben wir seltsame Bekannte, aber Hochzeiten oder gar Taufen waren äusserst rar in den letzten Jahrzehnten. Feiern mit pastellfarbener Deko oder sinnlos grossen, schön verzierten Torten kenne ich eher aus Filmen. Und dass ich das hübsche Kleidchen in einem frühlingshaften Schwarz kaufe, weil – wozu Rot? Ist das normal? Sind es grade seltsame fünfzehn Jahre, und irgendwann wird alles stabiler? Oder – ist es einfach das Leben? Ich hab schon kapiert, dass das Leben ganz anders läuft, als wir es planen. Und dass Veränderung die einzig wirkliche Konstante ist, so gern wir es manchmal anders hätten. Trotzdem ist es immer wieder schwer, das zu akzeptieren.

Da hilft nur Klavierspielen.

Zeit als Raum

DSCF2169Meine Erwachsenen halten mich auf Trab. Einmal zeitlich, weil sie einfach (fast) immer erscheinen und meine Unterrichtstage voller sind als geplant. Aber hauptsächlich gedanklich. Vor und nach dem Unterrichten beschäftigen mich ihre so komplett unterschiedlichen Bedürfnisse und Herangehensweisen mehr als erwartet und ich bin ständig am Überlegen, wie ich mich noch besser um sie kümmern kann. Die Anschaffung und Lektüre von „Erwachsene im Instrumentalunterricht“ von Reinhild Spiekermann hat sich schon wegen eines winzigen Abschnitts gelohnt:

„Musikalisches Lernen findet auf Umwegen statt, muss nicht immer zielgerichtet sein und enthält Phasen unterschiedlicher Intensität. Insofern kann der Lernprozess nicht als linearer angesehen werden, in dem „Zeit als Strecke“ verstanden wird, sondern sollte als „Raum“ begriffen werden. Der pädagogische Umgang mit der Zeit sollte dem Lernenden ermöglichen, seine „subjektive Zeit“ einzubringen in das Unterrichtsgeschehen.“ (Seite 82)

Natürlich gilt das auch für Kinder – je jünger sie sind, desto mehr „mäandert“ das Lernen, bewegt sich spiral – oder schleifenförmig vor und zurück. Aber das ist normal, keiner fühlt sich beunruhigt oder gestresst. Und je nach Fall geniesse ich es, das Gelernte zu unterfüttern mit Extrastücken, die grade hilfreich sind. Oder einfach Spass machen. Und systematische Wiederholungen von alten Stücken sind Teil des Unterrichtskonzepts. Sie könnten als Rückschritt empfunden werden, untermauern und festigen aber auf wunderbare Weise das Gelernte und helfen, „belesener“ zu werden. Oft werden diese Wiederholungen von den Kindern selber angeregt. Sie zeigen mir damit auf wunderbare Art, dass es nicht darum geht, Strecke zu machen, sondern einfach Klavier zu spielen. Und dass sie völlig mit dieser Tatsache zufrieden sind. Wie eine Sechstklässlerin, die letzte Woche mit dem Feenheft von Alec Rowley ankam und sagte, sie möchte mir mal wieder alle Stücke vorspielen, die wir da drin gemacht haben – wohlgemerkt, das war in der zweiten und dritten Klasse. Während sie loslegte und dabei auch erklärte, wer von den Geschwistern welches Bild damals ausgemalt hatte, ertappte ich mich dabei, dass ich überlegte, ob ich diese „Zeitverschwendung“ in der Stunde limitieren soll und ihr sagen soll, dass sie noch zwei Stücke spielen kann und den Rest zuhause machen soll. Aber ich spürte an ihrem Stolz über die gelungenen Stücke, dass sie eben auch mir zeigen wollte, wie sie sie jetzt spielt. Dass die Stücke und auch die mit meinem grossen Farbenkasten ausgemalten Bilder Teil unserer gemeinsamen Vergangenheit sind. Es war ein enormer Schritt rückwärts – und gleichzeitig wertvolle und wirklich beruhigend schöne zehn Minuten, die ihr Klavierspielen auf mehreren Ebenen gefestigt haben.

Von meinen Erwachsenen käme keiner auf die Idee, mit leuchtenden Augen die „Babystücke“ aus den allerersten Monaten spielen zu wollen. Ganz im Gegenteil: wir sind besessen davon, unsere Zeit so effektiv wie möglich zu verbringen, wollen messbare Fortschritte sehen und letztlich ist Zeit ja auch Geld (dafür haben Kinder noch kein Bewusstsein. Und sind deshalb wunderbar frei…) Und ich muss mich da durchaus an die eigene Nase fassen und fragen, wie sehr ich durch meine eigene Einstellung zu der übergrossen Erwartungshaltung mancher beitrage. Denn wenn es um mich und mein eigenes Lernen geht, denke ich auch erst mal, es muss Ergebnisse bringen, ich muss weiter kommen und besser werden und was vorzeigen können. Es wäre purer Luxus, etwas nur zu tun, weil man’s gerne tut und dabei Freude empfindet. Oder?! (Spricht die Frau, die so überdiszipliniert ihr Lauftraining begonnen hat, dass nach vier Wochen wahlweise Knie, Hüfte und Bandscheiben wehtaten und es eine Qual war, Treppen runterzusteigen. Jetzt bin ich dabei, Schritt für Schritt alles anders und langsamer aufzubauen und sage mir dabei minütlich vor: es kommt nicht darauf an, wie schnell ich wie weit laufe, sondern – DASS ich laufe. Dass ich draussen bin und es einfach tue. Ohne messbare Ergebnisse. Das ist vielleicht ein Umdenken!)

Viele Erwachsene kommen mit der ganz konkreten Frage, wann sie dieses oder jenes Stück spielen können. Oder allgemeiner: wie lange es braucht, um Klavier zu lernen. Ich versuche, von Anfang an klarzustellen, dass wir hier in Jahren denken müssen, nicht in Monaten. Trotzdem kann sich nach einem Jahr Ungeduld breit machen, auch Enttäuschung und Staunen, wie schwer und langwierig es doch ist. Vielleicht auch Frust und Gedanken, aufzugeben, weil man vielleicht doch zu alt ist. Kinder fragen so was gar nicht. Das ist ein Segen. So gut Selbstreflexion ist: sie kann einen auch hemmen, unbefangen und frei an eine Sache heranzugehen. Und Vergleiche mit anderen bringen einen auch nicht weiter: jeder hat sein ganz eigenes Lerntempo.

Vielleicht gelingt es mir, dieses „Zeit als Raum“-Konzept meinen Erwachsenen näher zu bringen. Meine erste Assoziation dabei war der Raum als eine riesengrosse, schillernde Seifenblase, die sich je nach Bedarf auch oval verformen kann, immer wabert und lebendig und dehnbar ist. Jeder hat seine eigene, schöne und schützende Seifenblase, in der er sich vor, zurück oder seitwärts bewegen kann. Sie verändert sich mit uns unser Leben lang, kann erweitert und vergrössert werden oder Geborgenheit geben, so wie sie ist. Es wäre eine echte Errungenschaft, sich überhaupt erst mal darüber zu freuen, dass man es geschafft hat, sich einen Klavier – Raum zu errichten. Wer hat das schon?

Noch eine Falle…

1930s Woman Receptionist Secretary Sitting At Desk In Office Talking On TelephoneVor ein paar Jahren habe ich über eine typische Falle von Selbständigen geschrieben: weiter arbeiten, auch wenn man krank ist. Inzwischen tappe ich munter in einer anderen herum: mehr Arbeit annehmen, als gut ist, denn es könnten ja mal schlechtere Zeiten kommen. Das Seltsame daran: ich bin mir bewusst, was ich tue, und spüre auch, dass es langsam nicht mehr gut ist, schaffe es aber nicht, die Bremse reinzuhauen aus einer Art (unberechtigter?) Zukunftsangst heraus. Bei allem Optimismus denke ich manchmal: das, was ich tue, ist derartig exotisch, und vielleicht ist es doch eine aussterbende Sache, Musik selber und aktiv zu machen – was, wenn es in zehn oder fünfzehn Jahren einfach keinen Bedarf an Klavierunterricht mehr gibt? Da muss ich mitnehmen, was geht, und noch so vielen Menschen wie möglich zeigen, wie schön es doch ist. Das ist das grundsätzliche Denkproblem. Und dann gibt es das ganz individuelle. Erst mal generell: wenn ich diesen Schüler abweise, dann aber drei plötzlich aufhören, dann würde ich mich ärgern. Und das spezielle (dem erliege ich immer): wenn man ein Kindchen mal kennengelernt hat, einen kleinen Einblick in seine Fähigkeiten gekriegt hat, denkt man immer wieder: was, wenn hier ein ganz spannendes Talent schlummert? Wie mühelos er die Hände koordiniert, wie toll er nachsingt, wie gern er verschiedene Klänge sucht – ich muss da dranbleiben! Jeder neue Schüler bringt so einen Schatz an Möglichkeiten und Fähigkeiten mit, und es fällt mir meistens sehr schwer, da „nein“ zu sagen. Denn es könnte ja der eine, der ganz besondere sein…

Ich bin froh und dankbar über den Zulauf, den ich grade erfahre. Auffallend ist, dass die neuen Schüler immer grüppchenweise aus einer bestimmten Ecke kommen: ein paar Wochen lang gab es nur Viertklässler, dann Fünfzigjährige, dann Adelige, immer in Dreier- oder Viererpacks. Das ist auch werbemässig interessant, wenn man sieht, welche Kreise die Mundpropaganda zieht. Aber ich schüttel auch den Kopf über mich selber. Eine typische Situation letzte Woche: zwei Zehnjährige rufen an wegen Stunden. Ich arrangiere so schnell wie möglich Schnupperstunden, weil ich mir generell vorgenommen habe, entweder gleich abzusagen oder Leute, die eh schon mit den Hufen scharren, nicht im Unklaren zu lassen. Nach dem Kennenlernen entscheiden sich beide für Stunden und ich freue mich, obwohl ich eigentlich keinen Platz mehr für sie habe. Aber – es könnten  ja zum neuen Schuljahr ältere Schüler aufhören oder ins Ausland gehen, und bald ist eh Ostern und langsam muss ich den  Herbst planen und vorbauen… Also wird eine abends drangehängt, die andere kommt in meiner Mittagspause. Keine 60 Minuten mehr zum Kochen und kurz die Stille geniessen, sondern 15 Minuten für Kaffee und Erdnussbutterbrot.

Buchstäblich am nächsten Tag riefen zwei Schülerinnen zurück, die wegen Konzentration auf die Schule für ein halbes Jahr Pause machen wollten. Ich hab sie nie aufgegeben, dachte aber, das halbe Jahr kann sich ja auch ausweiten, wer weiss, wann sie wiederkommen. Kaum haben sie das Zwischenzeugnis in den Pfötchen, greifen sie zum Hörer. Und weil sie vorher schon da waren, ältere Rechte haben, weise ich sie natürlich nicht zurück. Sondern hänge sie noch später abends dran, ohne viel nachzudenken. Und stelle erst danach fest: super, von einer Woche auf die andere hab ich vier Schüler mehr, ohne dass ich das vorhatte.

Und dann kommen auch meine Erwachsenen noch derartig regelmässig und diszipliniert! Da nehme ich ja auch immer mehr an, weil sie aus Erfahrung immer mal wieder absagen, wenn es im Job oder im Leben rund geht, und ich so eher die Formel habe, dass nur ein Drittel von ihnen pro Woche auch kommt. Denn alle stehen noch im Berufsleben und schaufeln sich diese Vormittagsstunden bewusst frei. Meine Rechenkünste waren noch nie erwähnenswert, und auch hier bin ich trotz vielleicht richtigen Lösungswegs aufs falsche Ergebnis gekommen. Denn: sie kommen begeistert alle. Jede Woche oder alle zwei, wie ausgemacht. Aber es wird einfach nicht abgesagt. Die 45 Minuten, die ich dann und wann fürs eigenen Üben vorgesehen hatte – die gibt’s zur Zeit einfach nicht.

Also: bringt mich Optimismus oder Pessimismus weiter? War es zu blauäugig, vom Schlimmsten auszugehen? Brauche ich irgendwann eine Sekretärin, wenn das so weitergeht? (Die ganzen Extra-Termine sind nicht nur organisationsmässig ein Horror, sondern auch von der Buchhaltung her.) (Kann die Sekretärin mir auch Tee machen?!)

Foto

(Und wie immer ein PS., weil sich die Ereignisse hier immer zu überlagern scheinen: während ich das Foto aussuchte, rief eine Dame an wegen Unterricht für ihre zwei Urenkelinnen. Weil sie so gern noch erleben würde, dass die Klavier spielen. Ist das moralischer Druck oder nicht? Was mach ich jetzt?!)

Spass mit Fünftonlagen

DSCF6884Es ist immer wieder erstaunlich, in welchem Zickzackkurs Lernen verläuft. Man erklärt, macht vor, lässt den Schüler nachspielen, wiederholt, beleuchtet die Sache von einem anderen Blickwinkel, wiederholt wieder, gibt für eine Woche die Hoffnung auf, erklärt noch mal, lässt noch mal vormachen, überlegt, ob man nicht doch noch Architektin werden soll, erklärt trotzdem noch mal die Fünftonlagen und bittet den Schüler, sich zu überlegen, was er in seinem zweiten Weihnachtskonzert spielen will. Und dann spaziert das Kindchen in der nächsten Woche zur Tür rein und sprudelt los: „Mein Thema fürs Weihnachtskonzert ist die D-Lage. (Wow, meine Schüler haben Themen fürs Vorspiel!) Ich hab zwei Lieder aus der Klavierschule ausgesucht, eins in Dur, eins in Moll, und wussten Sie, dass man „Jingle Bells“ auch in D-Dur spielen kann?!“ Und los geht’s, während ich noch mein Kinn hochklappe. Mit einer astreinen Präsentation, was kleine Finger mit der D-Lage anstellen können. Und ich schwebe über meinem Unterrichtststuhl und vergesse den steinigen Weg der letzten Monate.

Dieser Moment – dass jemand etwas wirklich begriffen und in den Finger  hat und so souverän damit umgeht, dass er damit quasi spielen kann  – das ist der schönste und lohnendste Augenblick beim Unterrichten. Wenn ich sehe, dass jemand einen Sachverhalt wirklich verstanden hat und ich in dem Bereich überflüssig bin, dann habe ich mein Ziel erreicht. Zwar lauert das nächste gleich um die Ecke, und das ist es ja auch, was Unterrichten so endlos spannend macht – aber zwischendurch kann man sich kurz zurücklehnen und den Erfolg feiern und geniessen.

Wenige Wochen nach dem Weihnachtserlebnis gab es den zweiten Instant-Erfolg mit Fünftonlagen – das Schicksal scheint es gut mit mir zu meinen! Ein anderes Kindchen, ein Jahr jünger als der von oben, fing in der Stunde spontan an, ein Stück zu transponieren. Ich hatte ihm „Big Chief“ aus Frances Clarks „Music Tree“ auswendig beigebracht, einfach aus Spass und zum Unterfüttern des Gelernten, und weil Jungen immer wieder mal Indianer- oder Ritterlieder brauchen, bei denen es richtig zur Sache geht. „Big Chief“ ist in einer klaren Fünftonlage geschrieben, die Begleitung ein simples Ostinato aus Quinten. Und ich durfte den Moment miterleben, als der Groschen fiel. Als die kleinen Fingerchen erkannten: aha, das ist ja hier der fünfte und der erste, und da auch, das kenn ich doch. Und aus eigenem Antrieb probierte mein Schüler, ob es nicht einen Ton tiefer auch geht. Und da auch in Dur und Moll. Und einen höher. Und noch einen höher. Nachdem er das Lied zwölf Mal von allen Tasten gespielt hatte, spielte er es sogar noch von h aus, und ungerührt in h vermindert… Und ich sass stumm daneben und liess ihn einfach entdecken. Und war dankbar: besser kann er mir nicht beweisen, dass er kapiert hat, was eine Fünftonlage bedeutet. Auf zu neuen Ufern! Und danke für die wahren „Spielstücke“, die so genial komponiert sind, dass sie solche Erlebnisse möglich machen!

(Für KlavierlehrerInnen: ich bin begeistert vom Konzept von Frances Clark’s „Music Tree“. Immer auf der Suche nach der perfekten Klavierschule, hatte ich mir diese amerikanische Schule aus den Sechzigerjahren bestellt. Ja, man glaubt es nicht – als es hier in der pädagogischen Landschaft relativ öde und streng zuging, gab es in Amerika eine wirklich ansprechende und unterhaltsame Schule, die Spass aufs Entdecken macht. Natürlich wurde sie mehrfach überarbeitet, aber Stücke wie „Big Chief“ sind eigentlich uralt. Nachdem mir der Unterrichtsband so gut gefallen hat, habe ich nach und  nach die Folgebände bestellt: Sammlungen von ausgesucht schönen und guten Einzelstücken, die ich zum Teil noch nie gehört habe, gruppiert nach 17. bis 19. Jahrhundert und Extrabände fürs 20., die auch voll von schönen Entdeckungen sind. Die Klavierschule hab ich noch mit niemand konsequent als Unterrichtswerk verwendet, weil die Texte zum Mitsingen englisch sind. Aber die Folgebände sind die allerbeliebtesten Geburtstagsgeschenke geworden. Wir haben so viel Spass dran, dass ich denke, am meisten beschenke ich damit mich selbst… So gern ich deutsche Verlage unterstützen würde: mir fallen keine Sammlungen ein, die so konsequent aufeinander aufbauen und auch so alltagstauglich sind. Das „Tastenkrokodil“ oder „Toll in Moll“, die Klassiker neben der Klavierschule hier, können da nicht mithalten, weil die Stücke oft zu gehaltvoll und schwierig sind. Es fehlen kleine Zwischenschritte, ein gewisses Unterfutter, damit man mühelos weiter kommt und dabei den Spass an der Sache nicht verliert. Die Tatsache, dass die Stücke des „Music Tree“ sehr gut aufeinander aufbauen und wirklich nicht zu kompliziert sind, führt auch dazu, dass man mehr Literatur kennenlernt, mehrere verschiedene Stücke in den Fingern hat, letztlich: belesener wird.

Nachteil neben der Sprache: das Bestellen der Hefte und die langen Lieferzeiten. Am besten selber einen Stoss bestellen, wenn man das Heft kennt und überzeugt ist, und bei sich lagern.)

Investitionen

DSCF7926Nachdem ich mit einem hauptsächlich cellospielenden Klavierschüler ein Saint-Saens – Konzertstück länger als geplant geprobt hatte, meinte seine Mutter beim Abholen: „Warum tun Sie das? Sie verschenken ihr Talent an die Kinder.“ Mit uns beiden, ihm, der nächsten Schülerin und dem Cellokasten ist unser Flur gestopft voll. Ich bin noch völlig eingehüllt in die herrliche Musik, die wir grade zusammen produziert haben, und fühle mich auch physisch so umgeben von Wohlwollen und Sympathie, dass meine spontane Antwort direkt aus dem Bauch kommt: „Ich verschenke nicht, ich investiere. Und es ist die beste Investition, die es überhaupt gibt.“

Es klingt mehr als kitschig, ich weiss. Aber es stimmt. Wo sonst bekommt man im Moment so viel zurück, wenn man etwas anlegt? Die Freude und Begeisterung meiner Schüler, ihre Fortschritte, ihr immer grösseres Können belohnen mich hundertfach für das bisschen an zusätzlicher Zeit, dass ich ihnen manchmal zukommen lasse. Manchmal sind es einfach die zehn Minuten extra, die einen weiterbringen, wenn man kurz vor dem Durchbruch steht. Oder die zehn Minuten, die man in ein Gespräch investiert.

Und das mit dem „Talent verschenken“: was soll ich denn sonst damit machen? Die Konzertbühnen der Welt kommen bestens ohne mich aus. Trotzdem will und muss ich Klavier spielen. Und wenn ich schon nicht ohne leben kann, ist es für mich logisch und sinnvoll, dieses Talent in der Provinz und für Kinder zu nutzen. Eben weil ich sehe, dass die Flamme am Leben gehalten wird und das, wovon ich überzeugt bin, in der nächsten Generation weitergeht. Ich finde, es gibt keine bessere Dividende. Und es trägt zur Seelenruhe bei, so im Einklang mit sich und seinen Werten leben zu können. In der Hinsicht führe ich ein wirklich reiches Leben.

Und was ist überhaupt die Währung, um die es geht? Auf jeden Fall etwas, das mehr wird, indem man es ausgibt. Etwas, bei dem es klüger ist, es nicht auf einem Konto zu horten und nur für sich zu behalten. Auch auf die Gefahr hin, dass es noch kitschiger wird, aber: eigentlich ist es Liebe. Oder Freundlichkeit. Oder Grosszügigkeit. Eine von den Eigenschaften, die den grossartigsten Ertrag abwerfen – weil sie auf jeden Fall mehr werden, je mehr man sie in sein Leben lässt. Ich habe so oft die Erfahrung gemacht, dass meine Umgebung das spiegelt, was ich aussende. Wenn ich will, dass meine Schüler höflich sind, behandle ich sie so. Wenn ich mir mehr Geduld von anderen wünsche, bin ich selber geduldig. Es ist eigentlich so leicht, die Welt ein bisschen angenehmer und menschlicher zu machen. Und ich bin froh, wenn ich in einer so entspannten Geistesverfassung bin, dass ich auch bewusst solche positiven Eigenschaften pflegen und einsetzen kann. Stress und Ärger übertragen sich genau so schnell.

Staunen

DSCF8709Nachdem mich meine kleinen Schüler gnadenlos über die Nicht-Existenz von Nikolaus, Engeln und anderen himmlschen Gestalten aufgeklärt hatten, war ich ein paar Tage doch ernüchtert. Und dachte, die Märchenzeit, die ganz verzauberte Kinderzeit, endet inzwischen wahrscheinlich auch früher als noch in meiner Kindheit. Und dass ich es vielleicht einfach hinnehmen muss.

Aber dann – war ich im Literaturfest München auf zwei Lesungen für „Leser ab neun“. Genau die frühreife, illusionslose Klientel,  mit der ich so gern zu tun habe. Und was war? Die Bande (und etliche Leser unter neun) hing besonders Franz Hohler mit seiner wunderschönen Weihnachtsgeschichte „Die Nacht der Kometen“ an den Lippen. Es gab Passagen, da hätte man die berühmte Stecknadel fallen hören können. Wenn ganz besonders Unglaubliches und eigentlich nicht Mögliches passierte. Es lag sicher auch an der grandiosen Erzählerpersönlichkeit des Autors, dass sie ihm atemlos alles abnahmen. Ich hatte den Eindruck, da hätte keiner naseweis gesagt: „Aber das geht nicht. Und den und den gibt’s eh nicht.“ Ganz im Gegenteil. Und mir ging es ganz genau so: die Geschichte hatte einen wunderbaren Sog und ich hatte die vergnüglichste Stunde seit langem. Und durfte feststellen: man ist nie zu alt, um vorgelesen zu kriegen…

Ich war verzaubert. Und schaffte es irgendwie, etwas von dieser Verzauberung in die nächste Unterrichtswoche mitzutragen. Meine kleinen Häretiker wurden auf einmal still und kriegten doch grosse Augen, wenn wir „Maria durch ein Dornwald“ sangen. Und sie wissen wollten, was das in der dritten Strophe soll, das mit den Rosen. Ob das geht, dass aus Dornen noch mal Rosen wachsen. „Ja, wenn jemand ganz Besonderes vorbeigeht, dann kann das passieren.“ Ob das wahr ist. Ob ich das schon mal gesehen habe. Ich erzähle von der totgeglaubten Rose im Garten, die auf einmal doch noch mal grün wurde und eine wunderschöne Blüte hervorgebracht hat. Direkt hier vor dem Fenster. Und das, ohne dass jemand Besonderes vorbeigegangen ist. „Vielleicht ist ja jemand Besonderes durch deinen Garten gegangen und du hast es nicht gesehen. Vielleicht in der Nacht.“ Das klingt jetzt doch ganz anders als „Der Nikolaus ist der Biobauer“…

Vielleicht sind wir zu beschäftigt, um noch zu staunen? Zu unruhig, abgelenkt, im Kopf bei zwei Sachen gleichzeitig? Man braucht Ruhe im Herzen, um Geheimnisse zu erkennen.

Vielleicht müssen die Kleinen auch jetzt durch ihre Glaubenskrise durch, ein paar Jahre ganz cool sein, um dann auf ihre mittelalten Tage zu erkennen: ohne Wunder, ohne Staunen und Glauben an Unglaubliches wäre unser Leben ärmer. Eigentlich Unfassbares hinter manchen Ereignissen zu vermuten hilft, Träume zu leben und all zu prosaische Durststrecken zu überstehen. Und es kann einem Kraft geben, etwas anzupacken, was einem für einen selbst zu gross und schwer zu schultern erscheint. Einfach etwas, was über uns hinausgeht… Ob es Engel sind oder Heilige, die in ihrem Leben auf damals wunderbar erscheinende Art anderen zur Seite gestanden sind: warum können wir nicht versuchen, dann und wann auch so zu handeln und heimlich anderen Gutes tun? Daran glaube ich nämlich auf jeden Fall, und deshalb werde ich auch weiterhin meinen Kinderchen gegenüber felsenfest behaupten, dass es den Nikolaus gibt.

Wunder

P1020880Manchmal werden Kinderchen zu mir gebracht, die schlapp und gummiartig am Arm ihrer Mutter hängen und sich kaum mehr auf eigenen Beinen halten können. Bilder des Jammers. (Fortgeschritten in der Kunst des Simulierens?) Während sie irgendwo in Nabelhöhe von Erwachsenen den Kopf hängen lassen, erklären mir die Mütter, dass es XY heute gar nicht gut geht und ob wir es einfach probieren können und wenn es gar nicht geht, soll ich anrufen. Wobei das Kind unsere stumme, aber intensive Augenkommunikatione nicht mitkriegt, die sich durchs ganze Spektrum „weiss auch nicht, was sie heute hat/ bin am Ende mit den Nerven, bitte nehmen Sie mir dieses Kind für eine halbe Stunde ab/ irgendwas stimmt nicht, aber ich hab einen dringenden Termin, bitte versuchen Sie es“ zieht. Hier handelt es sich um Grundschulkinder – wenn die älteren heftigen Weltschmerz oder ähnliches haben, sagen sie meistens ab. Worüber ich froh bin. An einen verschlossenen Pubertierenden ranzukommen ist ungleich schwerer…

Falscher Weg: Mitgefühl zeigen, das Kindchen bedauern, gar noch fragen, was denn los ist. Wird alles mit Schweigen und noch mehr ins Schneckenhaus- Zurückziehen quittiert.

Neuester, erfolgreicher Trick: Betriebsamkeit vortäuschen, erst mal in der Küche nach Glasreiniger und Mikrofasertuch kruschteln, dem Kindchen erklären, dass irgendwer heute klebrige Finger gehabt haben muss und wir kurz den Flügel putzen müssen. Kind kriegt die Sprayflasche und wird gebeten, auf die Tasten zu sprühen. Die meisten sind das grosse Ding nicht gewöhnt und sprühen so vorsichtig, dass es nur leicht senkrecht nach unten tropft. „Jetzt noch mal, baller drauf wie James Bond!“ Das gibt schon ein ganz anderes Ergebnis. Und da wir schon dabei sind, machen wir auch noch das Pult und den Deckel und die Seiten sauber, bis der Flügel strahlt wie am Tag seiner Auslieferung. Das vor ein paar Minuten noch unansprechbar schlappe Wesen hat grossen Spass, lacht sogar mal, möchte mal wieder in den Flügel reingucken und mit den Fingernägeln auf den Saiten Engelsmusik machen – und wird wieder ernst: „Hast du schon mal einen Engel gesehen?“ Kleines Pling an den Saiten, beiläufiges Gucken. Hm, nein, warum? Weil jeder von Engeln erzählt, aber seine Mama hat noch keinen gesehen und der Papa auch nicht. Und er selber auch nicht. Deshalb – ob ich glaube, ob es überhaupt Engel gibt. Wir reden lang über Engel oder Boten oder einfach gute Wesen, während er an den Saiten zupft und mich nicht anschaut. Aber ich bemerke die echte Verstörung, das Schwanken seines Weltbilds. Und dann – das Baby. Ob ich glaube, ob es das Baby gab. Welches Baby? Na, das an Weihnachten, ob ich glaube, dass da echt Könige mit Geschenken gekommen sind. Das geht doch eigentlich nicht. O wei. Wir reden, so lange er das möchte. Können die brennenden Fragen überhaupt nicht klären (Überraschung), und er ist ohnehin ein in sich gekehrter Grübler. Das wird ihn noch lange beschäftigen (Jahrzehnte?!), aber plötzlich: „Ich kann „Kommet ihr Hirten“ mit beiden Händen, willst du es hören?“ Und wir haben eine wunderbare restliche Klavierstunde, nach der er seiner Mutter entgegen rast und von einem Fuss auf den anderen hüpfend erzählt, dass wir noch ein Weihnachtslied angefangen haben. Und alles scheint wieder gut zu sein… Der Glasreiniger scheint mehr als das Klavier geklärt zu haben, oder zumindest äusserlich in Ordnung gebracht zu haben.

DSCF7916Wenn ich länger drüber nachdenke, fällt mir auf, dass kaum ein Alter statisch oder in zwei Worten fassbar ist. Irgendwie sind diese kleinen Seelen ständig im Übergang. Und schon wieder im nächsten. Bevor ich so viel mit jüngeren Kindern zu tun hatte, dachte ich, es gibt halt frühe Kindheit, Grundschulkindheit und dann die ganz grosse Umwälzung der Pubertät. Jetzt sehe ich, wie unendlich viele Abstufungen es gibt, die man berücksichtigen sollte. Und dass sie bei jedem Kind zu einer anderen Zeit beginnen. Und auch nicht unbedingt in der gleichen Reihenfolge auftreten. Ich muss meine Schüler fast monatlich neu „vermessen“, um zu verstehen, wo sie grade sind und was sie brauchen. Wenn Wackelzähne mitten in der Klavierstunde ausfallen, ist das ein Zeichen dafür, dass noch mehr im Übergang ist. Das bisschen Blut ist weniger schlimm als die Seelenqualen, wenn sie mich fragen, ob ich schon mal einen Engel gesehen habe. Und wenn mir das gleiche kleine Menschlein cool weismachen will, dass es den Nikolaus nicht gibt, sehe ich, dass grade das ganze Weltbild im Schwanken ist. Manche machen es mit sich selber aus, andere wollen fast die ganze Klavierstunde drüber reden und ich bin mir der Verantwortung bewusst, dass, was ich antworte, eine Wirkung haben kann.

Kinder merken sofort, wenn sie verschaukelt oder nicht ernst genommen werden. Da bleibt nur: aufrichtig und nach bestem Wissen und Gewissen zu antworten. Aber heimlich wünsche ich mir, dass jeder so lange wie möglich im Zustand des Wunderns bleiben kann. Oder sich irgendwo in seinem Herzen die Fähigkeit bewahrt, an eigentlich unglaubliche Dinge zu glauben. Das wäre doch das Schönste, was wir Kindern mitgeben können.

P.S.: Wie immer kommt der Knüller am Nachmittag, nachdem ich einen Blogartikel veröffentlicht habe: da hat mir tatsächlich eine Neunjährige erzählt, dass der Nikolaus letztes Jahr der Biobauer war. Zu erkennen an den Gummistiefeln.

Jetzt bin ich von uns allen die letzte, die an den Nikolaus glaubt.

Mehr Nebel, bitte!

WallFon.com_22601Meine Sonntagszeitung und ich haben eine besondere Beziehung: ich kann schwer ohne sie leben, aber manchmal muss sie sehr geduldig warten, bis sie zu Ende gelesen wird. Oft über den nächsten Sonntag hinaus. Aber ich will mir ja nichts entgehen lassen, also schlug ich heute morgen eine Seite im Wissenschaftsteil um und – hatte einen traumhaft bebilderten doppelseitigen Artikel zum Phänomen Nebel in den Händen. Und dachte: super, drei Tag, nachdem ich mich im Blog darüber ausgelassen habe, stosse ich auf den eine Woche alten Zeitungsartikel. Sehr originell von mir, werden meine Leser denken (falls sie auch der FAZ verfallen sind). Und wenn es schon so unoriginell ist, erlaube ich mir, die gleichen Bildmotive zu verwenden – die sind wirklich traumhaft schön.

Nebel-201020423867Was wirklich interessant ist: meine subjektive Wahrnehmung trügt leider nicht – es ist wissenschaftlich bewiesen , dass der Nebel auf der Welt abnimmt. Was möglicherweise mit dem Klimawandel zu tun hat. Offensichtlich lässt sich Nebel genau so schwer vorhersagen wie ein Sommergewitter – kein Wunder, es entspricht seinem Charakter, nicht leicht zu fassen zu sein. Trotzdem ist es ein spezieller Zweig der Meteorologie, und es gibt sogar Nebelkonferenzen (da wär ich gern mal dabei!). Und eine Karte der Nebelhäufigkeit in Deutschland war auch abgedruckt – wir im Süden, vor allem an der Donau, sind noch relativ begünstigt. Der nebelreichste Ort Deutschlands ist der Brocken, wobei hier die Nebeltage von 306 auf 234 im Jahr zurückgingen. Ein katastrophaler Rückgang – und manchmal denke ich, sind wir blind? Warum werden wir nicht aufmerksam auf solche signifikanten Veränderungen und Zeichen? Später will’s keiner gesehen haben.

aktuell_Nebel2011_01Gute andere Wohnorte für Fans der zarten Schwaden wären auch die Isle of Skye, Neufundland und San Francisco. Werd ich mir merken für die Urlaubsplanung… Trotzdem sehne ich mich nach dem guten alten Nebel hier. Der Inn war wirklich schon mal produktiver. Ich liebe die Tage, wenn man früh am Morgen zwischen Wasser oder Land nicht unterscheiden kann, weil alles in weiches Grau gehüllt ist. Und diese Bilder aus dem Artikel von schleierumwaberten Burgen oder den Hügelketten, von denen nur die Spitzen leicht aus dem Grau schauen – ich hör das gleich in Musik, stelle mir sanft verschwimmende Übergänge dar… Ich glaube, ab jetzt werd ich den Begriff „Pedalnebel“ nicht mehr in abwertender Weise verwenden, sondern gezielt mit meinen Schülern üben, wie man einen zarten Nebel hervorruft. Oder einen undurchdringlich dunklen. Oder einen, der sich langsam lichtet.

Ich kenne jemand, der mag Wolken und schaut sie immer bewusst an. Ich mag die Wolken, wenn sie bis zu uns runtersteigen und uns einhüllen. Es hat was Magisches, beunruhigt vielleicht auch ein bisschen, wenn auf einmal feste, grosse Strukturen wie besonders hohe Kirchtürme halb verschwinden. Und nicht als computeranimierter special effect, sondern so, dass wir tatsächlich keinen Einfluss darauf haben und eigentlich nur staunen können… Mehr Nebel, bitte!

(Fotos: wallfon.com, duden.de, burg-hohenzollern.com)

Wo bleibt der Nebel?

DSCF8630„Früher, als ihr noch lange nicht auf der Welt wart und die Tante noch jung, da gab es richtig dunkle, kalte Herbsttage, an denen man es sich zuhause gemütlich machte. Manchmal lag im November schon Schnee. Auf jeden Fall gab es viel, viel Nebel. Morgens über dem kleinen Fluss unten im Tal, oder abends, wenn es langsam dunkel wurde und wir noch im Wald waren zum Kastanien- und Eichensammeln. Dann zogen die Nebelschleier langsam von den Wiesen hoch, es wurde kälter und feuchter und wir wussten, dass wir bald nach Hause mussten. Blätter haben wir auch gesammelt und gepresst und zwischen Transparentpapier geklebt, um dann Martinslaternen zu basteln. Mit denen wir tatsächlich singend durchs Dorf gezogen sind – es gab dunkle Stellen, an denen unsere schwankenden Lichtchen die einzige Beleuchtung waren. Wir waren in eine gemütliche, heimelige Dunkelheit gehüllt, die nichts Schlimmes hatte, weil wir wussten, dass ganz in der Nähe ein warmes Zuhause wartet, in dem Kerzen angezündet waren, heisser Kakao und vielleicht Gewürzkuchen wartete und wir für Advent basteln würden. Wir waren voller Vorfreude auf die ganzen gemütlichen Erlebnisse der dunklen Jahreszeit – Vorlesen, Adventskalender öffnen, Weihnachtslieder auf der Flöte üben, der ganze märchenhafte und ersehnte Glanz der Weihnachtszeit…“

Ich komme mir tatsächlich vor wie die uralte, weisshaarige Tante im Lehnstuhl, wenn ich an die Novembertage meiner Kindheit zurückdenke. Jetzt gibt es Halloween und vorgefertigte Verkleidungssets im Plastikbeutel – nix mehr mit Basteln oder Selbermachen. Und überhaupt – Halloween… Und das Wetter: im Moment werden wir mit Nebel nicht grade verwöhnt, und es fehlt mir enorm. Meine Haut, meine Haare, mein ganzes Ich blühen auf und werden lebendiger, wenn die Luft schön feucht und undurchsichtig ist. Und was haben wir? Seit ungefähr zehn Tagen die reinsten Frühlingstemperaturen. Ständig Sonnenschein und dunkelblauer Himmel. Gestern hatte es 20 Grad, als ich am Inn lief. Ohne Jacke oder Schal. So angenehm und schön das auch sein mag – es passt nicht. Ich bin schon auf anderes eingestellt und habe mich nach dem zu langen und heissen Sommer auf Dunkelheit und Kerzenlicht gefreut.

DSCF8617Gestern gab es ein völlig unzeitgemässes abendliches Erlebnis, das ich festhalten muss, weil es so im November eigentlich nicht vorkommt: eine Schülermutter fragte, ob sie was von unserem Lavendel im Garten haben könnte, weil sie mit den Kindern Seifen als Weihnachtsgeschenke basteln wollte. Wir tappten also nach der Klavierstunde ihres Kleinen in den fast ganz dunklen Garten. Es war warm, und Amseln zischten laut schimpfend über unseren Köpfen, als wäre April. Wir schnitten einen Haufen Lavendel ab (gut, dass ich bisher noch nicht zum Zurückschneiden gekommen bin!), und der Kleine piepste immer wieder: „Mama, da ist ein ganz saftiger!“. Und dann hatte ich die Idee, dass Rosen in den Seifen sicher auch gut wären. Madame Knorr, die allersüsseste Duftrose aller Zeiten, überliess uns noch drei betörend duftende Blüten. Und Madame Alfred Carrière, die immer höher in den Kirschbaum klettert, hatte noch zwei nach Nelken und Aprikosen duftende Blüten für uns. Eine traumhafte Ausbeute. Meine Schülermutter hielt mir ihre beiden Hände hin, voll mit Rosen und Lavendel, und sagte: „Riechen Sie mal. Wir sind wieder im Sommer“. Und es war wahr. Ich hätte nie gedacht, dass so späte Blüten noch so süss und intensiv duften können.

Für mich als Kind roch der November nach Zimt und Kartoffelfeuer und man konnte ohne Schal nicht raus. Mein kleiner Schüler erzählt möglicherweise in 40 Jahren, dass man im November noch keine Jacke brauchte und Rosen und Lavendel im Garten schneiden konnte. Seltsam.