Archiv der Kategorie: am Grübeln

„She walks among the loveliness she made“

„She walks among the loveliness she made,

(…)

Each flower her son, and every tree her daughter.“

Dieser Abschnitt aus „The Land“, dem furchteinflössend langen Gedicht von Vita Sackville-West, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich fand ihn genau so zufällig wie das zauberhafte Gedicht über die Fritillaria, das ich im letzten Artikel erwähnt habe, und auch hier hatte ich das Gefühl, völlig unerwartet ein funkelndes kleines Juwel gefunden zu haben, zu dem ich immer wieder zurückkehren musste. Abgesehen von der poetischen Beschreibung des Frühsommergartens auf dem Höhepunkt seiner Pracht gefällt mir so besonders, dass die Urheberin des Gartens nach Stunden, Monaten, Jahren harter körperlicher Arbeit einen Moment geniesst, in dem sie entspannt und glücklich einen Schritt zurücktritt und einfach die Schönheit um sich herum geniesst. Aber in dem Bewusstsein, dass sie ohne sie nicht da wäre und dass ihr die Pflanzen und Bäume so nahestehen wie ihre eigenen Kinder.

Vita vollendete „The Land“ 1926. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie seit 1915 den traumhaft schönen Garten in Long Barn angelegt – in wenigen Jahren sollten sie nach Sissinghurst ziehen und dort einen Garten von ganz anderen Dimensionen planen. Wie schön, dass sie diese Art Zwischenbilanz  in dem Gedicht festgehalten hat. Vielleicht hätte sie es nicht früher schreiben können als jetzt, mit Mitte 30. Ihr Leben war immer noch turbulent genug, aber sie hatte das Bedürfnis, innezuhalten, kurz zurückzublicken und die Kraft und Freude, die ihr ihr Garten gab, zu verewigen.

Ich erkenne mich hier wieder, auch in dem Bedürfnis nach Reflexion. Das liegt tatsächlich am immer weiter fortschreitenden Alter… Jeder kann auf seine ganz persönliche Art von loveliness zurückblicken (ich liebe dieses Wort, ich will und kann es gar nicht angemessen übersetzen!): auch ein Garten, Kinder, Manuskripte oder Bücher, Marmeladengläser, Gemälde – einfach das, was einem viel bedeutet im Leben und in das man viel Energie gesteckt hat. Bei mir sind es seltsamerweise nicht meine Aufnahmen oder meine gesammelten Konzertprogramme. Die sind zu eindimensional und eigentlich tot und Vergangenheit. Wie die Dichterin bin ich stolz auf das, was lebendig und in Entwicklung ist und wo ich direkt die Auswirkungen meiner Bemühungen sehe – meine Schüler, wenn sie spielen. Das selbstvergessene, aber hellwache Schreiten im Gedicht erinnert mich an eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, wenn ich in Erding Pause habe. Angeblich mit meinem Teebecher beschäftigt, gehe ich den langen, langen Flur im Musiktrakt auf und ab, ohne dass meine Schüler das wissen, und höre ihnen beim Üben oder Spielen zu. Ich erkenne sie durch geschlossene Türen, natürlich, und höre manchmal so Schönes, dass ich einfach glücklich bin. Und manchmal derart zielgerichtetes, vernünftiges Üben, dass ich das am liebsten kommentieren würde  – was ich nie tue, denn dann wäre es vorbei mit dem gelösten und privaten Spielen. Das sind für mich die wahren Geschenke, die echten Glücksmomente. Nicht die gelungenen öffentlichen Konzertauftritte oder Wettbewerbserfolge, sondern das einfach von der Sonne beschienene am-Klavier-Sein. Wie die Blumen im Garten, die auch nicht über sich nachdenken.

Und es gibt noch eine andere Art von loveliness, im wahrsten Sinn des Wortes, die sich bei den Schülern mit der Zeit entwickelt hat. Da ich an der Schule ausser einer Geigenkollegin sechs männliche Kollegen habe, häufen sich die Mädchen bei mir. Nach den benoteten Vorspielen, die in Gruppen von sechs oder acht Schülern stattfinden, bleiben sie meistens im Kreis um den Flügel sitzen und reden über das Vorspiel. Eigentlich habe ich diese Zeit eingeplant für meine Notizen und um die Noten einzutragen, aber es gibt manchmal einfach Redebedarf, falls jemand besonders aufgeregt war oder irgendwas nicht so geklappt hat, wie man es sich gewünscht hat. Was mich immer wieder berührt: die nette, respektvolle Art, in der sie sich unterhalten. Frauen können ja so zickig sein untereinander, vor allem, wenn sich eine ungerecht behandelt fühlt, aber meine Mädchen sind durch alle Jahrgansstufen wirklich nett zueinander. Das soziale Lernen im musischen Zweig ist kein Fremdwort. Alle sind im gleichen Boot, jede weiss, dass sie auch irgendwann am Flügel sitzen darf. Deshalb ist die Kritik sehr konstruktiv und die Aufmunterung wirklich lieb. Es gibt Minuten, da halte ich mich völlig raus und staune über das Einfühlungsvermögen meiner Schülerinnen. Und strahle innerlich, wenn eine sagt: „schau, die Frau Sommerer sagt auch immer…“. Ich weiss, dieser Umgangston ist nicht mein Verdienst. Aber dadurch, dass ich solchen Gesprächen Raum gebe und sie durch Nachfragen ins Rollen bringe, lernen die Mädchen eine Art der Lieblichkeit kennen, die mir wichtig ist. Eigentlich wichtiger fürs Leben, als wenn sie eine Haydn-Sonate gut spielen können.

There, in the sunlit grasses green as jade,

She walks; she sees her squadrons at attention,

And, laughing at her flowery escapade,

Stretches her hands towards her dear invention.“

Und wenn ich sie irgendwann sanft hinausbefördere mit den Worten „Ihr habt seit einer halben Stunde frei!“ und einige sich doch wieder um den Flügel scharen, um die neue Hausaufgabe zu besprechen, möchte ich wie die Dichterin lächeln und die Hand nach ihnen ausstrecken – dieser Impuls ist mir so vertraut!

Es ist nie zu spät…

Auf der Suche nach einer Klavierschule für Erwachsene stiess ich auf Pamela Wedgwoods „Es ist nie zu spät, Klavier zu lernen“. Nicht nur, dass meine Schüler und ich die „Jazzin‘ about“ – Reihe von ihr schätzen und lieben – ich war begeistert von diesem lustigen und positiven Titel. Erwachsene sind ja oft etwas ängstlich oder voller Zweifel, ob sie’s wirklich anpacken sollen, und da verbreitet so eine Überschrift gleich die nötige positive Grundeinstellung. Jetzt geht diese Klavierschule in die erste Testphase hier bei mir – ich muss sagen, die erste Stunde mit der Begleit-CD war schon mal richtig nett und motivierend. Der Knackpunkt einer Klavierschule ist für mich immer, wie man den Übergang von der Schule ins richtige Leben, sprich: zu Originalliteratur, schafft.  Wie gut gerüstet man technisch ist, wie gut die Unabhängigkeit der Hände vorbereitet wurde, wie gross der Tonumfang ist, den man kennengelernt hat, ohne dass ich zu viele Extrainformationen oder spezielle Übungsstücke beisteuern muss… Ich bin auf jeden Fall gespannt darauf, für meine Erwachsenen, die ich bisher immer mit Kinderschulen traktiert habe,  ein Heft ohne Teddybären und Mäuse kennenzulernen!

(Von den Schulen für Erwachsene, die  zur Zeit auf dem Markt sind, überzeugt mich keine hundertprozentig, im Gegenteil: nachdem ich sie mit mehreren Schülern ausprobiert habe, verlasse ich mich auf die Kinderschulen).

Auf der Fahrt nach Erding habe ich immer Zeit, meine Gedanken wandern zu lassen. Der geniale Titel ging mir nicht aus dem Kopf. Je mehr ich drüber nachdachte, desto allgemeiner und philosophischer wurde er. Im Grunde genommen entlarvt er eine grosse, bequeme Ausrede für viele Dinge im Leben. Ab einem gewissen Alter ist es einfacher, zu behaupten, für manche Dinge wäre es zu spät. Dabei wollen wir uns nur nicht zu sehr anstrengen! Zwei Dinge, bei denen ich mir bequemerweise vormache, es wäre zu spät: anständig italienisch zu lernen, und sich endlich mit dem Zehnfingersystem zum Schreiben vertraut zu machen.

Doch es ist nie zu spät, um

– weniger Schokolade zu essen

– einen lieben Brief zu beantworten

– endlich eine lange geplante Einladung auszusprechen

– den Schrank mit Zeug im Keller auszumisten

– eine bewunderte Geigerin ganz schüchtern zu fragen, ob sie mal mit mir spielen will, und erstaunt festzustellen, dass sie das seit Jahren auch will

– völlig unbekannte Literatur dafür auszusuchen und festzustellen, dass Clara Schumanns Romanzen op.22 wahre Juwelen sind

– über seinen Schatten zu springen

– ……………………….und?

A rainy day

Nach acht Wochen Erkältung und Husten, in denen ich nur zwei Tage Unterricht abgesagt habe, lag ich über Weihnachten mit einer Lungenentzündung flach. Jetzt hatte ich genug Zeit, über mein falsch verstandenes Pflichtbewusstsein nachzudenken und mich zu fragen, was wirklich dahinter steckt: die Angst, ein schlechtes Vorbild für meine Schüler zu sein, wenn ich bei jedem Wehwehchen absage, oder das Grausen vor unendlich vielen Nachholstunden oder komplizierten Rücküberweisungen des Honorars.

Es ist wohl eine Kombination aus beidem. Ich erwarte von meinen Schülern ja auch, dass sie sich manchmal zusammenreissen, und um glaubhaft zu sein, muss ich selber das leben, was ich von ihnen verlange: pünktlich sein, vorbereitet sein, selber auftreten und Konzerte spielen, überzeugt davon sein, dass wir Musik unter die Leute bringen müssen, und: eben nicht wegen jeder Kleinigkeit abzusagen. Und vor den Eltern möchte ich auch nicht als diejenige dastehen, die ein paar Mal im Halbjahr absagt oder die Stunden verschiebt.

Und dann ist da das Problem, das alle Selbständigen kennen: kommt man mit Nachholstunden nicht mehr nach (was schnell der Fall ist, da fast jeder Schüler von sich aus auch mal absagen musste), bleibt nur die Rückerstattung, also der Verdienstausfall. Das kann sich schnell summieren und auch ein Grund sein, unvernünftigerweise durchzuhalten. In den letzten Wochen habe ich meinem Körper wirklich Gewalt angetan und mich fühlbar krank zu allen möglichen Veranstaltungen geschleppt. Ich musste bitter dafür bezahlen, indem ich meine liebste Zeit des Jahres nur wie im Nebel mitbekommen habe und die Weihnachtstage fast komplett neben dem geliebten Christbaum verschlafen habe. Das soll nicht mehr vorkommen! In meinem Budget berücksichtige ich, typisch deutsch, das Auto, die Steuer, die Sondertilgung fürs Haus, die Absicherung für eine ferne Zukunft als Rentnerin – doch es gibt keinen Posten, der auf mich und eventuelle ungünstige Lebenslagen in der Gegenwart Rücksicht nimmt. Ein zusätzliches Krankentagegeld würde ungefähr ein Drittel meines kompletten Krankenkassenbeitrags in Anspruch nehmen und bringt ja nichts bei einer zweiwöchigen Erkältung. Also muss ich mich selber kümmern und einfach was ansparen für den berühmten „rainy day“, an dem man aus welchem Grund auch immer nicht in der Lage ist, zu arbeiten.

Zufällig fällt diese Einsicht in die Zeit der allgemeinen guten Vorsätze. Dann kann ich gleich noch hinzufügen, dass ich in Zukunft etwas netter zu meinem Körper sein sollte und nicht stolz darauf, trotz allem immer weiterzukämpfen. Was einen dann umbläst, ist wesentlich unangenehmer als zuzugeben, dass man auch nur ein Mensch ist.

in Salzburg - weniger ist mehr!Und noch was habe ich gelernt: auch wenn nicht alles hunderprozentig perfekt vorbereitet war und manches ganz ungewohnt erst in allerletzter Minute fertig wurde – Weihnachten ist doch gekommen, und irgendwie war das, was ich davon mitbekommen habe, doch schön. Das Haus muss nicht noch toller aussehen – ein paar Lichterketten, ein Kranz an der Tür und ein bisschen Dekoration auf dem Kaminsims reichen. Vier Sorten Plätzchen sind mehr als genug. Der Baum ist wunderschön mit sechs roten und zwölf goldenen Kugeln und kleinen Schülergeschenken dran – dieses Jahr waren es viele wunderschöne Origami-Sterne. Der geschenkte Dresdner Stollen schmeckt besser als die sechs, die ich jedes Jahr backe. Die Schüler-Weihnachtsfeier funktionierte auch mit gekauften Lebkuchen und Chips und einem lockereren Programm. Tatsächlich war dieses Weihnachten nicht spürbar schlechter als sonst, obwohl ich mir höchstens 10% des üblichen Vorbereitungsstress machte. Das darf so bleiben!

Die Bilder sind von einem Adventsausflug nach Salzburg (nach dem Motto: Husten in Österreich…). Mir gefällt die schlichte, aber wunderschön frische Dekoration in grün und weiss!

 

Ausreden: Innerer Kritiker

Egal, wie alt ich werde, bleibt meine Lieblingsausrede, dass andere es ohnehin besser können. Inzwischen weiss ich, dass es schon immer so war und immer so bleiben wird. Aber ist das ein Grund, seine Kunst zu vernachlässigen? Es sollte uns anspornen und jeden Tag neu motivieren, auch so gut zu werden. Und obwohl es messbare Kriterien gibt, was gut ist und was nur mittelmässig, könnten wir versuchen, es wertfreier zu formulieren: die anderen spielen es anders. Wir bemühen uns um die bestmögliche Interpretation, beachten die Tempovorschriften ganz genau, üben und üben, bis wir auch die schwersten Läufe in diesem Tempo meistern können, und auch wenn es dann nicht die gültige Aufführung wird, ist es doch unsere ganz individuelle, mit der wir unsere eigene Botschaft überbringen können. Wenn ich an die paar bemerkenswerten Aufführungen zurückdenke, die man in einem Leben überhaupt erleben kann, dann kann  ich nicht mehr sagen, ob die Metronomzahlen exakt gepasst haben oder alle Zweiunddreissigstel gleich brillant waren – was mich in dem Moment berührt hat, war etwas ganz anderes: ein zeitloser Moment der Kommunikation mit einem längst verstorbenen Komponisten, ein Blick in die Ewigkeit und das Gefühl „genau so ist es gemeint“. Unser höchstes Ziel sollte es nicht sein, so perfekt wie eine bewunderte Aufnahme zu werden, sondern so gut zu spielen, dass wir unsere Zuhörer in der Seele berühren.

Eine andere innere Stimme, die genau so destruktiv wirken kann, sollten wir auch ignorieren: den immer gegenwärtigen inneren Kritiker. Man kann ihn auch Zweifel oder Skepsis nennen – letzlich ist es ein seltsamer Teil von uns, der unsere kreativen Bemühungen sabotieren will und dem wir nur zu leicht nachgeben. Soll ich wirklich einen Kuchen mitbringen, wenn XY kommt, die es so viel besser kann? Soll ich ihr was Selbstgestricktes schenken, wo sie doch viel Schöneres produziert? Wieso soll ausgerechnet ich Ravel spielen können, mir fehlt die ganze Eleganz und Leichtigkeit? Dieses Phänomen wird von Julia Cameron in „Der Weg des Künstlers“ beschrieben, und erst, als ich es in ihren Worten las, wurde mir der ganze Sachverhalt bewusst. Lässt man sich auf zermürbende Diskussionen mit dem inneren Kritiker ein, ist das Projekt in genau dem Moment zum Scheitern verurteilt, vor allem, wenn es sich in einem frühen Stadium befindet. Man kann ja erst mal arbeiten und üben und dann eine wohlwollendere, aber auch kritische Bestandsaufnahme mit dem Skeptiker unternehmen. Selbstkritik ist unerlässlich und auch eine hohe Kunst. Wir sollten jedoch nicht zulassen, dass sie auf destruktive Art alle unsere Bemühungen im Keim erstickt.

Ausreden: Kunst und Künstler

Als mir kürzlich bewusst wurde, dass ich ohne triftigen Grund und quasi aus Versehen fast 20 Jahre gewartet habe,  um ein bestimmtes Stück einzustudieren, fing ich an zu überlegen, was uns manchmal an der Ausübung unserer Kunst hindert. Wenn ich mein Klavierspielen, mein Schreiben, mein Kochen und Backen, kurz meine ganzen kreativen Betätigungen ganz hochgestochen  als „Kunst“ bezeichnen darf, bemerke ich den grundlegenden Unterschied, dass die Musik einfach mit akustischen Emissionen verbunden ist, die von anderen als störend empfunden werden könnten. Daher sind die Zeiten, in denen man ernsthaft am Klavier und nicht am E-Piano üben kann eingeschränkt. Was wieder Raum für Ausreden geben könnte. Seit ich entdeckt habe, wie gern ich schreibe, merke ich, wie produktiv ich in den ganz frühen Morgenstunden bin. Wie schön wäre es, wenn ich diese Energie auch fürs Klavierspielen nutzen könnte! Manchmal habe ich abends auch noch mal ein kreatives Hoch, wenn ich im Advent am Marmortisch im Wintergarten endlos und selbstvergessen Plätzchen zusammensetze und verziere. Doch normalerweise bin ich immer an feste Übezeiten gebunden und muss meinen Tag entsprechend ausrichten. Wenn die Muse dann grade Pause hat, kann alles etwas mühsam werden – aber ich habe gelernt damit umzugehen.

Das dürfte aber die einzige äusserliche Ausrede sein, warum man etwas vor sich herschiebt. Alles andere ist selbstgemacht. Es geht schon mit dem Selbstverständnis los, dass ich mich schwertue, meinen Lebensinhalt als „Kunst“ zu bezeichnen. Aber was soll es sonst sein? Es ist definitiv etwas, das über den Alltag hinausgeht und im besten Fall Jahrhunderte überdauert. Kunst bringt Schönheit, Trost und Sinn in unser Leben. Gerade weil immer wieder daran gespart wird und überlegt wird, wie viel davon in der allgemeinen Bildung nötig und bezahlbar ist, sollten wir uns selbstbewusst dafür einsetzen. Einfach mit dem Argument, wie die Welt denn ohne Kunst aussähe – eine Hochzeit ohne Musik, ein kahles Krankenhaus ohne Bilder an den Wänden, ein stummes Tanzvergnügen. Egal, wie bescheiden unsere Anstrengungen sind, sollten wir uns trauen, sie als „Kunst“ zu bezeichnen und ihnen eine Daseinsberechtigung in unserem Leben zugestehen. Es mag egoistisch erscheinen, sich am Tag eine Stunde ganz für sich allein zu reservieren. Doch wenn man sich bewusst macht, dass es letzlich der geistigen und seelischen Ausgeglichenheit dient und wir dadurch für unsere Umwelt umgänglicher werden, ist die Zeit gut investiert.

Zum Selbstverständnis gehört es auch, das Bild des Künstlers anders zu definieren. Mit einem „richtigen“ Künstler verbindet man schöpferisches Chaos, kreative Anfälle mitten in der Nacht und daraus resultierend wenig bürgerliche Schaffenszeiten, ein unkonventionelles Leben, exzentrisches Verhalten, exzessive Genüsse. Sicher gibt es einige, die wirklich so sind, aber genau so sicher gibt es mehr als genug, die nur so tun, als ob, und alle vermeintlichen Vorteile dieser Sonderstellung mitnehmen wollen. Mein Vorbild eines kreativ Schaffenden sind Thomas Mann und Richard Strauss, die sich Morgen für Morgen in ihrem bürgerlichen Heim an ihren bürgerlichen Schreibtisch gesetzt haben und einfach diszipliniert vier Stunden lang geschrieben haben. Was bei dieser Konsequenz und Zurückgezogenheit entstanden ist, ist atemberaubend. Und auch wenn das, was wir produzieren, im Vergleich zu diesen Grössen höchst bescheiden ist und eigentlich nicht in einem Atemzug mit den beiden genannt werden sollte, spornt es mich an, nicht nur Hausfrau und Lehrerin zu sein, sondern in meiner kleinen Welt auch „Künstlerin“. Und zwar in einem Umfang, in dem ich mich selber wohl fühle. Wenn die Bügelwäsche liegen bliebe, könnte ich nicht mehr entspannt üben. Andererseits kann ich aus dem Kuchenbacken oder Gärtnern auch ein kreatives Ereignis machen, das meine Seele tagelang befriedigt. Und mich wieder zu anderem inspiriert. Ich bin sozusagen eine „undercover“-Künstlerin, und das ist im Moment genau das Richtige: ich kann verschiedene Lebensstile vereinen, mich ausleben und trotzdem genug für meine Umwelt da sein. Wahrscheinlich muss man sich vom „ganz oder gar nicht“- Anspruch verabschieden. Auch wenn man auf diese Art nie die höchsten Höhen erklimmen wird, kann man doch ein sehr reiches und erfülltes Leben führen. Und das ist sicher besser, als die Kunst ganz auszuklammern und unbewusst deshalb frustriert zu sein.

(in einer längeren Version veröffentlicht in „Pianonews“ 6/2012)

„Hingabe an seine Arbeit“

„Es war tröstlich zu wissen, dass sie doch nicht ganz so merkwürdig war, dass es noch andere Menschen gab, die Freude an stillen Herausforderungen und einem ruhigen Leben fanden. Menschen, die so sehr in ihren Gedanken wie in der realen, dinglichen Welt lebten. Es erinnerte sie daran, dass wahre Hingabe an seine Arbeit, an seine Kunst – egal wie klein oder geringfügig diese auch erscheinen mochte – in Wahrheit einen Glauben und eine feste Bindung an das Leben ausdrückte.“

Daphne Kalotay, „Die Tänzerin im Schnee“

Eigentlich sollten dieses Zitat und das Bild der ganze inspirierende Artikel sein, doch drei Stunden nach der Veröffentlichung hatte ich meine Schwägerin auf dem Anrufbeantworter: „Du hast in deinem neuen Artikel anscheinend den Titel vergessen, deshalb können wir ihn nicht ganz lesen. Änder das mal, wir sind schon gespannt.“ Nun ja. Warum hat mich diese Passage aus dem Roman so angesprochen?

Vorgestern war ich bei meinem wirklich netten Steuerberater, der zum Abschluss unseres Gesprächs meinte: „Ich könnte nie Kinder unterrichten!“, worauf ich voller Inbrunst entgegnen konnte „Ich könnte mich nie den ganzen Tag mit Steuerangelegenheiten befassen!“. Und schon früher merkte ich, dass ihm leicht schleierhaft ist, was ich eigentlich den ganzen Tag treibe. Laut eigener Aussage kennt er sich überhaupt nicht mit Musik aus. Ich denke, da ist er repräsentativ für den grössten Teil der Bevölkerung. Und dann gibt es die, die sich durchaus auskennen und glauben oder wissen, dass Instrumentallehrer nicht unbedingt Grossverdiener sind und eigentlich eher unser Mitleid verdienen. Manchmal macht es mich richtig traurig, wenn ich spüre, wie wenig Ansehen unser Beruf in einer Welt hat, in der Kompetenz und Erfolg hauptsächlich am Kontostand gemessen werden. Andererseits bin ich es leid, mich zu rechtfertigen, dass es mir gar nicht so schlecht geht. Sogar so gut, dass ich einen Steuerberater brauche! Und mein immaterieller Reichtum, der sich anhäuft aus Fortschritten,Wettbewerbserfolgen oder gelungenen Konzertauftritten  meiner Schüler, ist so gross, dass ich froh sein kann, dass man den nicht auch noch versteuern muss. Wenn, dann sollte das unter „Vergnügungsteuer“ fallen…

Auf dem Heimweg am Fluss entlang war ich dann doch nachdenklich, ob man sich in unserer Gesellschaft so ausschliesslich der Schönheit und Pflege unseres kulturellen Erbes widmen darf. Ob es nicht moralisch besser wäre, Leben zu retten, Leid zu lindern, oder zumindest andere sicher durch den Paragraphendschungel der Steuergesetzgebung zu leiten. Wenn es sein müsste, könnte ich sicher auch ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein. Doch ich bin in der luxuriösen und geschichtlich sicher nicht oft dagewesenen Lage, mich als Frau einfach meinen Neigungen widmen zu können. Also zum Broterwerb! Und mir ist klar, dass die Musik  meinem Leben viel Sinn gibt. Wie es oben heisst: dass wahre Hingabe an seine Arbeit den Glauben an das Leben ausdrückt. Und ich bin in der wunderschönen Lage, dass diese Arbeit nicht mit dem Erreichen irgendeines Rentenalters vorbei sein muss. Ich weiss nicht, ob die Kinder noch so gern zu mir kommen, wenn ich mal alt und runzlig bin, aber ich kann hoffentlich immer noch spielen und schreiben, und ich werde jeden Tag etwas haben, für das es sich aufzustehen lohnt. Deshalb halte ich mich für unglaublich reich und privilegiert!

Als nachmittags ein Schüler in letzter Minute absagte, machte ich mir einen Tee und vertiefte mich auf dem Sofa wieder in „Die Tänzerin im Schnee“. (Genau so stellt sich mein Steuerberater wahrscheinlich mein Dasein vor…) Und dann stolperte ich über diese Stelle – es war wie ein Wink vom Schicksal, ich fühlte mich bestätigt in dem, was ich tue, und dachte gleich“ Das muss in den Blog!“. Auch, um diesen wunderbaren Roman ein bisschen bekannter zu machen. Eine Zufallsentdeckung in der Buchhandlung letztes Wochenende, als ich mich für die vielen Extraproben, Extrakonzerte und den anstrengenden „Jugend musiziert“-Tag selber belohnen wollte. Ich gönne mir sehr selten gebundene Bücher, obwohl ich die viel lieber habe. In diesem Fall bin ich richtig froh, dass ich zugeschlagen habe, denn ich werde es jedem aufs Auge drücken, der es leihen mag!  Es ist eins der Bücher, bei dem man richtig körperlich traurig wird, wenn man es zu Ende gelesen hat. Und – ich habe am gleichen Abend noch mal  in der zweiten Hälfte angefangen, weil ich die Figuren noch nicht verlassen wollte und auch den beneidenswerten Schreibstil von Daphne Kalotay weiter geniessen wollte. Zur allgemeinen Handlung findet man genug im Internet, nur kurz zu den beiden Personen, die das Zitat betrifft: sie hat Kunstgeschichte studiert und ist Juwelenexpertin für ein Auktionshaus, er ist Professor für russische Literatur und übersetzt das übersichtliche Werk eines kaum gelesenen Lyrikers. Was für eine wunderbare Bestätigung für mich, dass es Leute gibt, die ähnlich exotische Berufe wie ich haben und trotzdem eine Daseinsberechtigung auf dieser Welt! Das war genau das, was ich an diesem Tag gebraucht habe!

Ein Engelchen auf meinem Flügel

Ich komme täglich mit vielen Kindern in Berührung: bei der Arbeit sehe ich meine Schüler und deren Geschwister, am Wochenende krabbeln oft genug die Kinder meiner Freundinnen oder meine Nichten und der Neffe auf mir herum. Ich dachte immer, dass Kinder etwas ganz Normales für mich sind – manchmal sind sie süss, manchmal unterhaltsam, manchmal gehen sie einem auf die Nerven. Manchmal staune ich über sie, aber mehr in dem Sinn „ich hätte nicht gedacht, dass das in ihrem Kopf herumgeistert.“ Gerade weil ich jede Woche so viele Kinder sehe, war ich nicht darauf gefasst, dass ich aus heiterem Himmel eine fast „mystische“ Begegnung mit so einem kleinen Wesen haben würde.

Letzten Donnerstag stapfte eine kleine fünfjährige Interessentin mit ihrer Mutter zu unserer Haustür herein. Wie immer beim Erstgespräch gab es Tee und Kekse, und obwohl ich davor und danach unterrichte, versuche ich, mir so viel Zeit wie möglich zu nehmen. Diese Kleine war sehr goldig und hübsch, aber ich merkte nach wenigen Minuten, dass mich noch mehr an ihr fesselte, und zwar auf eine ganz seltsame, ungewohnte Art. Sie war einfach sie selber, ganz unverstellt und unverbildet, und sie schien sich völlig wohl zu fühlen in ihrer Haut und an diesem Ort. Obwohl sie mich noch nie gesehen hatte, begegnete sie mir mit viel Zutrauen und Offenheit und einer unverfälschten Freundlichkeit, wie man sie selten erlebt. Am Klavier war sie neugierig und konzentriert und bewegte ihre winzigen Fingerchen vorsichtig über die schwarzen Zweiertasten – so aufmerksam und liebevoll, wie ich es glaube ich noch nie erlebt habe. Es gibt wilde, alberne Kinder, die laut auf dem Klavier herumpatschen, und ich kenne schüchterne, die vor lauter Angst ihre Bewegungen hemmen und kaum einen Klang herausbringen. Diese Kleine hat wie ein zartes Wesen aus einer anderen Welt die Tasten berührt und mit ihrer Konzentration und Ernsthaftigkeit auch mich in meinem Innersten berührt. Ich bin selten so einer vollkommen in sich ruhenden Persönlichkeit begegnet, die sich einfach sicher ist, dass das, was sie grade tut, in dem Moment genau richtig ist. Und mir wurde ganz schwindlig, weil es sich nicht um einen reifen, lebensweisen Menschen handelte, sondern so ein kleines Wesen, das noch gar nicht viel von der Welt gesehen hat. Für mich vereinigte sie alles in sich, was erstrebenswert ist und worum wir uns so hart bemühen müssen: Aufrichtigkeit, Gelassenheit, Selbstsicherheit, Freundlichkeit, Authentizität. Wer kann von sich behaupten, so viele gute Eigenschaften zu haben? Doch fast nur überirdische Wesen!

Seit Tagen denke ich über diese besondere Begegnung nach. Möglicherweise hat sie mich auch auf diese seltsame Art berührt, weil sie der erste Mensch ist, den ich kennenlerne, der am gleichen Tag wie ich Geburtstag hat. Vielleicht hat sie mir deshalb vor Augen geführt, in welchem paradiesischen Zustand, wirklich im Sinne von unschuldigen Zustand, ich auch einmal war. Ich erinnere mich gut an verschiedene Momente in dem Alter, in dem ich in irgendeiner belanglosen Tätigkeit völlig aufging. Ich erinnere mich daran, wie gut es sich anfühlt, etwas Sinnvolles zu tun, ohne auf die Uhr schauen zu müssen oder sich zu überlegen, was für eine Figur man dabei macht… Wann passiert es, dass man diese Unbefangenheit verliert? Ich fürchte, spätestens mit Schuleintritt. Und was bin ich jetzt für ein anderer Mensch, der sich furchtbar viele Gedanken macht: darf ich das? Was denken die anderen? Sollte ich nicht doch lieber…? Aber bin das wirklich noch ich??  Dieses kleine Mädchen hat mir wieder vor Augen geführt, wie wichtig es ist, in Verbindung zu seinem inneren Kind zu bleiben. Manchmal braucht es einen Stromstoss wie diesen, um uns überdeutlich klar zu zeigen, wer wir eigentlich mal waren, manchmal sind es Momente, in denen man selbstvergessen in sich aufgeht und wieder spürt, was einem wirklich wichtig ist. Egal, ob das Mädchen sich jetzt für Klavierstunden entscheidet oder nicht,  ich bin ihr dankbar, dass sie in mir eine neue Tür nach innen geöffnet hat. Und dass sie mich derartig aufgerüttelt hat und mir auch wieder gezeigt hat, welch immense Verantwortung wir als Lehrer haben, wenn uns so zarte Kinderseelen anvertraut werden.