Ein Engelchen auf meinem Flügel

Ich komme täglich mit vielen Kindern in Berührung: bei der Arbeit sehe ich meine Schüler und deren Geschwister, am Wochenende krabbeln oft genug die Kinder meiner Freundinnen oder meine Nichten und der Neffe auf mir herum. Ich dachte immer, dass Kinder etwas ganz Normales für mich sind – manchmal sind sie süss, manchmal unterhaltsam, manchmal gehen sie einem auf die Nerven. Manchmal staune ich über sie, aber mehr in dem Sinn „ich hätte nicht gedacht, dass das in ihrem Kopf herumgeistert.“ Gerade weil ich jede Woche so viele Kinder sehe, war ich nicht darauf gefasst, dass ich aus heiterem Himmel eine fast „mystische“ Begegnung mit so einem kleinen Wesen haben würde.

Letzten Donnerstag stapfte eine kleine fünfjährige Interessentin mit ihrer Mutter zu unserer Haustür herein. Wie immer beim Erstgespräch gab es Tee und Kekse, und obwohl ich davor und danach unterrichte, versuche ich, mir so viel Zeit wie möglich zu nehmen. Diese Kleine war sehr goldig und hübsch, aber ich merkte nach wenigen Minuten, dass mich noch mehr an ihr fesselte, und zwar auf eine ganz seltsame, ungewohnte Art. Sie war einfach sie selber, ganz unverstellt und unverbildet, und sie schien sich völlig wohl zu fühlen in ihrer Haut und an diesem Ort. Obwohl sie mich noch nie gesehen hatte, begegnete sie mir mit viel Zutrauen und Offenheit und einer unverfälschten Freundlichkeit, wie man sie selten erlebt. Am Klavier war sie neugierig und konzentriert und bewegte ihre winzigen Fingerchen vorsichtig über die schwarzen Zweiertasten – so aufmerksam und liebevoll, wie ich es glaube ich noch nie erlebt habe. Es gibt wilde, alberne Kinder, die laut auf dem Klavier herumpatschen, und ich kenne schüchterne, die vor lauter Angst ihre Bewegungen hemmen und kaum einen Klang herausbringen. Diese Kleine hat wie ein zartes Wesen aus einer anderen Welt die Tasten berührt und mit ihrer Konzentration und Ernsthaftigkeit auch mich in meinem Innersten berührt. Ich bin selten so einer vollkommen in sich ruhenden Persönlichkeit begegnet, die sich einfach sicher ist, dass das, was sie grade tut, in dem Moment genau richtig ist. Und mir wurde ganz schwindlig, weil es sich nicht um einen reifen, lebensweisen Menschen handelte, sondern so ein kleines Wesen, das noch gar nicht viel von der Welt gesehen hat. Für mich vereinigte sie alles in sich, was erstrebenswert ist und worum wir uns so hart bemühen müssen: Aufrichtigkeit, Gelassenheit, Selbstsicherheit, Freundlichkeit, Authentizität. Wer kann von sich behaupten, so viele gute Eigenschaften zu haben? Doch fast nur überirdische Wesen!

Seit Tagen denke ich über diese besondere Begegnung nach. Möglicherweise hat sie mich auch auf diese seltsame Art berührt, weil sie der erste Mensch ist, den ich kennenlerne, der am gleichen Tag wie ich Geburtstag hat. Vielleicht hat sie mir deshalb vor Augen geführt, in welchem paradiesischen Zustand, wirklich im Sinne von unschuldigen Zustand, ich auch einmal war. Ich erinnere mich gut an verschiedene Momente in dem Alter, in dem ich in irgendeiner belanglosen Tätigkeit völlig aufging. Ich erinnere mich daran, wie gut es sich anfühlt, etwas Sinnvolles zu tun, ohne auf die Uhr schauen zu müssen oder sich zu überlegen, was für eine Figur man dabei macht… Wann passiert es, dass man diese Unbefangenheit verliert? Ich fürchte, spätestens mit Schuleintritt. Und was bin ich jetzt für ein anderer Mensch, der sich furchtbar viele Gedanken macht: darf ich das? Was denken die anderen? Sollte ich nicht doch lieber…? Aber bin das wirklich noch ich??  Dieses kleine Mädchen hat mir wieder vor Augen geführt, wie wichtig es ist, in Verbindung zu seinem inneren Kind zu bleiben. Manchmal braucht es einen Stromstoss wie diesen, um uns überdeutlich klar zu zeigen, wer wir eigentlich mal waren, manchmal sind es Momente, in denen man selbstvergessen in sich aufgeht und wieder spürt, was einem wirklich wichtig ist. Egal, ob das Mädchen sich jetzt für Klavierstunden entscheidet oder nicht,  ich bin ihr dankbar, dass sie in mir eine neue Tür nach innen geöffnet hat. Und dass sie mich derartig aufgerüttelt hat und mir auch wieder gezeigt hat, welch immense Verantwortung wir als Lehrer haben, wenn uns so zarte Kinderseelen anvertraut werden.