„Hingabe an seine Arbeit“

„Es war tröstlich zu wissen, dass sie doch nicht ganz so merkwürdig war, dass es noch andere Menschen gab, die Freude an stillen Herausforderungen und einem ruhigen Leben fanden. Menschen, die so sehr in ihren Gedanken wie in der realen, dinglichen Welt lebten. Es erinnerte sie daran, dass wahre Hingabe an seine Arbeit, an seine Kunst – egal wie klein oder geringfügig diese auch erscheinen mochte – in Wahrheit einen Glauben und eine feste Bindung an das Leben ausdrückte.“

Daphne Kalotay, „Die Tänzerin im Schnee“

Eigentlich sollten dieses Zitat und das Bild der ganze inspirierende Artikel sein, doch drei Stunden nach der Veröffentlichung hatte ich meine Schwägerin auf dem Anrufbeantworter: „Du hast in deinem neuen Artikel anscheinend den Titel vergessen, deshalb können wir ihn nicht ganz lesen. Änder das mal, wir sind schon gespannt.“ Nun ja. Warum hat mich diese Passage aus dem Roman so angesprochen?

Vorgestern war ich bei meinem wirklich netten Steuerberater, der zum Abschluss unseres Gesprächs meinte: „Ich könnte nie Kinder unterrichten!“, worauf ich voller Inbrunst entgegnen konnte „Ich könnte mich nie den ganzen Tag mit Steuerangelegenheiten befassen!“. Und schon früher merkte ich, dass ihm leicht schleierhaft ist, was ich eigentlich den ganzen Tag treibe. Laut eigener Aussage kennt er sich überhaupt nicht mit Musik aus. Ich denke, da ist er repräsentativ für den grössten Teil der Bevölkerung. Und dann gibt es die, die sich durchaus auskennen und glauben oder wissen, dass Instrumentallehrer nicht unbedingt Grossverdiener sind und eigentlich eher unser Mitleid verdienen. Manchmal macht es mich richtig traurig, wenn ich spüre, wie wenig Ansehen unser Beruf in einer Welt hat, in der Kompetenz und Erfolg hauptsächlich am Kontostand gemessen werden. Andererseits bin ich es leid, mich zu rechtfertigen, dass es mir gar nicht so schlecht geht. Sogar so gut, dass ich einen Steuerberater brauche! Und mein immaterieller Reichtum, der sich anhäuft aus Fortschritten,Wettbewerbserfolgen oder gelungenen Konzertauftritten  meiner Schüler, ist so gross, dass ich froh sein kann, dass man den nicht auch noch versteuern muss. Wenn, dann sollte das unter „Vergnügungsteuer“ fallen…

Auf dem Heimweg am Fluss entlang war ich dann doch nachdenklich, ob man sich in unserer Gesellschaft so ausschliesslich der Schönheit und Pflege unseres kulturellen Erbes widmen darf. Ob es nicht moralisch besser wäre, Leben zu retten, Leid zu lindern, oder zumindest andere sicher durch den Paragraphendschungel der Steuergesetzgebung zu leiten. Wenn es sein müsste, könnte ich sicher auch ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein. Doch ich bin in der luxuriösen und geschichtlich sicher nicht oft dagewesenen Lage, mich als Frau einfach meinen Neigungen widmen zu können. Also zum Broterwerb! Und mir ist klar, dass die Musik  meinem Leben viel Sinn gibt. Wie es oben heisst: dass wahre Hingabe an seine Arbeit den Glauben an das Leben ausdrückt. Und ich bin in der wunderschönen Lage, dass diese Arbeit nicht mit dem Erreichen irgendeines Rentenalters vorbei sein muss. Ich weiss nicht, ob die Kinder noch so gern zu mir kommen, wenn ich mal alt und runzlig bin, aber ich kann hoffentlich immer noch spielen und schreiben, und ich werde jeden Tag etwas haben, für das es sich aufzustehen lohnt. Deshalb halte ich mich für unglaublich reich und privilegiert!

Als nachmittags ein Schüler in letzter Minute absagte, machte ich mir einen Tee und vertiefte mich auf dem Sofa wieder in „Die Tänzerin im Schnee“. (Genau so stellt sich mein Steuerberater wahrscheinlich mein Dasein vor…) Und dann stolperte ich über diese Stelle – es war wie ein Wink vom Schicksal, ich fühlte mich bestätigt in dem, was ich tue, und dachte gleich“ Das muss in den Blog!“. Auch, um diesen wunderbaren Roman ein bisschen bekannter zu machen. Eine Zufallsentdeckung in der Buchhandlung letztes Wochenende, als ich mich für die vielen Extraproben, Extrakonzerte und den anstrengenden „Jugend musiziert“-Tag selber belohnen wollte. Ich gönne mir sehr selten gebundene Bücher, obwohl ich die viel lieber habe. In diesem Fall bin ich richtig froh, dass ich zugeschlagen habe, denn ich werde es jedem aufs Auge drücken, der es leihen mag!  Es ist eins der Bücher, bei dem man richtig körperlich traurig wird, wenn man es zu Ende gelesen hat. Und – ich habe am gleichen Abend noch mal  in der zweiten Hälfte angefangen, weil ich die Figuren noch nicht verlassen wollte und auch den beneidenswerten Schreibstil von Daphne Kalotay weiter geniessen wollte. Zur allgemeinen Handlung findet man genug im Internet, nur kurz zu den beiden Personen, die das Zitat betrifft: sie hat Kunstgeschichte studiert und ist Juwelenexpertin für ein Auktionshaus, er ist Professor für russische Literatur und übersetzt das übersichtliche Werk eines kaum gelesenen Lyrikers. Was für eine wunderbare Bestätigung für mich, dass es Leute gibt, die ähnlich exotische Berufe wie ich haben und trotzdem eine Daseinsberechtigung auf dieser Welt! Das war genau das, was ich an diesem Tag gebraucht habe!