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Zurück zur Routine

Bisher hat es in keinem Schuljahr so lange gedauert, bis ich das Gefühl hatte, wieder im Alltag angekommen zu sein. Der übliche Wirbelwind der ersten Schulwochen hat sich ewig nicht gelegt und mein Stundenplan glich drei Wochen lang einem gerade entdeckten Mosaik, an dem mehrere Archäologen vergeblich versuchen, zu viele weisse Löcher zu füllen. Ich weiss nicht, ob es daran lag, dass ich an der Schule zwölf neue Schüler und keine Abbrecher habe oder an den zwei Winterreise-Konzerten, die der Veranstalter Anfang Oktober wollte – auf jeden Fall hatte ich noch nie so sehr den Impuls, mich einfach ins Auto zu setzen und spurlos zu verschwinden, nach Triest oder gleich nach Jordanien!

Dabei habe ich alles unternommen, um mich wieder verwurzelt und in Kontrolle der Lage zu fühlen. Als Ausgleich für die vielen Dutzend Telephonate mit Eltern habe ich ungefähr 150 Blumenzwiebeln gepflanzt in völliger Einsamkeit und Ruhe. Wie immer im September dekorierte ich den Kaminsims mit alten Büchern und Kerzen, um meine Schüler daran zu erinnern, dass jetzt wieder die Zeit des Lesens und Lernens begonnen hat. Normalerweise fühle ich mich spätestens dann als Lehrerin, wenn ich mein neues Unterrichtsnotizbuch für dieses Jahr anlege und neue Bleistifte und Buntstifte am Klavier deponiere. Nicht mal eine wunderbare viktorianische Karte aus England half, auf der zwei  Damen am Klavier dargestellt sind – im Gegenteil, das löste eher den heftigen Impuls aus, sofort zu den beiden Freunden nach London abzuhauen, die sich dort einen Urlaub gönnten.

Quelle: MutualArt.com
Quelle: MutualArt.com

Nichts half. Bis letzten Freitag, als sich das Angekommen-Gefühl auf völlig unerwartete Weise einstellte. Ich muss mich erst daran gewöhnen, so viele Schüler zu haben wie Mozart Symphonien geschrieben hat. Wenn die letzten beiden am Freitag gegen Abend klingeln, muss ich mich daran erinneren, genau so nett und konzentriert zu sein wie montags um 13.15 Uhr. Diesmal kam nur einer der Brüder, was bedeutet, dass wir doppelt so lange Zeit hatten. Wir standen an der Terrassentür, er lehnte halb auf dem Sofa, und starrten beide wortlos in den bunten Herbstgarten. Die roten Blätter unseres japanischen Ahorns und der gelbe Tulpenbaum der Nachbarn glänzten im leise fallenden Regen. Daran, dass mein neunjähriger Schüler so ungewohnt ruhig und still war, merkte ich, dass er mit seiner kleinen Welt genauso beschäftigt war wie ich mit meiner. Als wir lange genug geguckt hatten, meinte er:

„Weisst du, was schön ist? Dass du schon die Zimtkerze an hast. Und wie der Regen in deinen Teich fällt.“

Und in dem Moment macht es klick in mir. Plötzlich war ich wieder da, hier in meinem Unterrichtszimmer, um geduldig die immer gleichen Übungen zu zeigen, Pläne fürs Schuljahr zu schmieden, möglichst nächste Woche mit den Weihnachtsliedern anzufangen. Und alles war gut.

„A tired swimmer in the waves of time“

Vitas Vitalität war legendär. Deshalb habe ich länger überlegt, ob die Überschrift, der Beginn eines Gedichts von ihr, nicht einen falschen ersten Eindruck vermittelt. „My life was rich“, auch ein Gedichtzitat von ihr, wäre passender – aber so prosaisch kann das ja jeder sagen! Das andere Zitat, der Anfang von „Sissinghurst“, zeigt eine Seite von ihr, die Virginia Woolf in „Orlando“ aufgegriffen hat. Ihr Leben lang hat Vita Sackville-West darunter gelitten, dass sie als Frau das geliebte elterliche Schloss nicht erben konnte, das über 400 Jahre im Familienbesitz gewesen war. 1930 fand sie die Ruine von Sissinghurst. Ihre entsetzten Söhne konnten nach einem Rundgang durch den heruntergekommenen Garten nicht fassen, dass sie in diese Mauerreste ziehen sollten, aber für Vita wurde es der Ort, an dem sie ihren Seelenfrieden fand und in den folgenden Jahren einen der berühmtesten Gärten Englands schaffen sollte.

Seltsamerweise habe ich Vita Sackville-West bis vor ein paar Monaten nur am Rand wahrgenommen. Ich wusste, dass sie die Freundin und Geliebte von Virginia Woolf  und die Inspiration  zu ihrem zauberhaften Roman „Orlando“ war. Obwohl ich sonst so neugierig bin und gerne das Umfeld eines Buchs oder Musikstückes bis in die letzte Ecke beleuchte, habe ich diese Tatsache einfach als gegeben hingenommen und Vita Sackville-West kurzerhand in der Schublade „noch eine exzentrische englische Aristokratin“ abgelegt. Was mir dadurch alles entgangen ist!

Seit wir den Garten haben und ich auf der Suche nach Gartenbüchern immer wieder über ihren Namen gestolpert bin, bin ich auf Umwegen auf ihr eigenes schriftstellerisches Schaffen aufmerksam geworden, von dem ich gar keine Ahnung hatte. Mir war nicht bewusst, dass sie eine unglaublich produktive und geistreiche Autorin war, deren Bücher im Gegensatz zu denen von Virginia Woolf in kürzester Zeit Bestseller waren. Ihre Gesellschaftsromane oder Reisebeschreibungen sind niveauvolle Unterhaltung und mit so einem netten, feinen  Humor geschrieben, dass ich mich ständig dabei ertappe, schon wieder zu lächeln. Ich kenne keinen anderen Autor, bei dem es mir so geht! Ich denke, das ist auch ihr grosses Verdienst, auch in ihren Gartenkolumnen: diese Fähigkeit, so zu schreiben, dass sich tausende Unbekannte persönlich angesprochen fühlen, allein auf ihrem Sofa sitzen und lächeln und denken: „ja, ganz genau…“. Natürlich ist sie nicht die grosse, zeitlose Künstlerin wie Virginia Woolf. Es klingt blasphemisch, diese schönen Romane und Gedichte, die mich so wunderbar unterhalten, nicht als Meisterwerke zu bezeichnen. Sie ist nicht so modern und konsequent auf der Suche nach neuen Wegen wie ihre Zeitgenossen in den Dreissiger Jahren, was ihr durchaus bewusst war. Aber so war sie anscheinend auch in ihrer Gartengestaltung und Einrichtung ihrer Häuser: lieber bewährte alte Stücke mit Geschichte, lieber üppige alte Rosen als zu viel Neues. Sehr sympathisch eigentlich.

Seit ich angefangen habe, mir schöne antiquarische Ausgaben zu gönnen, ist Vita Sackville-West noch mal interessanter geworden. Dadurch, dass sie nie die grosse literarische Berühmtheit wurde, aber doch sehr beliebt war, ist es erstaunlich leicht, an Erstausgaben ihrer Bücher zu kommen. Ich hätte nie erwartet, ihren ersten Roman „Heritage“ von 1919 überhaupt zu finden – aber es war gar kein Problem. Eigentlich unglaublich, wenn man das zierliche kleine Buch in der Hand hält und sich vorstellt, wie jung sie damals noch war. Im Literaturzirkel kamen wir kürzlich nach der etwas blassen Lektüre einer jungen Autorin im Spass überein, dass wir niemand mehr lesen, der jünger ist als wir. Dieses Buch wäre anders! Es ist voll von Leben und Leidenschaft, und ich habe mich mehr als einmal gefragt, wie eine 26jährige so schreiben kann. Ein unglaublicher Erstlingsroman. Manchmal denke ich, dass die Menschen damals generell früher erwachsen werden mussten und nicht so lange behütet wurden. Davon abgesehen, dass sie 1918 grade vier Jahre Krieg miterlebt hatte, hatte sie mit ihrem Mann, der Diplomat war, am Anfang ihrer Ehe in Konstantinopel gewohnt, in England drei Söhne geboren, wobei der zweite nach einer viel zu lang ausgetragenen Schwangerschaft tot zur Welt kam, und eine leidenschaftliche Affäre mit einer anderen Frau gelebt, die ihre Ehe auf eine harte Probe stellte. Wohlgemerkt alles, bevor sie 26 war. Heutzutage wohnen Leute in dem Alter noch zuhause, kriechen gegen Mittag aus dem Bett und grübeln, ob sie den Abgabetermin ihrer Zulassungsarbeit noch mal verlängern können…  Wann sie noch Zeit zum Schreiben gefunden hatte, ist mir rätselhaft. „Heritage“, das abwechselnd im ländlichen Kent und an exotischeren südlichen Schauplätzen spielt, war für mich ein reines Lesevergnügen. Schon hier ist der Dualismus, den sie in sich spürte und der sich durch ihr ganzes schriftstellerisches Schaffen ziehen sollte, ein wichtiges Motiv: der Kontrast zwischen dem englischen Erbe ihres Vaters und dem spanischen Blut ihrer Mutter, ihre sanfte und ihre wilde, ihre weibliche und männliche Seite. Und: es wird ein Garten angelegt mit englischen Samen im völlig anderen Klima von Ephesus. Ich denke, hier spielen ihre Erfahrungen mit ihrem eigenen ersten Garten in Konstantinopel mit herein. Jetzt warten ihre bekannteren Romane auf mich (in wunderschönen Ausgaben der Hogarth Press, die ich auf meinem Schreibtisch stehen habe und dauernd anschauen muss!).

Vita Sackville-West sah sich selber immer mehr als Dichterin als als Romanautorin. Daher war ich gespannt auf die gesammelten Gedichte, die ich mehr der Vollständigkeit halber bestellt habe. Ich hatte keine grossen Erwartungen, eher die Befürchtung, ob ich überhaupt was verstehe – ich habe manchmal Probleme mit Gedichten und verstehe selbst auf Deutsch nur Bahnhof. Aber – die Gedichte sind die grosse Entdeckung für mich! Von ihren Zeitgenossen wurde ihr oft vorgeworfen, sie seien zu konventionell und traditionell, und sie sagte selbst frustriert über sich: „I am a damned outmoded poet.“ . Das mag sein, aber das kommt mir gerade entgegen und macht sie so lesbar und verständlich für mich. Mir gefällt ihre Melodie und der Rhythmus unglaublich. Ihr wunderschönes Gedicht über Sissinghurst könnte ich immer wieder lesen, und „Full Moon“ ist das netteste, fantastischste Mondgedicht, das ich kenne.

„The Land“, ihr 2500-Zeilen-Gedicht über die Natur im Wechsel der Jahreszeiten, ist in dem Band auch enthalten. Ich fand die Länge ziemlich abschreckend und dachte mir, bei aller Liebe, das muss dann doch nicht sein. Seit Wochen liegt der Gedichtband auf meinem Nachttisch, und da ich ihn jeden Morgen zur Hand nehme, ist es dann doch passiert: aus Neugier schlug ich das Endlos-Gedicht irgendwo auf und fand einen unglaublich schönen Abschnitt über eine Wiese voll Schachbrettblumen. Da war’s passiert. Seither lese ich „The Land“ in homöopathischen Dosen und mit mehr Vergnügen, als ich erwartet hatte. Erst vor ein paar Tagen las ich einen Brief von Virginia Woolf, in dem sie ihr sinngemäss schreibt: „“The Land“ ist wie ein gehaltvoller Kuchen, von dem ich mir immer wieder ein Stückchen abschneide.“ Wie wahr, und wie nett und seltsam, dass es ihr auch so ging. Bevor ich hier auf ähnliche epische Längen komme, schliesse ich für heute – es wird eine Fortsetzung geben!

Bleibende Werte

Selbst Bekannte, die ganz andere Interessen und Gesprächsthemen haben, können es sich in letzter Zeit nicht verkneifen, Reizwörter wie „Griechenland“ und „Eurokrise“ in normalerweise zivilisierte Unterhaltungen einfliessen zu lassen. Ganz abgesehen von den Berufspessimisten und notorischen Unkern, die offensichtlich Vergnügen daran haben, Schreckensszenarien zu entwerfen. Einer hat tatsächlich sein gesamtes Vermögen von der Bank abgehoben, weil es bald kein Bargeld mehr geben wird, und einen Lebensmittelvorrat für einen Monat angelegt, weil er wegen Griechenland eine drohende Knappheit fürchtet. Wie anstrengend!

Ich teile solche Befürchtungen nicht, habe mir aber so meine Gedanken gemacht über die bleibenden Werte, in die man jetzt doch investieren soll. Bzw. eine willkommmene Rechtfertigung gesucht, um mir einen lange gehegten Traum zu erfüllen: hemmungslos Erstausgaben geliebter alter Bücher zu kaufen. Oder zumindest möglichst zeitnah erschienene, sollten die Erstausgaben zu unverschämt teuer sein. Glücklicherweise träume ich nicht von  völlig unerreichbaren, seltenen Schätzen. Mit England in der Zeit zwischen 1920 und 1930 bewege ich mich noch in einem vernünftigen und erreichbaren Rahmen, und da Virginia Woolf und Vita Sackville-West damals sehr beliebte Autorinnen waren, gibt es tatsächlich viele alten Exemplare ihrer Werke. Und so sind um meinen Geburtstag herum viele ersehnte Päckchen eingetrudelt – immer wieder aus London, aber auch aus Irland und einmal Südafrika… Mit einem Königinnenkopf auf der grossen ausgedruckten „Briefmarke“ und  zum Teil wunderhübschen Visitenkarten von Buchhändlern, die ich so viel lieber in echt als im Netz besuchen würde. Ich hebe die Adressen auf und stelle mir vor, wie ich sie eines Tages alle abklappere und tatsächlich eine alte hölzerne Schwelle überschreite, während oben eine kleine Ladenklingel scheppert und mich der staubige Geruch alter Bücher empfängt.

Und die Bücher? Sind mir so unglaublich wertvoll.  Wertvoller und geliebter als jeder Goldbarren. Seit sie in meinem Zimmer stehen und in ihrer lang ersehnten, so sehr geschätzen Präsenz den ganzen Raum verändern, frage ich mich, wie ich je ohne sie leben konnte. Ich bilde mir ein, sie leuchten im Dunkeln – ein Strahlen aus einer anderen vergangenen Zeit. Für mich als grosse Virginia Woolf – Anhängerin ist es unbeschreiblich, Bücher zu haben, die in der „Hogarth Press“, dem Verlag, den sie mit ihrem Mann hatte, herausgegeben wurden. Natürlich habe ich nicht die allerersten, wahrscheinlich ganz seltenene Exemplare der Werke, die sie beide wirklich noch von Hand gesetzt und Blatt für Blatt mit der Handpresse gedruckt haben. Und das Papier ist auch nicht aus dem Lager, das sie aus Platzgründen anfangs zuhause stapelten und wo sie tatsächlich, auch aus Platzgründen, auf den Knien geschrieben hat. Und wahrscheinlich hat Virginia Woolf nicht persönlich eines der Bücher in braunes Papier verpackt und mit einem Band verschnürt – was sie so oft an einem Tag getan hat, dass sie sich in einem Brief über den Zeitaufwand und die Farbe an ihren Fingern beklagt.

Aber  – die Bücher stammen aus der Zeit, in der sie lebte und atmete und Tee trank. Durch London spazierte und möglicherweise unauffällig in einem Buchladen schaute, ob ihre Bücher im Regal stehen (machen Autoren das?). Möglicherweise ruhten ihre Augen auf einem der Bücher, die jetzt bei mir sind?! Na, jetzt wird’s zu romantisch! Was mich auch so fasziniert und seltsam berührt, ist, dass auf dem Titelblatt ihre Adresse steht, die man von so vielen Briefen kennt. Der Verlag war immer in dem Haus, in dem sie gewohnt haben, anfangs in Richmond, dann in London. Wenn ich ein Buch aufschlage und lese „Published by Leonard and Virginia Woolf at the Hogarth Press, 52 Tavistock Square, London“, fühle ich mich einfach ganz seltsam. Und selig, dass ich es in der Hand halten darf.

Ein grosser Schatz ist für mich die Ausgabe von „Orlando“, im Oktober 1928 erschienen. Es war etwas schwierig, meinem Mann zu erklären, warum ich ein Buch kaufe, das ich schon habe, da ich immer diejenige bin, die predigt, dass wir weniger Bücher haben sollten… Und ich weiss ehrlich gesagt nicht, was ich mit meiner Taschenbuchausgabe machen soll, die ich 1992 in Atlanta gekauft und mindestens fünf Mal gelesen habe. So habe ich das Buch kennengelernt, und es hat mich so treu begleitet. (Wäh, immer diese Sentimentalität beim Ausmisten!) Aber jetzt, dieses wundervolle gebundene Buch – es ist einfach was ganz anderes. Man will kein Taschenbuch mehr in die Hand nehmen. Es kam mitten an einem Unterrichtsnachmittag und ich musste mich sehr beherrschen, bis zum Abend mit dem Auspacken zu warten. Dann legte ich mich aufs Sofa, hungrig, durstig, aber bald in einer völlig anderen Welt, als ich andächtig das Buch öffnete, die wunderbare Titelseite (mit der Adresse!) las, das dicke, geriffelte Papier unter meinen Fingern spürte, die Fotos, die in den ersten Ausgaben reproduziert waren, betrachtete. Und dann, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte, fing ich an zu lesen, die letzten 70 Seiten oder so. In dem Buch, das ich so gut kenne und so oft gelesen habe, und obwohl ich gar nicht lesen wollte. Aber es war absolut magisch, in dieser alten Ausgabe mit dem schönen Gewicht zu lesen. Ich konnte nicht anders, und ich konnte nicht aufhören. Es war echtes langsames Genusslesen, und ich habe manche feinen Nuancen jetzt erst wahrgenommen und mich gefreut, was es nicht alles im Leben zu entdecken gibt. Wie sich die Bücher, die wir lesen, mit uns über die Jahre verändern und wachsen. Wie sich das, was wir allgemein in dieser Lebenszeit, seit wir das Buch kennen, erlebt und gelernt haben, in unserem Verstehen widerspiegelt und unerwartete neue Facetten ans Licht bringt. Was für ein unglaubliches Vergnügen so ein fein geschriebender Roman sein kann.

Der Nachteil mit diesen nicht feuerfesten bleibenden Werten ist, dass man seltsamerweise Angst bekommt um seine Schätze. Sonst bin ich ja sehr sorglos, was materiellen Besitz betrifft. Im Fall des hypothetischen Feuers im Haus war immer der geliebte Kater das wichtigste Rettungsobjekt. Jetzt würde ich schnell raufrennen und vom Schreibtisch und Nachttisch gewisse Bücher retten. Absolut.

Der Duft von Heu und Lavendel

Als bei einer Fortbildung in der Münchner Musikhochschule gefragt wird, wo wir herkommen, stellt mich eine Bekannte flapsig vor: „Und sie kommt vom Land.“ Früher, als ich in die Schule ging, wäre mir das furchtbar peinlich gewesen. Jetzt merke ich, dass ich lächle, mich gerader hinsetze und direkt stolz darauf bin, vom Land zu kommen. Natürlich lebe ich ein bisschen hinter dem Mond –  ich hatte keine Ahnung, dass man in derart kurzen Shorts unter die Leute geht, und statt dieses aparten blauen Nagellacks habe ich eher mal Gartenerde unter den Nägeln.

Aber – mich hat heute um halb fünf der Kuckuck geweckt, und als ich mich wieder umdrehte, bemerkte ich den unglaublich süssen Geruch von frisch gemähtem Heu, Geissblatt und Rosen. Lieblicher als jedes Parfüm, das ich kenne! Und morgends um halb sieben, bevor ich mich auf den Weg in die grosse Stadt machte, ging ich barfuss im Schlafanzug durch den taunassen Garten, pflückte Walderdbeeren, schnitt mir eine der intensiv duftenden „Madame Knorr“- Rosen  fürs Nachtkästchen für die süssen Träume der nächsten Nacht und streifte mit blossen Fingern Läuse von der Schneewittchenrose (früher habe ich für so was Handschuhe geholt, aber ich glaube, ich bin echt auf dem Land angekommen). Und ich habe richtig bemerkt, welche Qual es trotz der hervorragenden Qualität der Fortbildung für mich war, am ersten Sonnentag seit langem sieben Stunden in dem stickigen Raum in der Steinwüste zu verbringen. Früher, im Studium, war so was normal für mich. Doch jetzt sehnte ich mich nur aufs Land zurück!

Da wir auf der Fortbildung im Zusammenhang mit kreativen und effektiven Übestrategien auch erfahren hatten, dass der Weg das Ziel ist und nur Laien keine Variationen und neuen Herausforderungen in ihr Üben einbauen, beschloss ich, diese Erkenntnisse gleich mal in meiner Spazierrunde umzusetzen. Das Ziel war leicht definiert – der Erdbeerstand am Bahnübergang in Reitmehring. Eine Richtung, in die ich normalerweise nie laufe wegen der grossen Bundesstrasse, die der einzige Weg scheint. Aber ich dachte mir, ich müsste auch über die aufgelassene Bahnstrecke und dann irgendwie durch die Gärten und Felder hinkommen.  Glücklicherweise hatte ich noch ein grosses Glas Wasser getrunken und den extragrossen Sonnenhut aufgesetzt – die Erdbeermission ist geglückt, aber ich war zwei Stunden unterwegs… Dafür war es wirklich die „scenic route“, angefangen bei der alten Bahnstrecke, die zeitweise von knorrigen kleinen Eichen oder Haselbüschen beschattet wurde. Auf den Wiesen ringsum trocknete das Heu, zwischen den Schienen wuchs Rainfarn und Kamille. Mehr als einmal blieb ich stehen, um diesen abgeschiedenen Ort und die Stille zu geniessen, und immer wieder den Ausblick auf die Berge und Wiesen. Es ist ein paar Minuten von zuhause – wieso sitze ich zum Schreiben nicht auf den alten Schienen?!

Im nächsten Ort angekommen, wurde ich von üppig blühenden und über die Gartenzäune hängenden Rosenbüschen begrüsst, die in der fortgeschrittenen Vormittagshitze verschwenderisch dufteten. Dann, als ein Feldweg unvermutet aufhörte, ging ich querfeldein über die Wiesen, wieder ganz allein. Umgeben von Kamille, Klatschmohn und  kleinen leuchtenden Kornblumen wurde mir bewusst: es ist Mittsommer, der Sommer hat seinen Höhepunkt an Farben und Düften erreicht. Man muss jeden Moment in sich aufsaugen. Man müsste sich eigentlich in die Wiese legen und nur schnuppern und träumen – wenn da nicht die Befürchtung wäre, dass der beste Gatte von allen langsam einen Suchtrupp in die völlig falsche Richtung schickt…

Normal liebe ich meine Wege am Fluss – grün, feucht, voll von geheimen Leben, von umgestürzten Bäumen und Schilf umgeben. Heute waren es so andere Farben und Düfte – es war wie ein Ferientag in der Toskana. Die ersehnte und fürs Gehirn wichtige Variation, wie ich jetzt weiss! Und ich fühle mich auch ganz anders und habe neue Ideen für unsere Brahms-Sonate, die wir im Gegensatz zu Beethovens Frühlingssonate, die wir auch grade üben, wegen ihrer Schwere und Süsse „Sommersonate“ nennen. Auf einmal spüre ich die Hitze und die Düfte dieses Hochsommertags ganz deutlich im ersten Satz und weiss genau, wie ich den Anfang spielen will. (Kreative Übestrategie Nr. 133: weg vom Instrument üben. Ha!)

Schönheit im Alltag

„Was unternimmt man denn zur Freizeitgestaltung, wenn man hier wohnt?“

Wir sind auf dem Schiff auf der Rückfahrt von der Fraueninsel und gleiten an einer traumhaften abendlichen Kulisse vorbei: über der seidigen grauen Wasserfläche des Chiemsees erheben sich dunkelblaue Berge mit Schneemützen. Trotzdem ist dem nichtbayerischen Urlauber die Verdrossenheit darüber anzusehen, dass er noch fünf Tage in dieser ereignislosen Gegend gebucht hat.

„Naja, ich bin nicht so der Berg- oder Skifahrertyp. Eigentlich bin ich sehr gern zuhause. Ich gehe spazieren und lese viel.“

„Aha.“

„Ich spiele gern Klavier. Ich bin in der Küche oder im Garten.“

Schweigen.

„Wie viele Kilometer sind es bis München?“

Wie ernüchternd und traurig! Er könnte einem leidtun – aber ich kenne ihn nicht und lasse mir meine gute Laune über diesen gelungenen Ostermontag nicht verderben. Wie kann jemand so unzufrieden von dieser schönen gemütlichen Insel wegfahren? Allein der Spaziergang zu einer der letzten Fähren durch die stillen Gärten war ein Erlebnis. (Und dass wir am Anleger nur ein Dutzend Leute waren, auch!) Die Begegnung mit den ur-uralten Steinen der Kirche, des Torhauses, des Vorraums zur Kirche und der alte Friedhof machen mich glücklich. Ebenso die Tatsache, zum ersten Mal im Lindenwirt gewesen zu sein, mit meiner Freundin ein mehr als dekadentes Stück Lindentorte gegessen zu haben und von ihr einen auch fast ur-uralten Herd im ältesten Teil des Hauses gezeigt bekommen zu haben, der meinen Küchenträumen neue Nahrung gibt. Und überhaupt: meine Freundin! Die ich viel zu selten sehe! Es war so schön, sofort wieder ins vertraute Gespräch einzutauchen, als hätten wir uns gestern das letzte Mal gesehen.

Was macht man also in seiner Freizeit, wenn man hier wohnt?

Sich darüber freuen, dass die Osterglocken, die ich seit unserem Einzug immer wieder pflanze, inzwischen so zahlreich sind, dass ich für Ostersonntag einen kleinen Strauss ins Haus holen kann.

Am selben Tag völlig eingeschneit auzuwachen und mit dem Kater in die unerwartete und irgendwie unpassende weisse Pracht hinauszugehen, um zu gucken, ob es den Frühlingsblumen in voller Blüte hoffentlich gutgeht. Schnee und Eis von den ersten Rosentrieben zu streifen. Vorsichtig die Triebe und Blütenknospen des Tränenden Herzens vom Eis befreien. Die dünne Eisschicht im Regentrog mit einem leichten Fingertippen zerbrechen – einfach, weils Spass macht.

Süsskartoffeln im Ofen rösten. Mit Quark und einem Salat dazu ein wundervolles Abendessen geniessen.

Und natürlich: Zeit mit dem geliebten Tier verbringen.

Ich merke immer mehr: es sind die Kleinigkeiten, die mein Leben schön und besonders machen. Es ist absolut nicht das dicke Auto vor der Haustür oder die eindrucksvolle Kreuzfahrt. Es sind kurze Momente im Alltag, die irgendwie besonders oder einzigartig sind. Es ist die Postkarte mit dem wunderschönen Eisvogel, die ich im Klosterladen kaufen musste. Oder das köstliche Frühstück mit meinem Mann in der Schranne am Karsamstag, das mich veranlasst zu bemerken: „Wenn wir ganz wenig Geld hätten, aber 25 Euro im Monat übrig, um einmal so zu frühstücken, dann wäre doch alles perfekt!“

Und ich fürchte, wenn man im Urlaub, auf einem Chiemseeschiff, mit den Alpen im Blick, unglücklich wirken kann, dann ist man es im Alltag auch. Doch dafür ist das Leben zu kurz!

Wo wir wohnen

Kürzlich rief ganz unerwartet eine verschollen geglaubte Freundin aus dem hohen Norden an. Nach jahrelanger Funkstille, während der wir jede mit unserem eigenen Leben zu beschäftigt waren, sagte sie sich spontan für einen Besuch zum Abendessen an – zu spontan, um weitere Pläne zu schmieden oder ihr die Gegend hier richtig zu zeigen. Und da unser Garten bei ihrem Eintreffen auch schon im Dämmerlicht seine Abendgewänder anlegte und sie nur noch die Umrisse der kahlen Eichen gegen das letzte Tageslicht erkennen sollte, ist es Zeit für ein paar Fotos…

Bei der üblichen Suche im Netz wird Wasserburg normalerweise von seiner strahlenden, südlichen Bilderbuchseite gezeigt. Solche Tage, an denen die kunterbunten Fassaden vor einem klaren blauen Himmel strahlen, mag ich schon auch. Und wenn sich an heissen Sommerabenden das Leben in der Altstadt komplett nach draussen verlagert, mediterrane Kübelpflanzen vor den Häusern stehen und die alten Mauern die Hitze abstrahlen, fühle ich mich immer noch wie im Urlaub.

Doch „mein“ Wasserburg hat noch viel mehr Facetten als nur das plakativ und vordergründig Schöne. „Mein“ Wasserburg erschliesst sich auch nicht bei einem kurzen Rundgang – es verlangt schon etwas mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Und auf einmal merkt man, dass dieser Ort viel weniger leicht fassbar und beschreibbar ist, als man an einem sonnigen Tag denken könnte. Dank des vielen Wassers und der alten Bausubstanz gibt es Tage, an denen die Stadt wie in einem Märchen aus sanften Nebelschwaden auftaucht und man sich fragt, in welchem Jahrhundert man lebt. Ich liebe solche Nebelmorgen – egal, wie früh oder kühl, da zieht es mich unweigerlich nach draussen. Die feuchte Luft lässt meine Haut und Haare aufleben. Am Wasser fange ich die wunderschönen Momente in meinem Herzen ein, wenn alle Umrisse weich verschwimmen, um mich unendlich viele verschiedene Grüntöne schimmern und die ganze Welt wie ein Traum erscheint. Ebenfalls, wenn ich mich der Stadt nähere und der gotische Kirchturm oder die Zinnen der Burg aus den sanften grauen Schwaden auftauchen. Oder manche Gassen der Stadt, früh am Morgen, wenn noch keine Autos unterwegs sind – alles ist zeitlos schön und die Konturen zwischen Gegenwart und Vergangenheit werden unschärfer. (Bis der erste Vespafahrer mit Anzug und Krawatte um die Ecke knattert – das ist auch so ein netter Trend zur Zeit in Wasserburg und ein Tribut an eine nicht für Autos konzipierte alte Stadt).

Oder unser Garten im orange-goldenen Abendlicht an einem kühlen frühen Frühlingsabend, wenn die Eichen noch kahl sind und ich vom Klavier aus sehe, wie sich vor dem leuchtenden Himmel ein majestätischer weisser Fischreiher am Teich hinter dem Haus langsam in die Luft erhebt und in weiten Kreisen immer höher schwingt. Da muss ich mich kurz fragen, ob ich träume… Oder in Sommernächten, wenn ich vom Käuzchen, das andauernd ruft, aus dem Schlaf geholt werde und dann merke, dass die Schafe hinter dem Haus auch unruhig werden, und ich mich frage: ist es ein Fuchs? Eine ganz grosse Eule? Oder ein ganz anderes Wesen aus der Märchenwelt, was wir noch nie gesehen haben? Und schon gleite ich in den nächsten Traum…

So wie die Grenzen zwischen Himmel und Fluss im Nebel unklar werden, verschwimmen hier Traum und Wirklichkeit, Gegenwart und vergangene Zeiten. Wasserburg ist eine Stadt der Zwischentöne. Und seit ich hier wohne, sehe ich auch mehr Facetten und Möglichkeiten an und in mir: ich bin nicht nur das, was man sieht. Die ganze Schönheit um mich herum beeinflusst mich – ich muss das verarbeiten und auf anderem Weg wieder rauslassen. Ich MUSS üben. Ich MUSS schreiben. (Erstaunlicherweise. Wie komme ich dazu, und wo kommt es her??) Der breite, ruhige Fluss, der an keinem Tag derselbe ist, erinnert mich immer wieder daran, dass das Leben und die Gedanken in Bewegung bleiben müssen. Nichts stagniert hier, keine kreativen Blockaden machen sich bemerkbar – alles fliesst mühelos und von selber. Es gab Orte in meinem Leben, an denen es sich gut leben liess. Es gab andere, an denen sich die eigene Existenz mehr wie „überleben“ anfühlte. Aber das wirklich leben, das erfüllte, intensive, täglich beglückende leben – das kenne ich nur hier in der alten gotischen Stadt am grünen Fluss.

Opernfestspiele auf Gut Immling

Liebe Freundin, wenn Du nächstes Mal kommst, muss es länger sein! Unser Leben hat sich so so arg verändert, seit wir uns vor 25 Jahren oder so kennengelernt haben. Was waren wir idealistisch! Wir wollten kreativ und kultiviert leben, immer viel lesen, viel in die Oper und Konzerte gehen, Anteil nehmen am kreativen Leben anderer, selber unseren Beitrag leisten… Auf unsere Art, in unseren kleinen Nischen tun wir das ja auch – beide haben wir Berufe gewählt, in denen wir das sogar zum Broterwerb tun dürfen. Doch inzwischen ist unser Alltag so anders und so fordernd, dass wir froh sind, wenn die Wäsche gewaschen und der Kühlschrank aufgefüllt ist und wir zu einer anständigen Zeit ins Bett fallen dürfen. Ich fürchte, das ist auch ganz normal in unserem Alter… Aber man braucht Begegnungen und Konfrontationen mit der eigenen Vergangenheit, so wie bei Deinem Besuch, um sich immer wieder daran zu erinnern, was einem wichtig ist im Leben, und man braucht wunderschöne, inspirierende Ort und Momente um sich, um die Flamme am Leben zu halten.