Ein ganz normaler Montag Ende November. Als ich morgens meine Socken anziehen will, ruft eine Mutter zurück, mit der ich letzte Woche länger telephonieren musste: ihr Dreizehnjähriger hat drei Mal Klavier geschwänzt zugunsten von McDonalds. Ursprünglich wollte er in seiner Mittagspause Unterricht, aber jetzt ist ihm die Zeit mit seinen Freunden wichtiger. Die Mutter hatte keine Ahnung, dass er sich nicht entschuldigt, und wir beschliessen, ihn vor die Wahl zu stellen: McDonalds und Klavier an einem anderen Tag, oder anders rum. Während ich mit den Socken kämpfe, sagt sie mir, dass er sich für den anderen Tag (und die Tatsache, dass er danach drei Stunden auf den Bus warten muss) entschieden hat. Wir haben bewusst ihm die Entscheidung überlassen, weil er damit leben muss, und anscheinend schreckt ihn der vierte Nachmittag in der Schule weniger als sich aus der Clique ausgeschlossen zu fühlen. Auch okay.
Ohne Bach – Fuge überstehe ich den heutigen Tag nicht. Ein Prokrastinations – Bach sozusagen, denn ich hätte genug zu üben. Aber ich gönne mir die Viertelstunde mit meinem ersten Tee, bevor ich mich an die Geigensachen mache, die ich im Montagskonzert heute abend begleiten muss. Um elf gibt es Frühstück und Mittagessen in einem mit einem Rührei und Joghurt, dann bin ich schon fast spät dran, um nach Erding zu fahren. (Fünf Bahnübergänge wollen eingeplant sein. Das Ironische dran: es gibt überhaupt keinen Zug nach Erding, aber ich kreuze ständig andere Linien.)
Heute ist Gruppenvorspieltag und im Musiktrakt wimmelt es von Schülern, die sich einspielen wollen und letzte Fragen haben. Eine Kollegin und ich beschliessen spontan, das erste Vorspiel zusammenzulegen, damit alle Schüler in den Genuss des Flügels kommen. Und es ist besser und objektiver, wenn zwei Paar Ohren zuhören. Ich freue mich, neben ihr zu sitzen – sie im schicken Hosenanzug, ich immerhin in Bundfaltenhose und geputzen Schuhen. Ich fühle mich gut, bis ich die Beine übereinander schlage wegen dem Mitschreiben und dabei sehe: Mist, ich hab eine Socke falsch rum angezogen, für alle ersichtlich am verkehrt aufgestickten Logo. Komisch, das passiert mir eigentlich nie. Schon geht es los mit Khatchaturian und ich habe anderes im Kopf, beschliesse noch kurz, in irgendeinem privaten Moment die Socke umzudrehen.
Die erste Gruppe verlässt den Raum, meine Kollegin auch. Grade als ich mich dran machen will, den Schuh aufzuschnüren, wird die Tür aufgerissen und drei Achtklässlerinnen stürmen rein, selbstbewusster und frecher im Rudel: „Können wir wieder ohne die Buben vorspielen? Bitte! Das ist viel besser!“ Irgendwie hat sich das eingebürgert, und ich kann bestätigen, dass es „besser“ ist. Ich stimme zu, in Gedanken noch bei meinem Schuhvorhaben. Sie rennen türenknallend raus und ich höre sie über den Gang schreien: „Die Frau Sommerer sagt, Männer müssen draussenbleiben.“ Ich stöhne. Genau so hab ich das nicht gesagt (auch wenn es eine Devise ist, die ich mir zu manchen Zeiten des Lebens gern auf die Flagge geschrieben habe…) Also stehe ich auf und gehe ihnen nach. Ein Ruf als Feministin wäre mir egal, aber ich will nicht, dass meine Buben, die ohnehin mit kieksenden Stimmen und Schlaksigkeit geschlagen sind, denken, ich hätte was gegen sie. Und die Mädchen kriegen gesagt, dass sie die Klinke in die Hand nehmen sollen und sich diplomatischer ausdrücken müssen.
In den nächsten drei Stunden höre ich mir siebzehn Schüler an und bewerte sie, kritzele bei jedem das Protokoll. Zwischendurch probe ich mit zwei Geigenmädchen für heute abend, eine Mozartsonate und ein Komarowski-Konzert – nichts, was man in zehn Minuten abhaken könnte. Und die Sekretärin ruft hoch, dass ich meinen Vertrag unterschreiben kann – jubel! Wir haben zwar alle entfristete Beträge, bekommen aber in den ersten Schulmonaten immer nur eine Abschlagszahlung, bis die neue Stundenzahl unterschrieben ist. Das ist alle Jahre wieder genau die Durststrecke, nach der es sich anhört. Wir unterrichten von September bis November, manchmal Dezember, in der Hoffnung und Zuversicht, dass die Regierung von Oberbayern irgendwann überweisen wird. Meistens kommt dann, wenn die Ebbe auf dem Konto wirklich bedenklich wird, alles auf einmal plus Weihnachtsgeld. Ich sause also runter (das Sekretariat ist hin und zurück fünf Minuten weg) und unterschreibe, bevor sie es sich anders überlegen… Eigentlich müsste ich auf die Toilette, und mein Magen knurrt, und, ja, die Socke, aber ich sprinte hoch, weil oben schon die nächsten auf mich warten.
Vor der Konferenz um fünf schaffe ich es, schnell meine mitgebrachte Scheibe Brot und eine halbe Paprika zu essen. Dann sitzen wir zu acht im Musiksaal und besprechen die nächsten Monate. Die Schulmusiker dürfen die Feier zur Schulverfassung gestalten – verlangt wird ein Lied, das alle 1280 Schüler in der Turnhalle gleichzeitig singen sollen. Und es kommt Besuch aus Australien, ein Jugendorchster, das sich Begegnungen mit deutschen Schülern wünscht. 150 Schüler wollen einen Tag bei und mit uns proben. Eine Kollegin fragt, ob wir überhaupt so viele Notenständer haben. Meine Dankbarkeit, dass sich mein Wirken in überschaubaren Sphären bewegt, steigt. Ich möchte nicht mit 1280 Schülern gleichzeitig „Musik“ machen müssen. Dann geht es um die Überarbeitung der Webseite. Insbesondere neue Bilder werden angesprochen, und der wortführende Kollege fragt, ob ich nicht eins hätte, auf dem ich mich lasziv am Flügel räkele. Mann. Selbst vor dem Schulleiter haben die ihre pubertären Phantasien nicht im Griff. Ich überlege kurz, ob die „Männer raus“ -Devise nicht öfter erwähnt werden sollte. Dabei fällt mein Blick auf die immer noch verkehrte Socke. Vielleicht wäre ich als Räkelobjekt besser dran? Es wäre sicher lukrativer, ich könnte höchstwahrscheinlich auf Socken ganz verzichten und müsste nicht in solchen Konferenzen sitzen. Alle Umschulungsgedanken werden durch einen Blick auf die Uhr unterbrochen – es ist fünf vor halb sieben, ich muss hoch zum Proben und habe grade noch Zeit für etwas Lippenstift. Die restlichen drei Geigenmädchen warten schon, es gibt die üblichen Rieding- und Vivaldi-Konzerte.
Wir proben bis kurz vor knapp und quetschen uns in den Ensembleraum. Unser Schulleiter kommt noch später, kurz verweilt sein Blick auf dem leeren Stuhl neben mir und ich fühle mein Bein mit der Socke zucken. Gleichzeitig spüre ich, dass ich etwas müde werde und irgendwie gelassen: selbst wenn etwas an mir verquer ist oder nicht der Norm entspricht, kann es nicht so schlimm sein, solange ich mich hier musikalisch einbringe und mir die Schüler am Herzen liegen. Oder?
Meine beiden Schülerinnen haben ihre Sache gut gemacht (eine Bach-Invention und das Notturno aus Griegs Lyrischen Stücken), und eine der Geigerinnen hat richtig sehr gut gespielt. Toll geführt und sehr lyrisch und frei im Mittelteil, und auf ein Art erwachsen, dass ich fast vergessen konnte, dass es eine Schülerin ist. Nachdem die fünfzig Eltern wieder draussen sind, besprechen meine Kollegin und ich noch das Gruppenvorspiel und tragen die Noten ein, und um kurz vor neun verabschieden wir uns auf dem leeren dunklen Parkplatz.
Eine Stunde später erreiche ich die letzte Kurve vor unserem Haus. Ich bin müde und mir ist kalt, und Visionen von einem warmen Tee und einer Buchstabensuppe wurden in den letzten Kilometern immer verlockender. Bis ich das fremde Auto vor unserer Tür sehe. Mein Mann scheint eine Besprechung mit seinem Kollegen zu haben, wie immer am Esstisch in unserer offenen Küche. Hm. Ich will und soll die ganzen Praxisangelegenheiten nicht mithören, also gibt es nur ein grosses Glas Wasser und zwei im Stehen und mit der Hand gegessene Scheiben Käse als Abendessen, bevor ich ins Bett falle.
Ich habe das Gefühl, dass ich zum ersten Mal an dem Tag ausatme. Morgen wird’s besser. Ich habe nur acht Schüler zuhause. Werde Mittagessen können. In meiner Pause um halb fünf einen grossen Becher Tee kochen. Um 19 Uhr fertig sein. Nicht über Zweitkarrieren nachdenken.
Liebe Martina, alles klar, keine Chance auf einen Klavierabend.
Halt die Ohren steif und kein räkeln.
Wolfgang
Nein, kein Räkeln… Wüsst grad nicht, wann!