Wenn ich sagen sollte, was das Schönste an Paris war, würde ich antworten: einfach die Tatsache, in Paris zu sein. Das Bewusstsein, endlich dort zu sein. Gar nicht klar benennbare Orte oder Museen oder Cafés, sondern dieser wunderbare Urlaubszustand – man erwacht inmitten von fremden Gerüchen und Geräuschen und weiss, dass man an dem Tag alles kann, aber nichts muss.
Schon das Aufwachen in unserer stilvollen Ferienwohnung war eines der Erlebnisse, das ich vermisse: wir wohnten in einem der vielen dreieckig zulaufenden Häuser an einer kleinen Kreuzung. Das Schlafzimmer war vorne im spitzen Teil. Vom Bett aus sah man die Türme von St. Ambroise und eine majestätische hohe Pappel, die bis in den fünften Stock reichte. Der Verkehr auf dem breiten, baumbestandenen Boulevard Voltaire war so weit unten, dass er nur als gleichmässiges Rauschen bis nach oben drang – was aber sehr eindeutig und verführerisch nach oben schwebte, das war der Geruch der Bäckerei im Erdgeschoss, direkt unter dem Schlafzimmer. Dieser unglaubliche Buttergeruch lockte mich jeden Morgen zuverlässig aus dem Bett… Aber bevor ich im rumpeligen Käfigaufzug nach unten fuhr, tapste ich über das alte, schimmernde Parkett auf den Balkon, genoss den Blick so hoch über den Dächern den Boulevard entlang auf den rosa gesäumten Himmel und die seltsamen indischen Türme von Sacré Coeur in der Ferne und sagte mir vor: ich bin in Paris! Ich bin endlich da!
Es gibt noch viele solcher Momente: wie wir auf der Terrasse des „Deux Magots“ mit Blick auf die Kirche sassen und die weltbeste heisse Schokolade serviert bekamen. Oder das Bewusstsein: ich steige die Treppen von Montmarte hoch. Ich bin endlich auf diesen berühmten Stufen! Oder „Paris – Plage“, der für die Sommermonate künstlich aufgeschüttetete Strand an der Seine mit seinen einladenden blauen Sonnenschirmen und den blau-weissen Liegestühlen. Es war ruhig um uns herum an diesem Vormittag, das Wasser glitzerte, ich wurde immer schläfriger in dem bequemen Liegestuhl mit Blick auf eine der Brücken und eine surreale Palme davor. Oder der Aperitif in einem anderen alten Eckcafé – ich schaute grade meine Postkarten mit der Dame mit dem Einhorn an, als der Kellner meinen Sauvignon blanc brachte. Er stellte sich neben unseren Tisch, mit den Händen auf dem Rücken und der Terrasse im Blick, und erzählte, dass er als kleiner Bub mit der Schule dort war und nie vergessen wird, wie schön es war (glückliche französische Schulkinder!). Ich pflichtete ihm bei und sagte, dass ich mein Leben lang diese Wandteppiche hatte sehen wollen und es noch gar nicht fassen kann, wie schön sie in echt sind. Und er meinte: Madame sieht auch sehr glücklich aus. Und dieser Moment, diese paar Sekunden, expandiert wie ein Motiv, das Monet festhält und das zeitlos und endlos wird: ich war in Paris, in einem Café bei der Sorbonne, nach einem beglückenden Museumsbesuch, mit einem besonderen Glas Wein vor mir, und war bien heureuse.
Aber wie so oft im Leben waren zwei entgegengesetzte Pole unter einen Hut zu bringen: selten hatte ich mich so leicht und unbeschwert gefühlt – gleichzeitig war ich definitiv noch nie im Leben derartig von tödlichen Waffen umgeben. Frankreich zeigt tatsächlich, dass es sich immer noch im Ausnahmezustand befindet. Die erste Taschenkontrolle, der erste Metalldetektor vor Museen oder grossen Kirchen kommt einem noch seltsam vor. Aber bald wird es Alltag und nervt sogar, weil es Zeit kostet. Aber man hat keine Wahl: will man in die Sainte Chapelle, die sich im Hof des Justizpalasts befindet, wird man abgepiepst und durchleuchtet wie am Flughafen. Will man in die Galeries Lafayette, wird die Tasche manuell durchsucht und gefährlich aussehende Objekte wie das Sonnenbrillenetui fragend ans Licht gehalten und eingehend geprüft. Manchmal von feinfühligerem Personal, das sich immerhin für seine Neugier entschuldigt, manchmal von – nun ja, weniger feinfühligen (und danach fühlt sich die Handtasche wirklich seltsam an.) Und es patrouillieren ständig und überall Vierergruppen von Soldaten in vollster Montur, und damit meine ich auch: umgehängtes Gewehr mit Fingern der rechten Hand am Abzug. Kein Witz. Als wir das erste Mal so eine Gruppe sahen, abends am Canal St. Martin, dachten wir noch, hier seien Dreharbeiten… Aber sie wurden eine Konstante im Stadtbild. Immer zu viert und offensichtlich mit der Marschordnung „molto andante“, also wirklich langsames Schlendern und gleichzeitiges aufmerksames Überblicken des Geländes. Und sie sind überall: draussen und drinnen, selbst im Louvre, zwischen den Liegestühlen des Paris – Plage, an harmlos wirkenden Ecken oder im belebten Bahnhof. Man gewöhnt sich tatsächlich daran, und seltsamerweise beruhigt es einen. (Ich hätte nicht gedacht, dass ich so was mal sage!) Natürlich ist es eine unglaubliche militärische Machtdemonstration und man fragt sich, ob das eigene Land eigentlich so viele einsatzfähige Waffen besitzt. Den Mut, sie zu zeigen und Grenzen zu zeigen, haben wir definitiv nicht. Und es ist ganz seltsam und absurd, dass ich mich in so einer Umgebung sicherer fühle, aber so war es. Vor dem Urlaub bin ich ja drei Mal nach München gefahren, zu Ferien – und Museumstagen, und nach dem damals aktuellem Anschlag im OEZ immer mit dem mulmigen, aber trotzigen Gefühl: ich mach es trotzdem. In Paris gab es kein „trotzdem“, sondern das Gefühl: das ist unsere Stadt, wie lassen uns nichts nehmen und wir dürfen uns hier sehr wohl frei bewegen. Nicht trotzdem, sondern genau deshalb. Eine absurde, schwerbewaffnete Art von Leichtigkeit, die ich in ihrem Widerspruch nicht für möglich gehalten hätte.