„Wann hättest du denn Zeit zum Üben?“ Das ist in letzter Zeit meine Lieblingsfrage an Interessenten, die zu einer Kennenlernstunde zu mir gekommen sind. Nachdem Mutter und Kind das Wohnzimmer in Augenschein genommen haben und die erste Schüchternheit langsam abgelegt ist, breche ich nach dem üblichen Smalltalk das Eis mit dieser Frage. Anfangs ist es oft so, dass die Kinder zu zurückhaltend sind und die Mütter für sie antworten. Doch mit dieser Frage richte ich mich direkt an den neuen Schüler, schaue ihn an und fordere ihn auf, doch mal von seiner Woche zu erzählen. Und so erfahre ich, dass er nach dem Nachmittagsunterricht immer so spät heimkommt, weil der Bus den und den Umweg fährt, und vor den Hausaufgaben geht er mit dem Hund raus, und Donnerstag ist Tennis, da geht er seit Jahren mit so und so hin, und jeden Tag um vier kommt die Freundin zum Spielen, und Samstag morgen ist zum Üben nicht so gut, weil man einmal in der Woche länger schlafen will – kurz, ich bekomme einen Einblick in Gepflogenheiten, Hobbies, zusätzliche Aktivitäten, der mir viel über den Schüler und seinen Hintergrund sagt. Anfangs habe ich es aus Diskretion vermieden, mich mit Fragen derart in das Leben eines anderen zu drängen, wenn wir uns noch kaum kennen, aber ich merke, dass es Kindern viel Spass macht, auf diese Art von sich zu erzählen. Und ich will das alles nicht aus Neugier wissen, sondern um herauszufinden, ob es sinnvoll ist, ein Instrument zu beginnen. Wenn wir einen Überblick über die Woche haben, frage ich konkret, wo denn das regelmässige Klavierspielen Platz hätte und erkläre auch, dass ich es einfacher finde, wenn diese Aktivität eine feste Uhrzeit bekommt. Zum Beispiel: Mittagessen, Pause, Hausaufgaben, 16 Uhr Klavierspielen. Oder um halb drei vor den Hausaufgaben, und um viertel vor sechs vor dem Abendessen noch mal. Und auf jeden Fall am Samstag vormittag, und falls man einen Ausflug macht, muss man entsprechend früher aufstehen, denn abends hat man sicher keine Lust mehr. Inzwischen hat sich meistens auch die Mutter wieder eingeklinkt, und wir überlegen zu dritt, welche Uhrzeit realistisch und auch auf Dauer einzuhalten wäre – kurz, bevor wir überhaupt am Klavier gesessen haben, besprechen wir ernsthaft, wie dieses Klavierspielen im Alltag aussieht. Das gefällt mir! So habe ich noch vor der ersten Stunde einen Minivertrag mit dem Schüler, an dessen Zustandekommen er aktiv beteiligt war und an den ich ihn gegebenenfalls erinnern kann. Es macht auch Eindruck auf die Kinder – wenn ich nach acht Wochen im Herbst frage, wie es mit der Übezeit aussieht, bekomme ich oft zu hören: „Gut! Ich hab meiner Freundin gesagt, dass sie immer erst um halb fünf kommen kann, weil vorher meine Klavierzeit ist.“ Diese Verabredung klappt normalerweise sehr gut, weil ich die Interessenten schon am Telefon auf wirkliches Interesse geprüft habe. Sollte ich erst jetzt beim Gespräch merken, dass keine Bereitschaft da ist, sich wirklich auf das Instrument einzulassen, ist das für mich auf jeden Fall ein Grund, den Unterricht gar nicht erst zu beginnen.
Kurzum, ich nutze das persönlich Kennenlernen nicht nur für den ersten oberflächlichen Eindruck, sondern vor allem, um Eltern und Schüler meine Erwartungen und meine Arbeitsweise klar zu machen. Gerade bei Eltern, die selber kein Instrument spielen, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, wie viel häusliche und tägliche Arbeit dahinter steckt. Naiv gesagt: das Kind lernt nicht dadurch, dass es einmal in der Woche zu mir kommt und die Eltern als einzige Leistung mein Honorar überweisen. Ich erwarte und brauche mehr Unterstützung von den Eltern, gerade bei Grundschulkindern. Ich mache auch klar, dass meine Zeit kostbar ist und dass ich Ergebnisse sehen will. Inzwischen habe ich auch das Selbstbewusstsein, schon im ersten Gespräch darauf hinzuweisen, dass auch ich mir vorbehalte, den Unterrichtsvertrag zu kündigen, wenn die Mitarbeit nicht so läuft, wie ich es beschrieben habe. Als ich das die ersten Male ausgesprochen habe, kam ich mir schon ziemlich streng vor… Aber ich habe mich daran gewöhnt, so aufzutreten. Ich weise auch immer auf meine Kollegin hin mit der Visitenkarte „Spass beiseite – Geigenunterricht!“, um klarzustellen, dass es sich bei meinem Unterricht nicht nur um ein nettes Nachmittagsvergnügen handelt oder gar Kinderbetreuung mit Musik.
Außerdem erkläre ich den Eltern, warum es wichtig ist, ein echtes Klavier und kein E-Piano anzuschaffen und weise sie darauf hin, wo eventuell ein gebrauchtes zu kriegen ist. Und ich mache klar, dass ich im Unterricht keine Kopien verwende – aus ästhetischen und moralischen Gründen. Es ist mir lieber, Eltern gleich auf die zusätzlichen Kosten hinzuweisen, die noch auf sie zukommen können, als mitten im Schuljahr Diskussionen zu beginnen, ob und warum schon wieder neue Noten angeschafft werden müssen. Alle Informationen, auch über abgesagte Stunden etc., habe ich in einem Faltblatt zusammengefasst, das ich den (von meiner langen Predigt vielleicht erschlagenen) Eltern mitgebe. Oft sehe ich die Eltern nur an diesem Termin und zu unsererm Rückblick in der letzten Stunde des Schuljahres, deshalb beschäftige ich mich mehr mit ihnen. Die Schüler lerne ich ohnehin erst richtig kennen, wenn sie ohne „Zuschauer“ bei mir auftauchen – sie verhalten sich dann verständlicherweise ganz anders.
Ich habe mir auch angewöhnt, für solche Kennenlernstunden genügend Zeit einzuplanen. Anfangs dachte ich, eine halbe Stunde sei ausreichend, doch inzwischen lade ich nur jemand ein, wenn ich eine Stunde erübrigen kann. Wenn man Termine zu knapp nacheinander ausmacht, kann es passieren, dass mitten im Gespräch die nächste Familie vor der Tür steht und drei kleine Mädchen von fünf bis neun ins Zimmer purzeln und sich auf dem Sofa arrangieren, während sowohl mir, die ich mit einem Kind gerechnet habe, als auch der vorhergehenden Familie das Kinn leicht runterklappt. Und ich mag es nicht, am nächsten Morgen ehrfürchtig angerufen zu werden, ob ich denn dieses erste Kind nehmen würde, wo ich doch so viele andere Bewerber habe – das ist eine unangenehme Art von Wettbewerb oder künstlichem Druck, die ich unbedingt vermeiden will.
So sieht also der nicht-musikalische Teil einer Kennenlernstunde bei mir aus! Und noch ein Wort zu Tee und Kuchen: natürlich selbstgebacken! Und natürlich auf dem feinsten Porzellan serviert, auch wenn das Kind noch nicht zur Schule geht! Ich habe noch nie schlechte Erfahrungen damit gemacht, im Gegenteil: kleine Kinder freuen sich, wenn sie aus „erwachsenem“ Geschirr trinken dürfen und passen oft noch mehr auf. Und bei den komplizierten feinmotorischen Sachen, die ich mit den kleinen Fingerchen vorhabe, dürften sie in der Lage sein, eine Teetasse am Henkel anzufassen!
(veröffentlicht in „Pianonews“ 2/2011)
Interessant, dass du nur über die Mütter schreibst. Kommen denn nie Väter mit zur „Vorstellungsstunde“?
Ist sowas Frauensache, oder fehlen die emanzipierten Väter?
Bei diesen Gesprächen waren tatsächlich noch nie Väter dabei. Sonst habe ich normalerweise auch wenig Kontakt zu ihnen und lerne sie oft erst nach ein paar Monaten beim Konzert kennen. Ich glaube, es ist immer noch so, dass Musik in die „Gefühlsecke“ geschoben wird, und dafür scheinen immer noch vornehmlich die Frauen in der Erziehung zuständig zu sein. Aber zeig mir mal den Vater, der bei Skimeisterschaften oder einem Fußballspiel fehlen würde!
Überhaupt geht es in diesem Bereich der Musik, von dem wir hier sprechen, noch sehr unemanzipiert zu. Wenn Mädchen angemeldet werden, höre ich oft, dass sie einfach schön ein Geburtagsständchen spielen können sollen oder später für ihre Kinder Weihnachtslieder – also zu „dekorativen“ Zwecken, um das Zuhause und die Welt schöner zu machen (was ja auch ein schöner Aspekt ist). Bei Buben, seien sie noch so klein, klingt das oft ehrgeiziger und auf jeden Fall wettbewerbsorientierter. Da wird dann ein bestimmtes Stück als Ziel gesetzt, oder ein toller Pianist als Vorbild, oder eine erfolgreiche Teilnahme bei „Jugend musiziert“… Aber das wäre schon wieder ein kompletter neuer Artikel!