Häuser waren für mich schon immer Persönlichkeiten. Ich erinnere mich an manche Gebäude, in denen ich als Kind aus und ein gegangen bin, wegen des Gefühls, das mich sofort eingehüllt hat, wenn ich die Schwelle überschritten hatte. Ein typischer, einzigartiger und unbeschreiblicher Geruch oder ein dämmriger Flur, in den die Sonne ein bestimmtes Dreieck aus Licht warf sind für immer mit den Personen verbunden, die in diesen Häusern lebten. Eins gehörte untrennbar zum Anderen. Und selbst wenn die Menschen, die diese Häuser gebaut haben, schon lange zu Staub geworden sind, spürt man ihre Gegenwart in ihren Gemäuern. Manchmal, weil es ohnehin geschichtsbeladene Orte sind, die heute der Öffentlichkeit zugänglich sind; manchmal weht einen ein Hauch von früher an, ohne dass man irgendwas über das Gebäude weiss. Und genau so unerklärlich ist es, warum man sich in manchen Häusern spontan wohlfühlt und in anderen quasi immer über die Schulter schauen will, weil die Geister gar zu unsympathisch sind. Warum man manche Wohnungen ablehnt, auch wenn Lage und Preis in Ordnung wären (ich hab mal eine Wohnung besichtigt, in der ich nur gesträubte Haare hatte – die Maklerin pries sie an, als ob alles wunderbar wäre, und die Sonne schien, aber ich erfuhr erst danach und durch Zufall, dass eine verblutete Leiche eine Woche in dieser Wohnung gelegen hatte. Eine Woche!! Und das war zwei Monate vor der Besichtigung!) Und es gibt auch den seltsamen Fall, dass Häuser mit einer eigentlich unguten Geschichte eine positive Ausstrahlung haben können – da fragt man sich, ob wir mit unserem nur vorübergehenden Dasein Häusern unseren Stempel doch nicht so stark aufdrücken können, dass sie davon beeinflusst werden. Die Steine überdauern uns und sind vielleicht doch unabhängig von dem, was sich in ihnen abgespielt hat. Und die ursprünglich gute Idee, die jedem Bau vorangeht, ist vielleicht stärker als das, was sich dann darin abgespielt hat.
Ich suche grade etwas verkopft nach Argumenten, warum ich mich in einem Haus mit einer besonderen und seltsamen Geschichte so ausserordentlich wohl fühle. Denn anfangs wusste ich nichts über das Haus, in dem ich seit Monaten regelmässig aus und ein gehe. Ich kenne es schon seit Jahren von Besuchen und Essenseinladungen und fand es von der ersten Sekunde an unglaublich gemütlich und einladend. Es ist eine grosszügige, flache Villa im Dreissigerjahrestil in einem noch grosszügigeren Grundstück. Zur Strassenseite hin ist sie eher unscheinbar und fällt nicht weiter auf, aber zum Garten hin öffnet sie sich in einem ganz breit gezogenen Halbrund. Überhaupt fand ich den Grundriss immer leicht seltsam und undurchschaubar bei Besuchen. Inzwischen hab ich die grosse Haustour hinter mir und weiss mehr über das Gebäude, und da die Entwürfe und Zeichnungen in einem Wiener Architekturarchiv für jedermann einsehbar sind, erlaube ich mir, hier drüber zu schreiben in der Hoffnung, die Privatsphäre der Bewohner trotzdem zu wahren (immer diese Gratwanderung beim Blogschreiben!) Das eindrucksvolle Anwesen wurde von Lois Welzenbacher entworfen, einem österreichischen Architekten, der 1889 geboren wurde und seine Hauptschaffenszeit vor dem zweiten Weltkrieg hatte. Welzenbacher entwarf hauptsächlich Häuser für den alpinen Raum, und er liebte es, die Gebäude mit oft ungewöhnlichen Grundrissen organisch in die Landschaft einzufügen. Das Wasserburger Haus ist ganz typisch für seine Vorgehensweise: an der höchsten Stelle, von der Strasse her eher abweisend, zur Aussichtsseite hin grandios und offen. Das Haus hier steht an einem der höchsten Punkte Wasserburgs und bietet im Winter, wenn die Bäume kahl sind, eine unglaubliche Sicht auf den Fluss und alles, was sich an der anderen Seite darüber erhebt.
Ich mochte das Haus von Anfang an, weil ich eine Schwäche für farbige Fensterläden und überhaupt alte, gerundete Fenster und Fensterbänke habe. (Egal, welche Jahreszeit: ich sehe da immer Chancen für adventliche Dekoration mit schlichtem Tannengrün und Kerzen.) Und der Eingangsbereich ist grosszügig und gemütlich, wie eine Umarmung. Und die wunderschönen alten Dielen und die Schiebetür zum Wohnzimmer, in dem wir Klavier spielen, und die Terrassentüren neben dem Klavier, und die Holztreppe in den ersten Stock mit den unterschiedlich bemalten Stufen – alles strahlt eine Wärme, Geborgenheit und Gemütlichkeit aus, die moderne Häuser nie haben können.
Ende des letzten Winters fingen meine Bekannte und ich an, ernsthaft Klavierduo zu üben. Bei den ersten Proben war der Garten kahl und leer. Wenn ich kam, prasselte ein Feuer im Ofen, und wochenlang musste ich als erstes den Regenschirm ausschütteln und aufstellen. Nach der Regenzeit tauchten die ersten Tränenkrüglein büschelweise auf an der Terrassentür neben dem Flügel, auf dem ich immer spiele. Dann die Osterglocken und Tulpen. Dann kam der Frühsommertag, an dem wir zum ersten Mal die Türen offen liessen, weil es so angenehm war. Dann kam die Hitze, und an einem heissen Julimorgen, als ich auf dem kurzen Spaziergang schon fast verschmachtete, empfing mich das Haus kühl, schattig und winddurchweht: buchstäblich alle Türen waren offen, in alle Himmelsrichtungen. Aus dem parkähnlichen Garten kamen leichte Lüftchen, die Kugeln an einem der Kronleuchter wackelten im Wind und eine Amsel machte wirklich und wahrhaftig wiederholt einen Rhythmus aus unserem Brahms nach. Ich bin es überhaupt nicht gewöhnt, bei offenen Fenstern Musik zu machen, aber durch die Alleinlage des Gebäudes stört man keinen, und es ist eigentlich der reinste Luxus, so inmitten der Natur Klavier zu spielen. Und noch mehr als im Winter hatte ich das Gefühl, dass die beiden riesigen Flügel wie Schiffe sind, an denen wir – weit voneinander entfernt – wie zwei (mehr oder weniger planvoll vorgehende…) Kapitäne sitzen und dass wir vielleicht, wenn es besonders schön läuft, irgendwann auf den Wogen unserer Musik runter in den Inn gleiten können und da weiter schwimmen…
Unser vielzitiertes und bei vielen Tassen Tee geplantes Hauskonzert wabert aber noch in unsicherer Ferne. Vor allem, weil meine Partnerin nach dem Klavierstudium noch was Vernünftiges studiert hat und schlicht und einfach keine Zeit zum Üben hat. Den Willen schon, und die Lust auch, aber ich verstehe ihr Zeitproblem absolut. Und dann, weil wir eben nicht nur üben… Sondern auch gern reden. Über das Haus zum Beispiel. Und da kam Erstaunliches raus – oder vielleicht doch nicht, bei einem Haus, das in den Dreissigerjahren gebaut wurde? Es wurde in Auftrag gegeben von einem Wasserburger Nazi – Oberfunktionär, der dann hier wohnte und auch Bürger empfing und so. Man kann sich vorstellen, dass hier wirklich haarsträubende Dinge besprochen wurden – aber mir sträuben sich die Haare nicht. Gar nicht. Der Architekt hat vielleicht so viel Gutes hier reingesteckt, dass die schlimme Zeit davon überdeckt wird. Und es wurde ja seither mit vielfältigem anderen Leben gefüllt, vielleicht hat das auch was für die Aura des Hauses getan.
Und jetzt machen wir auch noch Musik zur Aura – Optimierung, wenn wir nicht Tee trinken. Da die Haydn – Variationen, an denen wir zugegeben den grössten Spass haben, für meine Partnerin mit ihren kleinen Händen sehr schlecht liegen, hab ich sie aufgefordert, das nächste Stück vorzuschlagen. Nach kurzem Überlegen meinte sie: „Ravel, La Valse?“ Und ich entgegnete mit professioneller Miene: „Hm, ja, Ravel, warum nicht?“ (Und innerlich: „ja ja ja!! Soll ich die Noten besorgen? Wann fangen wir an? Welche Stimme soll ich üben? Können wir sofort jetzt gleich anfangen, bitte?“ Ich bin wirklich unschuldig an diesem Ravel!)
Fotos: Archiv für Baukunst und Austria – Forum; Häuser in Linz, Barbiano und Zell am See