Aufgetankt

dolce vitaWas wäre, wenn man wirklich mal einen Tag lebt, als wäre es der erste, letzte und einzige kostbare Tag, den man hat? Wenn man es sich nicht nur vornimmt wie schon oft, sondern es einfach aus ganzem Herzen tut und jede Sekunde bewusst geniesst? Und selber staunt, wie reich man wird, wenn man still und ruhig wird, gleichzeitig ständig in Bewegung ist. Faul im Liegestuhl sitzt und davor und danach ganz viel Staub auf den Schuhen sammelt beim Stadt- und Alleelaufen. Auf Wanderwegen keucht und minutenlang stumm vor Ehrfurcht an einem einsamen Wasserfall sitzt. Die sündigsten Torten isst und gleichzeitig denkt: aber ab nächster Woche… Kurz: alles, was man liebt und gern tut, in einen intensiven Tag packt und trotz Sinnesüberflutung denkt, man will noch mehr. Warum macht man das nicht öfter? Die Seele ist nachhaltig beglückt und man spürt so viel mehr Energie und Lebensfreude, als wenn man sich zuhause auf dem Sofa schont.

NonntalIrgendwie fällt mir bei den österreichischen Nachbarn das Abschalten leichter. Selbst wenn es nur ein Stündchen mit dem Auto ist, habe ich beim Passieren von Landesgrenzen das Gefühl, ich kann alles hinter mir lassen und bin für nichts verantwortlich. Ungeputzte Fenster, Säcke voller Gartenabfälle, die zum Wertstoffhof müssen, Unterrichtsvorbereitung – geht jetzt nicht, weil ich im Ausland bin und da ein Cappuccino mit Bergblick für mich steht. Ich kann besser entspannen, wenn ich mich selbst so überliste.

Salzburg ist und bleibt meine Herzensstadt. Und das Lieblingsbuch vom letzten Jahr steht auch dieses Jahr hoch im Kurs – zur Saisoneröffnung gab es einen idyllischen Mühlenwanderung zu fünf historischen Mühlen in Ebenau. Ständig gurgelt und rauscht es, das Wasser glitzert in der Sonne und die Hänge waren übersät von wilden Christrosen – Schneerosen heissen sie hier. Am Ende des Weges wird die Schlucht immer höher und schmaler. Dass dann noch so ein riesiger weisser Wasserfall vor einem auftaucht, nimmt einem fast den Atem. Der Platz dort ist unglaublich stimmungsvoll, weil er so geschlossen wirkt durch die Felsen rundherum und dem hohen Wasserfall fast in der Mitte. Wie ein Ausschnitt aus einer Kathedrale, und genau so symmetrisch und anscheinend wohl geplant. Selten hatte ich so sehr das Gefühl, im Freien urplötzlich an einem „heiligen“ Ort zu sein. Klingt sehr esoterisch, ich weiss, aber man muss es erleben. Was auch zu dieser Stimmung beitrug, war die Einsamkeit und völlige Stille dort. Möglicherweise ist das im Sommer anders, zumal das flache Kiesbecken absolut zum Baden einlädt. Aber jetzt war es ruhig und einsam, und gerade deshalb habe ich hier viel mehr die Kraft und Energie des Wassers gespürt, das seit UntersbergJahrtausenden über diesen Felsen fällt, als an den touristenumtosten Krimmler Wasserfällen. Plötz ist tatsächlich ein Ort zum Auftanken. Der unerwartete, fast mystische Zauber dieser Stelle hat mich ganz seltsam angeweht. Ich denke mir: falls man im Leben mal an einen Punkt kommt, an dem man mit einem Ritual alles hinter sich lassen, sich reinwaschen und völlig neu anfangen möchte – dann wäre das hier der Ort. Und ganz ohne sich tatsächlich unter den Wasserfall zu stellen. Die Kraft ist so stark, dass es wahrscheinlich schon reicht, einfach am Rand zu sitzen. Und falls mal die kreativen Quellen versiegen sollten – hier ist die Aufladestation. Definitiv! Zur Zeit geht’s mir gut, in mir sprudelt und gurgelt es wie in den kleinen Mühlbächen hinter dem Wasserfall und ich muss eher überlegen, in welche Kanäle ich meine Ideen lenke. Aber sollte es mal eine Blockade geben, weiss ich, wo ich hingehen kann… (Und die Freundin seufzt: „Klavierlehrerinnen, ich sag’s ja… Ich bring dich dann mal in einer Vollmondnacht hier her.“)

4 Gedanken zu „Aufgetankt

  1. ja, solche Orte gibts, bei mir reicht für normale Anforderungen eine halbe Stunde im dunklen Wintergarten (sehr profan mit einer Halben Bier), aber wenn es mal ernst wird mit reinwaschen komme ich zu deinem Wasserfall.

  2. How lovely to have a peaceful retreat of such a beautiful place and waterfall not far from you. I agree that „quiet“ is a holiday.

    I am rarely able to leave the place where I live. It is a tourist spot in Pennsylvania, U.S.A. Taking the back roads is my escape, where a patchwork of Amish farms can be viewed. The tourists seem to confine themselves to the congested main roads where the shops, theaters and restaurants are. It is a wonder to me that the back roads are empty of traffic in comparison. That’s okay. It leaves the quiet avenues (the scenic routes) for me.

    I write in English, Karen.

  3. It’s similar here: Salzburg itself can be really crowded, but once you leave the city limits and the main sights you are completely alone in a lovely landscape. There was no one at the waterfall – except a gentleman from Belgium who suddenly materialised and asked us to take his photo in front of the waterfall. He was gone as quickly as he had appeared…
    I wish I could see your part of the world some day!

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