Österreich – das sind für mich die Jugendstilphantasien von Klimt und Dehmel. Mahler, Schnitzler, Stefan Zweig und Konsorten lassen mein Herz höher schlagen und haben Halbgötter-Status. Opernbesuche in Salzburg und Wien waren jahrelang der einzige Grund, nach Österreich zu reisen. Bergschuhe und Rucksack? Niemals! Österreich als Urlaubsland stand so was von ausserhalb jeder Debatte, dass ich nie ernsthaft daran dachte und nur meine Vorurteile pflegte. Für mich war es das klassische Rentner – und Wohnmobilbesitzer-Ziel: Zeitgenossen, die schon so spiessig sind, dass sie möglichst nah am Vertrauten bleiben wollen und sich auch nicht mit einer anderen Sprache abgeben wollen.
Meine zwei österreichischen Freundinnen haben mich unbeabsichtigt, aber äusserst erfolgreich meine Einstellung komplett revidieren lassen. Ich staune selber, dass man in meinem vorgerückten Alter noch mal aus seinem Trott gerissen werden kann. (Vielleicht bedeutet es aber auch, dass ich mich geistig dem Rentenalter nähere?!) Ich war auf jeden Fall im letzten Jahr so oft in Österreich wie noch nie im Leben. Die Pkw-Maut ist für mich kein Diskussionsstoff, sondern Realität. Meine Landkarte ist vom vielen Auf- und Zufalten so zerfleddert und löchrig, dass ich bald eine neue anschaffen sollte. Ich weiss jetzt, was Schiwasser und Honigreinkerln sind und jubiliere trotzdem noch innerlich, wenn ich jemand in einer Unterhaltung „bist narrisch?“ sagen höre. Es ist einfach ein nettes, charmantes Land, und zudem ein Paradies für Vegetarierer mit den ganzen Spinatnocken, Gemüsestrudeln, Kaspressknödeln und Schlipfkrapfen…
Und deshalb habe ich selbst den vielbeschäftigten Gatten in missionarischem Eifer am langen Einheitswochenende über die Grenze geschleppt. Und es war wie an meinem Geburtstagswochenende: lockere 130 km von der Haustür stiegen wir am Pass Thurn aus dem Auto und hatten eine derartig atemberaubend wunderschöne Aussicht auf die Hohen Tauern, dass wir uns die erste halbe Stunde nur ständig gegenseitig bestätigten, wie traumhaft schön es hier ist. Wir sassen einfach auf einer einsamen Bank und waren platt. Der Himmel strahlte intensiver blau im herbstlichen Nachmittagslicht als noch im Juli, einige Bäume leuchteten schon golden und trotzdem waren die Wiesen satt grün.
Was natürlich enorm zum Gelingen des Wochenendes beitrug, waren die fünf Katzen der Ferienwohnung, die wir gemietet hatten. Kaum liess man die Tür einen Spalt auf, waren sie da. Eine verschmuster und süsser als die andere. Und abends kuschelten sie sich an uns auf dem Sofa und schliefen richtig ein, als wären sie unsere Katzen.
Wieder bin ich völlig erstaunt und dankbar, wie viel Schönes man in drei Tagen erleben kann. Die Panoramawanderung auf dem Sonnberg war voll von einfach atemberaubenden Ausblicken. Und die ganzen drei Stunden wurden wir von einem freundlichen Hund begleitet, der jede Kuh zu kennen schien und in Wegkehren geduldig mit spitzen Ohren auf uns wartete, wenn wir schon wieder die Aussicht anschauen mussten. Oder der dichte, sahnig-weisse Nebelwurm, der am Sonntagmorgen der Salzach folgend über das ganze Tal gebreitet war – von unserem Balkon, der 300 Meter über dem Tal lag, sah man ihn in seiner ganzen länglichen Ausdehnung, an den Rändern schon zart sich auflösend, und die Berge darüber leuchteten klar im Morgenlicht. Ich liebe doch Nebel. Aber so einen grandiosen habe ich noch nie gesehen, direkt greifbar und wie ein gigantisches lebendiges Wesen. Und von der anfangs noch rosigen Morgensonne bestrahlt. Wie faszinierend, dass sich so eine eindrucksvolle Erscheinung erst in einen Hauch und dann in Nichts auflöst. Und wie seltsam, dass es wirklich nur auf die Perspektive ankommt – die Menschen im Tal fanden ihn möglicherweise nicht so schön wie ich da oben. Falls ich mal wieder im Gedankennebel feststecken sollte, werde ich mich erinnern, dass mit ein bisschen Abstand alles anders sein wird. Aber alle etwaigen erhebenden philosophischen Überlegungen wurden unterbrochen von drei kleinen Katzen, die sich um meine Beine balgten – das war auch schön!
Der Samstagabend hielt noch eine besondere Überraschung bereit. Als Österreich-Anfängerin hab ich noch etwas Probleme mit der Bergprominenz. Ich kann zwar seit diesem Wochenende sagen, dass ich innerhalb von ein paar Monaten die beiden höchsten gesehen habe, aber es war nicht einfach. Beim Grossglockner lag es daran, dass ich keine Ahnung hatte, welche Form er hat und er zwar oft präsent, aber dermassen umgeben war von weissen Giganten, dass ich ihn einfach nicht identifizieren konnte. Der Grossvenediger dagegen hat eindeutig Divenallüren. Man könnte meinen, dass man ihn von Neukirchen am Grossvenediger aus sehen kann – absolute Fehlanzeige. (Schöne Caféterrasse, immerhin). Der Gatte wollte ihn aber sehen. Also fuhren wir am späten Nachmittag noch mal zurück nach Mittersill und auf die Felbertauernstrasse. An der Mautstelle nach dem Tunnel fragten wir den Kassierer, wo wir hier den Grossvenediger am besten sehen können. Ihm stand schon ein gewisses „Seid’s narrisch?“ ins Gesicht geschrieben, weil wir um 17 Uhr noch ein Tagesticket kauften, und wahrscheinlich hielt er uns jetzt für ganz verrückt. Sagte uns trotzdem, dass wir gleich unten am Matreier Tauernhaus parken und dann eine halbe Stunde ins Tal laufen sollen. Das Tal und die Berge ringsum lagen schon im Schatten, und die Finger von Licht, die noch die Gipfel streichelten, wurden alle paar Minuten kürzer. Ein paar letzte Wanderer kamen uns entgegen, aber ins Tal hinein lief niemand mehr. Anfangs hielten wir mit wohlgemuten Parolen die Moral hoch: wenn die Sonne untergegangen ist, kann man mindestens noch eine halbe Stunde was sehen. Wir finden den Weg schon im Halbdunkel zurück. Nach der nächsten Kurve kommt er bestimmt. Aber er kam nicht. Und ich musste mich schon anstrengen, bei dem flotten Tempo und ständig leicht bergauf Schritt zu halten – ehrlich gesagt, japste ich ganz schön. Wusste aber: das ist das letzte freie Wochenende auf Monate. Wenn wir nicht grade am ersten Weihnachtsfeiertag hier hochhatschen wollen, muss ich jetzt mitmachen. Und es zog sich und zog sich und wurde immer kühler und schattiger. Bis selbst Johannes irgendwann murmelte: wo haben die bloss ihren Berg hingestellt. Aber – es gibt ihn! Wir haben die Diva gesehen, im goldenen Glanz der letzten Sonnenstrahlen! Eine Viertelstunde, bevor die Sonne sich hinter das Venedigermassiv verabschiedete, und 200 Höhenmeter später kamen wir am Berghaus Aussergschlöss an, fielen erschöpft auf das Holzbankerl (ich in ähnlich attraktiven Zustand wie nach dem gehassten Zirkeltraining in der Schule) und waren schon wieder überwältigt von der Aussicht auf die Schneeberge, den sich silbrig windenden Weg weiter ins Tal rein, den milden, weichen langen Abendsonnenstrahlen und dem schimmernden Gegenlicht – fast wie eine Vision. Johannes fasste es gekonnt zusammen: es war eine absolute Schnapsidee, um die Tageszeit noch so was zu machen, aber es hat sich gelohnt wie selten was. Manchmal muss man Schnapsideen haben. Und umsetzen. Gewohnte Pfade verlassen. Über seinen Schatten springen, um noch viel schönere Schatten im Abendlicht zu sehen.
(Eigentlich juckt es mich in den Fingern, „Beste Aussichten im Salzburger Land“ noch eine Ode in einem eigenen Artikel zu widmen, aber womöglich hält man mich dann für bestochen… Aber ich bin erfüllt von missionarischen Eifer: das Buch hat mich so glücklich gemacht und ich möchte, dass andere diese Erfahrung auch teilen. Deshalb ein kurzer Nachsatz: Ich erinnere mich, wie mir Franziska bei einem Frühstück im April ihr Buch schenkte. Damals standen Tulpen auf dem Tisch und ich hatte keine Ahnung, was alles zwischen den zwei Einbanddeckeln stecken würde. Jetzt werden die Birken golden und die neuen Tulpenzwiebeln kommen in die Erde, und ich bin überwältigt davon, was man in einem halben Jahr alles erleben kann. An vieles werde ich mich garantiert mein Leben lang erinnern. Das Buch ist ein echtes Schatzkästchen, und ich bin einfach nur dankbar für alles Schöne, was ich mit ihm sehen durfte.)